Samstag, 28. Juni 2014

Tolkien standardisiert

Am 16. diesen Monats wurde eine neue Version des Zeichenkodierungs­standards Unicode veröffentlicht. Neu hinzugekommen sind im Abschnitt für Runen drei Zeichen, die den offiziellen Namen “Tolkienian extensions” tragen.

Im Hobbit hatte Tolkien die Futhark-Runen verwendet, in der Intuition, dass rätselhafte Schriftsysteme einen besonderen Reiz auf Lesende ausüben würden. (In meinem Fall eine berechtigte Annahme!) Dabei erweiterte er den Bestand an Zeichen aber, um modernes Englisch damit schreiben zu können.*

Nun wurden diese neologischen Zeichen in den international wichtigsten Standard aufgenommen – “[o]wing to the importance of Tolkien as one of the major writers of the twentieth century and in particular to the scholarly attention given to his linguistic work”, so die Begründung im Antrag für die Aufnahme der Zeichen.
Nun ist es also möglich, die Inschrift auf Thrors Karte komplett in Unicode wiederzugeben, inklusive ᛱ ‘k’, ᛲ ‘sh’ und ᛳ ‘oo’. Ja, richtig, mit 99,99%iger Wahrscheinlichkeit sind hier im Moment Kästchen mit Ziffern und Buchstaben drin – und keine Runen – zu sehen. Die Standardisierung bedeutet erstmal, dass eine Einigung besteht, welchem Code die Runen in einem Font, also einer konkreten Schriftdatei, zugeordnet werden können. Dass zwölf Tage nach der Standardisierung wohl noch kein Font mit den “Tolkienian extensions” auf den Anzeigegeräten gelandet ist, ist nicht verwunderlich. Und immerhin: hinter den Kästchen steckt ein Code, der eine eindeutige Zuordnung zu den richtigen Zeichen langfristig möglich macht.

Und weiter? Erstmal erlaube ich mir jetzt die Erwartung zu haben, dass zukünftige E-Book-Ausgaben vom Hobbit die Runen dem Standard entsprechend kodieren. Eine standardkonforme Wiedergabe des Textes als Text – und nicht etwa als Bilddatei – ist eigentlich ein Mindestmaß an Qualität. Und für Menschen mit Sehbehinderung auch ein Mindestmaß an Zugänglichkeit.
Weiterhin ist dies (nach meinem besten Wissen) das erste Mal, dass Unicode von Tolkien erfundene Zeichen hinzugefügt wurden. Die Kodierung von Tolkiens Tengwar und Cirth** ist schon länger gewünscht und auch diskutiert worden. Allerdings, bei aller Liebe und Nerdigkeit, muss ich dem bisherigen Standpunkt des Standardisierungskonsortiums zustimmen: Solange dutzende natürliche Schriftsysteme von täglich genutzten Sprachen noch nicht kodiert sind, und daher nicht effektiv an Computern genutzt werden können und bedroht sind von den dominanten Schriftsystemen überschrieben zu werden, kann Tolkien warten.

* Germanische Runen, modernes Englisch und altnordische Namen in sein Legendarium eingemischt zu haben bereute Tolkien später, und nötigte ihn zu seiner elaboraten Übersetzungsfiktion.

** Also dem von ihm neu erfundenen Runensystem – das grundsätzlich etwas anderes ist als die von ihm adaptierten Futhark-Runen.

Freitag, 27. Juni 2014

How to not respond to unremittingly shite criticism

Als zertifizierter Gutmensch, vom Establishment bezahlt und von den linken Mainstream-Medien gehirngewaschen, habe ich natürlich große Freude an solcher Widerrede, die richtig mit ideologischem Schmackes daherkommt:
Die Kritik zu 1985 ist unglücklicherweise die Sichtweise eines Menschen, der vermutlich aus lauter politischer Korrektheit das “zeitgeistige” Anliegen Burgess’ völlig missverstanden hat – oder wollte. [...] Und nun zur politisch korrekten, und damit peinlichen, Kritik an Burgess’ Sicht auf den Islam ...
Allerdings muss ich sogleich meine Unerfahrenheit eingestehen. Es passiert leider ziemlich selten, dass einer meiner Rezensionen oder sonstigen Texte auf diese Weise begegnet wird. Ich frage mich also in bester Gutmenschentradition: Was tun?

Ich bin nicht der erste, der vor dieser Frage steht.
Die naheliegendste Antwort wäre wohl Fisking. Allein, ich halte nicht sonderlich viel von Fisking.* Die meisten Fiskings beschränken sich darauf, einem inkohärenten Rant mit einer Aufzählung der Fakten zu begegnen, die in dem Rant fehlen oder verzerrt widergegeben werden. Aber Fakten allein sagen halt nicht besonders viel aus. Mit ihnen lässt sich kein Beweis führen, wenn man nicht zuvor (innerhalb eines theoretischen Rahmens) eine Hypothese aufgestellt hat. Fehlt dieser Kontext, dient das Aufzählen von Fakten nur zur rhetorischen Verstärkung der jeweils vertretenen Position.

Aber vielleicht ist das gar keine schlechte Idee: Vergessen wir das mit den Fakten und bleiben beim Rhetorischen. Einen Spruch wie »Lesen hilft!« oder »Ungenügend. Der Nächste bitte!« loslassen? Das ist auch nicht wirklich befriedigend, und originell schon gar nicht. Ich gehe deshalb den bescheidensten aller Auswege und schließe mit einem Zitat von James Worrad, das ich unter einer seiner Satiren** gefunden habe und mir hiermit aneigne:
See, there’s this emerging cliche in SF blog comment rolls where a right wing guy comes on and says something that’s the wit equivalent of a Neanderthal trying to beat an Auroch’s skull in with a 12 inch rubber dildo and then the lefty-inclined blogger replies with something like ‘4/10, must try harder’ or some uninspired shit like that, basically replying to your comment in the style of a teacher or literary critic. The idea is it’s meant to be a ‘hilarious burn’. No doubt you must have encountered it.
Unfortunately your comment is so unremittingly shite in both concept and execution that I’d only have recourse to the above by-the-numbers and wholly unimaginative ‘satirical’ gambit. So I won’t.

* Am nächsten bin ich der Sache noch mit meinem Blogpost über Sigrid Löffler gekommen.
** Sehr erheiternd zu lesen übrigens.

Mittwoch, 25. Juni 2014

Neuzugänge

  • Clemens Brentano, Gockel Hinkel Gackeleia. Märchen
  • Andreas Gößling, Der Ruf der Schlange
  • E.T.A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi
  • Diana Wynne Jones, Neun Leben für den Zauberer
  • Dies., Sieben Tage Hexerei
  • Heinrich von Kleist, Sämtliche Erzählungen und andere Prosa
  • Adolf Muschg, Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl
  • Franz Rottensteiner (Hg.), Phantastisches aus Österreich
  • Muriel Spark, Mary Shelley. Eine Biographie
  • Theodor Storm, Märchen. Der kleine Häwelmann • Hinzelmeier • Die Regentrude 
  • Jo L. Walton, Invocation

Dienstag, 24. Juni 2014

Mad Genius Club & Bealedoggle

Inhaltswarnung: Kindesmissbrauch, sexualisierte Gewalt, Homophobie.

Es hätte mich erstaunt, wären die jüngsten Enthüllungen über Marion Zimmer Bradley im rechten Flügel des US-amerikanischen Fandoms nicht auf eine ganz bestimmte Art von Resonanz gestoßen. Auf der von konservativen Genre-Autor_innen betriebenen Website Mad Genius Club etwa erschien am 14. Juni ein Artikel, der unverblümt verkündete, was Deirdre Saoirsa Moen aufgedeckt habe, sei »the truth behind Marion Zimmer Bradley’s sexual openness«. Die Wahrheit hinter MZBs sexueller Neugierde? In meinem letzten Blogpost habe ich die Hintergründe ausführlich geschildert: MZB war mit Walter Breen verheiratet, der jahrzehntelang Kinder sexuell missbrauchte. MZB deckte und unterstützte Breens Taten, wie sie selbst zugeben musste. Neu hinzu kam jetzt, dass Bradleys und Breens Tochter, Moira Greyland, sich mit einer E-Mail an die Öffentlichkeit wandte, in der sie ihre Mutter bezichtigte, nicht nur Mitwisserin Breens, sondern selbst Täterin gewesen zu sein. Diese E-Mail wurde von der Autorin Deirdre Saoirsa Moen auf ihrem Blog veröffentlicht. Nun fallen mir zur Beschreibung dieser Angelegenheit alle möglichen Ausdrücke ein – aber »sexual openness« gehört definitiv nicht dazu.

Um es kurz zu machen: Der Artikel des Mad Genius Club ist schlicht und einfach von Homophobie motiviert. Marion Zimmer Bradley hatte in den fünfziger Jahren anscheinend Kontakte zu den Daughters of Bilitis, einer Gruppe lesbischer Aktivistinnen. Später erfand sie die Freien Amazonen von Darkover und gab damit lesbischen Fans einen Platz im Fandom, wie er zuvor nicht bestanden hatte.* Was in dem Artikel verklausuliert als sexuelle Offenheit beschrieben wird, meint nichts anderes als Homosexualität, und die »Wahrheit« dahinter ist folgerichtig die Neigung zum Kindesmissbrauch. Wer schwul oder lesbisch ist, soll uns das sagen, vergreift sich auch an kleinen Kindern. Heuchlerisch beteuert Cedar Sanderson, die Verfasserin des Artikels: »I know quite well that not all who are homosexual are also child abusers.« Aber viele, wenn nicht die meisten, sind es ihrer Ansicht nach eben doch.

Als Beispiel dafür pickt sie sich Samuel R. Delany heraus, der sich aus Sicht des Mad Genius Club gleich in mehrfacher Hinsicht zum Feindbild eignet: Delany ist nicht nur einer der angesehensten Autoren von Fantasy und SF überhaupt, sondern auch schwarz, bekennend schwul, Marxist und queerer Denker. Das Thema Sexualität, und insbesondere der sogenannten ›abweichenden‹ Formen sexuellen Begehrens, zieht sich wie ein roter Faden durch Delanys Werk. Er weist auf, dass die ›Abweichungen‹ von einer Normalität abweichen, die bestenfalls ein fragwürdiges Konstrukt ist. In einem Interview über seinen Roman Hogg sagt er: »I want the narrator to move into a more stable social condition: that’s how, as perverts, we grow up and mature in this society—moving from a socially untenable fantasy, such as Hogg’s actions represent for most of us, to a more socially tenable reality [...] Although the criminal aspect of Hogg’s activities is what makes those acts socially available, the narrator is beginning to learn that it is the acts themselves, and not their criminal aspects, which he fetishizes.«** Hogg, die Titelfigur des Romans, ist ein brutaler Psychopath, der seine Perversionen unter Anwendung von Zwang und Gewalt auslebt. Der namenlose Erzähler, von dem Delany in dem Zitat spricht, ist dabei Betroffener und Komplize zugleich. Während eines Zeitraums, in dem er von Hogg getrennt ist, lernt der Erzähler jedoch (andeutungsweise) andere Möglichkeiten kennen, wie sich Perversionen leben lassen – Möglichkeiten, die in Delanys Worten »gesellschaftlich tragbar«, nicht verbrecherisch sind. Der Perversion ist keine sexuelle Norm aufzulegen, sondern eine Norm des Sozialverhaltens. Gleichzeitig muss die Gesellschaft permissiv genug sein, um Perversion grundsätzlich zuzulassen. Ist sie dazu nicht bereit, nimmt sie in Kauf, dass die Perversion im Geheimen ausgelebt wird, was die Gefahr mit sich bringt, dass die Perversion mit den kriminellen Mitteln verwechselt wird, die angewendet werden, um den Fetisch heimlich ausleben zu können.

Für den Artikel des Mad Genius Club ist gerade dieses Interview der Stein des Anstoßes, denn es hat den Anschein, als äußere sich Delany darin lobend über eine Organisation namens NAMBLA. Der englische Wikipedia-Artikel über NAMBLA bringt ein entsprechendes Zitat Delanys.*** NAMBLA steht für North American Man/Boy Love Association. Der Name sagt alles: Es handelt sich um eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Pädophilie als legitime Variante menschlicher Sexualität akzeptiert wird (dem Anschein nach war Walter Breen, MZBs Ehemann, ein Mitglied). Delany hat mehr als einmal positive Worte für NAMBLA gefunden. In seinem Buch Shorter Views spricht er z.B. beiläufig davon, dass NAMBLA eine Gruppierung sei, die einen ungerechtfertigt schlechten Ruf genieße.† Ich weiß nicht, warum Delany meint, sich für NAMBLA einsetzen zu müssen. Möglicherweise hat er sich zu der Ansicht verstiegen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen auch gewaltfrei möglich seien. Vielleicht auch nicht. Ohne genauere Aussagen Delanys lässt sich darüber nur spekulieren. So oder so finde ich die Unterstützung einer Organisation wie NAMBLA inakzeptabel.

Noch inakzeptabler ist aber, was der Mad Genius Club daraus macht: Nicht nur, dass er Kindesmissbrauch als Folge von Homosexualität darstellt, der Artikel endet auch noch mit der Aufforderung »stop praising those who abuse and defile children«. Was im Falle Walter Breens ganz angebracht ist, ist bei Delany reine Diffamierung. Delany hat sich zustimmend über NAMBLA geäußert. Das ist verwerflich genug, lässt sich aber nur um den Preis einer grotesken Verharmlosung mit aktivem Kindesmissbrauch gleichsetzen. In die gleiche Kerbe schlägt Theo Beale alias Vox Day, der vor dem Aufstieg Larry Correias so etwas wie der Star unter den rechtsradikalen Großsprechern im US-Fandom war. Am 19. Juni veröffentlichte Beale einen (nicht allzu kohärenten) Text auf seinem Blog, in dem er sich darüber beklagt, dass das liberale Fandom »the deeds of perverts and molesters and rapists« bewusst ignoriere. Und warum ist das so? Na klar – »because they are evil. It is that simple.«

Es ist aber nicht so einfach. Bei dem, was der Mad Genius Club wie Beale da verkünden, handelt es sich um ein ebenso verbreitetes wie abgedroschenes Ideologem: It’s them queers and pinkos who want to have sex with our children. In den Diskursen der Rechten über Kindesmissbrauch bricht das Unheil stets von außen über die Gemeinschaft der braven Schäflein herein. Durch ihre Vorstellungswelt geistern effeminierte Männer, die Kinder im Auto mitnehmen, und finstere Vergewaltiger, die nachts im Gebüsch lauern. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Fakt ist, dass die allermeisten Missbrauchsfälle sich innerhalb der Familie ereignen. Die Psychologin Monika Egli-Alge nennt für die Schweiz eine Rate von 84% Missbrauchsfällen im familiären Umfeld. Für Deutschland geht man davon aus, dass in 93% der Fälle die Täter_innen dem Kind bekannt sind. Mädchen sind zehn mal häufiger betroffen als Jungen, während es sich zu 90% um männliche Täter handelt. Das heißt: Die Täter_innen sind keine Fremden, und in den allermeisten Fällen sind sie nicht lesbisch oder schwul.

Die Fokussierung auf Organisationen wie NAMBLA, die Pädophilie als unproblematisch darstellen und sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen entkriminalisieren wollen, ist auch nicht gerade hilfreich. Ihr Aktivismus ist abstoßend, kein Zweifel, doch tragen mit Schaum vor dem Mund vorgebrachte Lynchphantasien gegen Pädosexuelle nichts zum Kinderschutz bei. Beale behauptet, sexueller Missbrauch von Kindern werde von »sexual deviant[s]« begangen, und hält damit die Frage nach der Motivation von Täter_innen für beantwortet. Ein weiterer Versuch, Kindesmissbrauch mit Homosexualität in Verbindung zu bringen, und wiederum einer, der an der Realität vorbeigeht. Der Sexualforscher Volkmar Sigusch nimmt zehn verschiedene Tätertypen an. Nur bei einem davon ist Pädophilie bzw. Pädosexualität das treibende Motiv. Egli-Alge zufolge werden ›nur‹ 25–40% der Sexualdelikte an Kindern von Pädophilen verübt. Deshalb lässt sich ein effektiver Schutz von Kindern gegen sexuelle Übergriffe nicht erreichen, indem man allein bei dem Phänomen der Pädophilie ansetzt.

Was von Leuten wie Beale konsequent ignoriert wird, ist der Gewaltcharakter des sexuellen Missbrauchs. Die Täter_innen sind überwiegend Heterosexuelle, die nicht mal das Problem haben, sich zu Kindern sexuell hingezogen zu fühlen (wie es bei Pädosexuellen der Fall ist). Mangelhaft ist nicht ihre sexuelle Orientierung, sondern ihr Empathievermögen. Dass Beale selbst jegliches Verständnis für sexualisierte Gewalt fehlt, ist daran erkennbar, dass er sich allen Ernstes dafür ausspricht, Vergewaltigung in der Ehe solle legal sein.††

Geht es um die Thematisierung von Kindesmissbrauch durch Rechtsradikale (ob im Fandom oder in der Gesellschaft insgesamt), sind meines Erachtens vor allem zwei Dinge von Bedeutung:
  1. Wenn Rechtsradikale sich das Thema Kindesmissbrauch aneignen, handelt es sich um eine Instrumentalisierung. Die entsprechenden Diskurse sind meist stark auf die Täter_innen fixiert, wobei diese als ›außenstehend‹, ›anders‹ oder ›fremd‹ imaginiert werden, oft auf homophobe Weise. Häufig werden brutale Bestrafungswünsche artikuliert, die zum Schutz von Kindern nichts beitragen, sondern eher dazu führen, dass der Blick von dem Ort, an dem Missbrauch überwiegend stattfindet (der Familie), abgelenkt wird. Missbrauch zu erkennen wird dadurch schwieriger. Aus diesem Grund ist das, was Rechtsradikale über sexuellen Missbrauch zu sagen haben, nicht nur verfehlt, sondern aus der Sicht von Betroffenen auch gefährlich.
  2. Daraus folgt, dass Rechtsradikale keine Verbündeten sein können, wenn es um die Auseinandersetzung mit Missbrauch und Kinderschutz bzw. Kinderrechten geht – wie wortreich sie sich auch immer empören mögen. Rechten Diskursen oder Versuchen, sich das Thema anzueignen, begegnet man im Alltag immer wieder. Sie beschränken sich nicht auf NPD-Plakate zu Wahlkampfzeiten, die »Todesstrafe für Kinderschänder!« fordern. Wer mehr erfahren möchte: Argumentationshilfen und andere Gegenstrategien finden sich in zwei lesenswerten Broschüren der Amadeu-Antonio-Stiftung, »Was Sie über sexuellen Missbrauch wissen sollten« und »Instrumentalisierung des Themas sexueller Missbrauch durch Neonazis«.
* MZB als Pionierin der LGBTI-Bewegung zu feiern, ist dennoch nicht unproblematisch. Ihre persönliche Haltung zur Homosexualität war alles andere als konsistent, und die (aus meiner Sicht ja sehr erfreuliche) Entwicklung, dass vor allem lesbische Frauen sich mit den Freien Amazonen idenifizierten, scheint nicht unbedingt in der Absicht der Autorin gelegen zu haben.
** Carl Freedman (Hg.), Conversations with Samuel R. Delany, University Press of Mississippi 2009, S. 136.
*** Ich kann leider im Moment nicht überprüfen, ob Wikipedia korrekt zitiert, da die entsprechende Seite in der Vorschau von Google Books nicht vorhanden ist.
† Samuel R. Delany, Shorter Views: Queer Thoughts & the Politics of the Paraliterary, Wesleyan University Press 1999, S. 173.
†† Auf Skalpell und Katzenklaue ist vor zwei Jahren ein Artikel erschienen, der diese und andere Ansichten Beales mit Hilfe von Originalzitaten dokumentiert, die vor Misogynie, Rassismus und religiöser Borniertheit nur so triefen.

Donnerstag, 19. Juni 2014

Kindheit in Avalon

Hinweis zum Inhalt: Kindesmissbrauch, sexualisierte Gewalt.

Am 3. Juni erschien auf Tor.com ein Artikel, der (anlässlich ihres Geburtstags) an Marion Zimmer Bradley erinnerte, die 1999 an den Folgen eines Herzanfalls verstarb. Der Artikel erwähnte, dass sie in zweiter Ehe mit dem Fandom-Aktivisten Walter Breen verheiratet war. Was er nicht erwähnte: Walter Breen wurde 1954 wegen sexueller Belästigung von Kindern verurteilt. 1964 veröffentlichte er sein Buch Greek Love, das Päderastie in einem positiven Licht darstellte. 1990 wurde er wegen Verdachts auf Kindesmissbrauch verhaftet. Er gestand und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. 1993 starb er im Gefängnis.

Bradley und Breen waren 26 Jahre lang, von 1964 bis 1990, miteinander verheiratet und hatten eine Tochter und einen Sohn. 1979 trennte sich das Paar, blieb aber weiterhin in engem Kontakt, auf persönlicher wie auf geschäftlicher Ebene. 1990, nach Breens Verhaftung, reichte Bradley die Scheidung ein. Wenn das alles wäre, gäbe es nicht unbedingt einen Grund, den Missbrauch, den Breen betrieb, in einem Gedenkartikel über MZB zu erwähnen. Es ist aber nicht alles. Bradley wusste von Breens Aktivitäten. Sie deckte ihn und unterstützte ihn darin, sexuelle Beziehungen vor allem mit Jungen zu pflegen. Sie war am Veröffentlichungsprozess von Greek Love beteiligt, und das Buch ist ihr gewidmet. Sie schrieb sogar eine Art Komplementärartikel dazu, »Feminine Equivalents of Greek Love in Modern Fiction«.

Zu Beginn der sechziger Jahre war Breen eine schillernde Figur im SFF-Fandom von Berkeley, wo auch MZB später lebte. Breen war in dieser Zeit dafür bekannt, sich sogar vor den Augen ihrer Eltern an Kindern zu vergreifen. 1963–64 kam es deshalb zu einer Kontroverse, die als »Breendoggle« bekannt wurde. Das Fandom von Berkeley zerstritt sich über Breen. Während einige dafür eintraten, ihn von Fan-Aktivitäten auszuschließen, sprachen andere von Rufmord oder waren der Ansicht, ein Ausschluss aus dem Fandom sei schlimmer als Breens Übergriffe und deshalb nicht gerechtfertigt. Wie ›schlimm‹ aber waren Breens Übergriffe? Bill Donaho (ein Fan, der sich bemühte, Breens Aktivitäten ein Ende zu setzen) verfasste ein Memorandum, »The Great Breen Boondoggle or All Berkeley Is Plunged into War«, in dem er die Akte von Kindesmissbrauch, die Breen beging, detailliert schilderte. Ich zitiere aus diesem Dokument nicht, sondern sage nur, dass die Lektüre mich fassungslos gemacht hat. (Für den Link spreche ich deshalb eine Triggerwarnung aus!)

Wenn ich sage, dass Walter Breen eine schillernde Figur war, so gilt das für seine gesamte Persönlichkeit. In seinem Äußeren kultivierte er eine Art Guru-Stil mit langem Bart und wallendem Haupthaar. Er trug bunte, über der Brust geöffnete Hemden und den Schlüsselanhänger seiner Studentenverbindung als Zipper am Jeansreißverschluss. (Ich muss zugeben, dass er mir allein schon deshalb wie ein ausgesprochen unangenehmer Mensch vorkommt). Breen galt als ausgeprochen intelligent und zugleich als jemand, der noch im Erwachsenenalter sehr kindliche Verhaltensweisen zeigte.* Er war eine Art Über-Nerd, bekannt nicht nur im Fandom, sondern auch als begabter Musiker und als Numismatiker (als solcher entwickelte er eine Systematik zur Katalogisierung von Münzen). Er glaubte an Reinkarnation und war überzeugt, ein früheres Leben auf Atlantis verbracht zu haben – ganz wie die Figuren aus MZBs Avalon-Romanen. Ein Besuch auf dem Glastonbury Tor (ein Ort, der allen Leser_innen von The Mists of Avalon bekannt sein dürfte) geriet ihm zum mystischen Erlebnis, mit Trancezuständen und Halluzinationen. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass viele Menschen sich von seiner Persönlichkeit in den Bann ziehen ließen. Breen stand im Ruf, eine Legende des Fandoms zu sein. Noch heute gibt es Menschen, die mit ehrfürchtiger Bewunderung von ihm sprechen. Sein jüngstes bekanntes Opfer war gerade einmal drei Jahre alt, als er es missbrauchte.

1964, als Bradley und Breen heirateten, war der »Breendoggle« noch im Gange. Breen fuhr fort, Kinder und Jugendliche zu missbrauchen. In den siebziger Jahren war MZB Mitgründerin der Künstler_innenkommune Greyhaven. Sie sammelte eine Gruppe von Autor_innen um sich, mit denen sie in quasi-familiärer Weise zusammenlebte.** Darunter sind Paul Edwin Zimmer (MZBs Bruder), Diana L. Paxson (die nach MZBs Tod den Avalon-Zyklus fortsetzte) und Elisabeth Waters (MZBs langjährige Lebensgefährtin und Sekretärin, die heute ihren Nachlass verwaltet). Nach der Trennung von MZB wohnte Breen weiterhin in einem Haus, das seiner Frau gehörte. Dort missbrauchte er seit 1985 ein Kind, das in diesem Jahr acht war. 1989 informierte Moira Greyland, Bradleys und Breens Tochter, wegen dieses Falles die Polizei. Breen wurde verhaftet und verurteilt, kam auf Bewährung frei, belästigte ein weiteres Kind und musste ins Gefängnis. 1997 wurden auch MZB und Elisabeth Waters angeklagt, als Mitwisserinnen Breens. Stephen Goldin, der Stiefvater eines der Kinder, die Breen missbraucht hatte, stellte die Aussagen, die MZB und Waters unter Eid tätigten, online. MZBs Versuche, sich zu verteidigen, sind haarsträubend. So behauptet sie einmal (laut Waters’ Aussage), Kinder an den Genitalien zu berühren, könne keine sexuelle Handlung sein, da Menschen vor der Pubertät keine erogenen Zonen hätten. Dann wieder sagt sie, sich selbst widersprechend, ein elfjähriger Junge sei in ihren Augen alt genug, um selbst zu entscheiden, ob er eine sexuelle Beziehung zu einem erwachsenen Mann eingehen wolle.

Breens Taten sind nur allzu gut dokumentiert. Als Anfang Juni der Artikel zu MZBs Ehren auf Tor.com erschien, reagierte Deirdre Saoirse Moen mit einem Blogpost, in dem sie einige besonders erschreckende Passagen aus Bradleys Aussage vor Gericht zitiert. Tor.com zog daraufhin den Artikel zurück.*** Eine Woche später erhielt Saoirsa Moen eine E-Mail von Bradleys und Breens Tochter, Moira Greyland, die sie mit Einverständnis der Absenderin veröffentlichte. Darin sagt Greyland:
It is a lot worse than that.
The first time she molested me, I was three. The last time, I was twelve, and able to walk away.
I put Walter in jail for molesting one boy. I had tried to intervene when I was 13 by telling Mother and Lisa [Waters], and they just moved him into his own apartment.
I had been living partially on couches since I was ten years old because of the out of control drugs, orgies, and constant flow of people in and out of our family “home.”
None of this should be news. Walter was a serial rapist with many, many, many victims (I named 22 to the cops) but Marion was far, far worse. She was cruel and violent, as well as completely out of her mind sexually. I am not her only victim, nor were her only victims girls.
I wish I had better news.
So erschreckend sich das anhört, es ist tatsächlich keine wirkliche Neuigkeit. Elisabeth Waters sagte an Eidesstatt aus, Moira habe ihr von dem Missbrauch durch ihre Mutter und eine Vergewaltigung durch ihren Vater erzählt. Sie sprach MZB darauf an, erhielt von ihr aber nur die oben erwähnte Aussage über die erogenen Zonen, die Kinder angeblich nicht hätten. Sie sprach auch Breen darauf an, der alles bestritt. Weiter unternahm sie nichts. Ihrer eigenen Auskunft nach erwähnte sie die Sache nie wieder. All das ist in den von Stephen Goldin zugänglich gemachten Dokumenten zu lesen.

Nun ist eine E-Mail kein Gerichtsurteil. MZB ist tot, und wenn sie nicht nur Mitwisserin, sondern auch Täterin war, wird sie niemals dafür bestraft werden. Ihre Aussage vor Gericht, die MZBs zutiefst problematisches Verhältnis zur Sexualität von Kindern offenbaren, zeigen deutlich, dass sie über keinerlei Verständnis für das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen verfügte – oder vielleicht auch, dass sie das Machtgefälle sehr gut verstand und für Breens und ihre Zwecke auszunutzen wusste.

Erstaunlicherweise gibt es immer noch Personen, die MZB in dieser Sache in Schutz nehmen. Es scheint, als habe es sich ausgezahlt, dass sie als Bestseller-Autorin einen engen Kreis von Vertrauten um sich scharte. Schon 2000, nachdem Goldin MZBs Aussage öffentlich machte, formulierte Elisabeth Waters eine Gegendarstellung. Waters bezweifelt, dass Breen Kinder missbraucht habe, und streitet ab, dass Bradley davon gewusst haben könne. Und sie unterstellt Goldin und seiner Frau, die eigentlichen Schuldigen an den Missbrauchserfahrungen ihres Sohnes zu sein: »God only knows what the poor kid learned about sex from them.« Dieses Dokument wurde ebenfalls von Goldin veröffentlicht. Waters arbeitet für den Marion Zimmer Bradley Literary Works Trust, an den die posthumen Einkünfte aus MZBs Veröffentlichungen fließen. In dem biographischen Porträt auf den Seiten der Stiftung wird nicht einmal erwähnt, dass MZB mit Walter Breen verheiratet war. Deborah J. Ross, die MZBs Darkover-Reihe fortsetzte, schrieb zu den jüngsten Ereignissen auf Twitter: »Only half the story is being told. Please be careful about believing sensationalist rumors online.« Twitter-Formulierungen sollte man nicht auf die Goldwaage legen. Aber ich frage mich doch: Wenn das, was Goldin, Saoirsa Moen und Greyland aufgedeckt haben, die eine Hälfte der Geschichte ist – wie sieht dann erst die andere Hälfte aus?

Es gibt jetzt viele Überlegungen, wie mit MZBs Andenken, mit ihrem Werk umzugehen ist. Saoirsa Moen hat meinem Gefühl nach die treffendsten Gedanken dazu:
Many of us have been through some really dark times, and we have the pieces that spoke to our hearts that got us through those times. It genuinely gives me no joy to know that, for those whom MZB’s works were those pieces, I’ve dislodged that for them. [...] In addition to the lives she harmed, MZB’s works saved the lives of other people by speaking to them when other works and other people would not and/or did not. Truly. Rachel E. Holmen, who worked as an editor for Marion Zimmer Bradley’s Fantasy Magazine said about Marion:
When she visited cons, ten or twenty young women an hour would stop by with stories along the lines of “Your books saved my life.”
There are other writers being published now who may speak to those same hearts, but if MZB is still the author that would help them, then I think it’s important that her work be available to do so. This doesn’t diminish her very real (and very severe) failings.
Bevor Joanne K. Rowling auf der literarischen Bühne erschien, war MZB wahrscheinlich die bekannteste Autorin von Fantasy, zumindest außerhalb von Genrekreisen. Innerhalb des Genres liegt ihre Bedeutung vor allem in ihren Anthologien, die von Frauen geschriebener Sword and Sorcery größere Anerkennung verschafften. Das bleibt so, trotz aller Schuld, die sie auf sich geladen hat. Aber: Es ist momentan viel von »seperating the artist from the art« die Rede. Wir alle haben völlig zu recht gelernt, dass man Literatur nicht als Antwort auf die Frage »Was will uns der Autor damit sagen?« interpretieren kann. Aber (um ein einschlägiges Beispiel zu wählen) man kann auch nicht Lovecrafts Rassismus von seinem Werk trennen, denn dieser Rassismus findet in seinem Werk vielfältigen Ausdruck. Man kann Lovecraft weiterhin lesen und sein Werk bewundern, aber man kann angesichts von »The Horror at Red Hook« nicht so tun, als sei er kein Rassist gewesen. Ähnliches gilt in meinen Augen auch für MZB:
Ein kleines Mädchen, von Kopf bis Fuß blau bemalt, rannte mit einem großen Teller über die gepflügten Felder und besprengte die Erde mit dunklen Tropfen. Morgaine hörte ein gewaltiges Rufen, das sich hinter ihr erhob.
»Die Felder sind gesegnet! Gib uns Nahrung, Mutter!«
[...] Sie streckte die Arme aus und wußte, daß vor der Höhle im Licht der Fruchtbarkeitsfeuer Männer und Frauen, die vom schäumenden Strom des Lebens zueinander gezogen wurden, sich auf ihren Befehl vereinigten. Das kleine, blaubemalte Mädchen, das mit dem befruchtenden Blut über die Felder gelaufen war, wurde in die Arme eines alten sehnigen Jägers gelegt; Morgaine sah, wie sich die Kleine kurze Zeit wehrte, aufschrie und unter seinem Körper begraben wurde, während sich ihre Schenkel auftaten – bezwungen von der unwiderstehlichen Kraft der Natur. Morgaine sah es, ohne zu sehen. Sie schloß die Augen vor der blendenden Fackel und hörte die Schreie.
Das ist ein Ausschnitt aus einer Schlüsselszene in MZBs berühmtesten Roman Die Nebel von Avalon. Die Szene beschreibt ein Fruchtbarkeitsritual, dem Morgaine, die Heldin und Sympathieträgerin des Buches, als Priesterin vorsteht. Und sie beschreibt auf distanzierte, fast beiläufige Weise die Vergewaltigung eines Kindes, der die Heldin zusieht, ohne wirklich hinzusehen. Man ziehe daraus Schlüsse oder nicht. Wir wissen jetzt mit aller erschreckenden Klarheit, dass MZB nicht besser als die Heldin ihres Romans war. Wahrscheinlich hat sie Schlimmeres getan, als nur wegzusehen.

* Mit dem Hinweis auf sein ›kindliches‹ Verhalten will ich nicht seine Taten beschönigen – etwa nach dem Motto »Boys will be boys«. Vielmehr vermute ich, dass Breen diesen Zug seiner Persönlichkeit absichtlich stark zum Tragen brachte, um leichter Kontakt zu Kindern aufnehmen zu können.
** Siehe zu dem durchgestrichenen Satzteil meinen Follow-up-Post.
*** Saoirsa Moen äußerte zunächst Freude über die Entscheidung von Tor.com, sagte aber später, sie hätte es bevorzugt, wenn Tor.com den Artikel hätte überarbeiten lassen.

Donnerstag, 12. Juni 2014

SteglitzMind stellt Lake Hermanstadt vor

Gesine von Prittwitz hat mir für ihr Blog SteglitzMind einige Fragen gestellt. Das Gespräch ist seit gestern mittag online. Es ist Teil einer Interviewreihe mit Literaturblogger_innen, die 2012 begonnen wurde und Leuten wie mir ermöglicht, laut über unsere Motivation zum Lesen und Bloggen nachzudenken. Zu verdanken habe ich diese Gelegenheit Frank Böhmert. Am Ende jedes Interviews wird nämlich gefragt, welches Blog als nächstes vorgestellt werden soll, und Frank Böhmert hat sich doch glatt den Hermanstädter See gewünscht.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.