Montag, 24. Februar 2014

Macho McHackenslay, P.D. Kickassgrrl und andere Autor_innen

Juliet E. McKenna schreibt in ihrem Blog:
With the upcoming fourth season of A Game of Thrones about to hit TV screens, you will soon see ‘If you like reading GRR Martin, why not try these authors?’ displays going up in bookshops. I will give a book of mine, of their choice, to the first person who can send me a photo of such a display that isn’t entirely composed of male authors. Because I’ve yet to see one. I have challenged staff in bookshops about this, to be told ‘women don’t write epic fantasy’. Ahem, with 15 novels published, I beg to differ. And we read it too.
Die Erfindung immer stärker ausdifferenzierter Subgenres wird mitunter für ein probates Mittel gehalten, um das Buch ans lesende Publikum (bzw. an das Publikumssegment, das man sich heranzüchten will) zu bringen. Damit verbindet man wohl die Hoffnung, Erfolge wiederholbar zu machen. Naomi Noviks Temeraire-Bücher bewirkten z.B., dass von Napoleonic Fantasy gesprochen wurde. In gewisser Hinsicht ist so etwas Etikettenschwindel, denn ein einzelnes inhaltliches Merkmal (in diesem Fall ein von der Zeit der Napoleonischen Kriege ausgehendes Setting) rechtfertigt nicht, von einem (Sub-)Genre zu sprechen. Man könnte genauso gut behaupten, Alexandre Dumas’ im 17. Jahrhundert spielende Romane bildeten ein eigenes Genre namens Sun King Romance. Solche ›Subgenres‹ haben keinen heuristischen Wert, sondern funktionieren letztlich einfach nur wie Blurbs und andere Werbemaßnahmen.

Aber auch da, wo sich auf sinnvolle Weise von Subgenres reden lässt, nervt die nach Genre-Gender-Korrelaten erfolgende Vermarktung ganz gehörig – zumal Menschen wie mich, die die Southern Vampire Mysteries ebenso wie A Song of Ice and Fire mögen. Da nimmt es sich vielversprechend aus, dass McKennas Post einige Menschen veranlasst, sich gezielt mit epischer Fantasy von Frauen auseinanderzusetzen:
  • Foz Meadows hat sich die Mühe gemacht, eine in dieser Hinsicht recht aufschlussreiche Promo-Broschüre für Buchläden abzufotografieren. Ergebnis: Unter den 113 aufgelisteten SFF-Autor_innen (ausschließlich Weiße) finden sich ganze neun Frauen. In der Sektion »Heroic, epic and high fantasy fiction« werden 20 Werke genannt, darunter drei von Frauen (Trudi Canavan, Gail Z. Martin und Karen Miller).
  • Auf The Wertzone werden acht Autorinnen vorgestellt, deren Werk bedeutende Impulse in die epische Fantasy eingebracht hat, darunter J.K. Rowling. Jep, Werthead betrachtet (ganz nach meinem Geschmack) Harry Potter als epische Fantasy und begründet das hier. Viele weitere Empfehlungen gibt es in den Kommentaren.
  • McKenna erwähnt in ihrem Blogpost »articles in The Guardian which repeatedly discuss epic fantasy without ever once mentioning a female author«. Alison Flood versucht es im Guardian vom letzten Freitag besser zu machen, beschränkt sich in ihren Empfehlungen allerdings nicht auf epische Fantasy.
  • Markus Mäurer listet in seinem Blog Translate or Die die von Frauen geschriebene epische Fantasy aus seinem Buchregal auf und nimmt sich vor, in den nächsten Monaten einige relevante Werke zu lesen und vorzustellen. Es geht los mit C.S. Friedmans Festung der Nacht.
Für Hinweise auf weitere Links zur Sache bin ich dankbar!

Samstag, 22. Februar 2014

Realismus und Literaturbetrieb

In Deutschland gibt es derzeit eine Literaturdebatte. Nein, keine Angst, es ist nicht schon wieder Martin Walser, der irgendwas Blödes gesagt hat. Es geht wirklich um Literatur, nicht nur darum, was irgendein Literat von sich gegeben hat. Florian Kessler hat in der Zeit geschrieben, dass die deutsche Gegenwartsliteratur von »Lehrerkindern und Ärztekindern und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern« produziert werde. Es handele sich um ein »dynastisches Familiending« und die dabei entstehenden Texte seien brav und konformistisch, weil sie von ihrer Entstehung in einem saturierten Milieu geprägt sind (dem Kessler selbst angehört, wie er betont). Den Selektionsprozess, der dazu führt, dass stets nur wieder Bücher aus diesem Eck veröffentlicht werden, führt Kessler auf die ökonomischen Bedingungen zurück, die den Literaturbetrieb strukturieren:
Obwohl insgesamt immer mehr Bücher publiziert werden, entscheidet eine immer kleinere Konstellation von Großagenten, Großverlagen und Großhändlern, welche dieser Bücher die Chance erhalten, zu deutlich sichtbaren Erfolgen hochgepusht zu werden. Wer heute als Autor erfolgreich sein will, der muss in diese Kreise eintreten. Mit innerhalb des vergangenen Jahrzehnts rapide gewachsener Wahrscheinlichkeit gehört er zu einer ganz bestimmten In-crowd aus publizierenden Prominenten und Buchmarktleuten, Journalisten und Betriebsnudeln. Er ist Teil eines informellen Geflechts, das sich vor allem dadurch definiert, dass die allermeisten Schreibenden niemals andocken können.
Wie die Zulassungsrituale zu diesem Geflecht verlaufen, wird von Kessler anschaulich geschildert anhand seiner Bewerbung für das Studium des Kreativen Schreibens in Hildesheim:
Als Bewerbungsmappe hatte ich wirre Liebesmonologe eingeschickt, denen ich zur Nobilitierung ein mir schleierhaftes Zitat des Philosophen Roland Barthes voranstellte [...] Die prüfenden Professoren in Raum J305 liebten mich für dieses Zitat und für meine Hornbrille und für mein kunsteuphorisches Auftreten vermutlich auch. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil extemporierte über sein eigenes wildes Studium in den Siebzigern und seine Barthes-Lesenächte. Ich wiederum lachte viel und an den richtigen Stellen. »Willkommen in Hildesheim!«, rief Ortheil. 
Vorgänge wie dieser dürften allen Studierenden bekannt sein, die nicht zum dynastischen Betriebsgenudel gehören, sprich: kein akademisch gebildetes Elternhaus haben. Man wird der an den richtigen Stellen lachenden Ärztetöchter und Lehrerinnensöhne ansichtig, kommt sich neben ihnen unscheinbar und fehl am Platze vor und erkennt schließlich, dass man zwischen zwei Optionen zu wählen hat: Entweder man verweigert die Anpassung und arbeitet (sofern man überhaupt bis zum Ende des Studiums durchgehalten hat) mit Mitte Dreißig lustlos an einer Dissertation, lustlos betreut von einem sich nach der Emeritierung sehnenden Prof, sofern man nicht ohnehin die meiste Zeit mit Jobben beschäftigt ist, um die Miete fürs WG-Zimmer aufzubringen (während die Ärztetöchter und Lehrerinnensöhne ein eigenes Büro haben, in schicken Klamotten auf Tagungen herumstehen und eifrig netzwerkeln). Oder man macht sich daran, durch hartes Training den von Kessler beschriebenen Habitus zu erlernen und hofft, dass die kleinbürgerliche oder proletarische Herkunft für die lieben Kommiliton_innen irgendwann nicht mehr erkennbar ist. Wenn Kessler behauptet, dass dieser Anpassungsdruck gerade auch im Literaturbetrieb vorhanden ist, dann glaube ich ihm sofort. Aber es geht ihm nicht primär um die Nöte des akademischen Prekariats, sondern um die Folgen für die Literatur selbst, und da lautet Kesslers Urteil: Der Betrieb tut »alles Mögliche, bloß nicht ausgerechnet die Literatur mit abweichenden Stimmen und Erfahrungshintergründen anreichern«.

Kessler erhebt in seinem Text keine Forderungen, weshalb sofort die Feuilletonmühle anlief und zu ergründen versuchte, welche Konsequenzen denn nun zu befürchten seien. Marc Reichwein fragt sich zutiefst erschüttert in der Welt, was Kessler wollen könne: »Weniger Lehrer- und Ärztekinder zum Literaturstudium zulassen? Soll das Ausbildungs- und Stipendiensystem des deutschen Literaturbetriebs Sozialquoten einführen?« Dann erfahren wir, dass Kesslers Ausführungen schlimme Dinge, nämlich Sozialneid, Sozial-Outing und Sozialromantik enthalten. Zum Schluss erhebt Reichwein mahnend die Stimme: »Doch schreibende Milieus kann man nicht züchten. Eine Quotenregelung für Arbeiter und Werktätige hat auch im Bitterfelder Weg der DDR nie funktioniert.« In einem gesellschaftlichen Klima, in dem aus der Hamburger CDU Forderungen laut werden, linken Demonstrierenden das Studium zu verbieten, könnten DDR-Vergleiche ja durchaus Sinn machen. Hier aber nicht, denn niemand hat eine solche Quote, wie Reichwein sie fürchtet, verlangt. Tja, so ist die Welt. Ich warte darauf, dass sie die Abschaffung der Ampelmännchen fordert, denn die sind schließlich in der DDR erfunden worden. Weg mit der Sozialromantik an den Straßenkreuzungen!

In der Zeit selbst wurde zweimal auf Kessler geantwortet. Nora Bossong tadelt, dass er sich »keinen Millimeter von der ihm liebsten Ausdrucksform wegbewegt, dem bürgerlichen Roman nämlich« und empfiehlt eine Auseinandersetzung mit Gramscis Konzept der organischen Intellektuellen. Christoph Schröder dagegen ist richtig wütend: »DIE Literatur, die es ja als solche nicht gibt: Sie hat kein Problem, nicht im deutschsprachigen Raum, nicht heute. Das war vor zwanzig Jahren möglicherweise noch anders. Was Kessler an- und umtreibt, ist kein Literaturproblem.« Schröder treibt etwas anderes um: »Es gehört zum Schicksal der Literatur [...], dass in regelmäßigen Abständen Forderungen an sie herangetragen werden, wie sie denn nun zu sein und wohin sie zu gehen habe.« Ja, richtig. Das nennt man Literaturkritik. Schröder scheint sie ziemlich suspekt zu sein, aber immerhin kommt er zu dem Schluss, dass sie nicht schaden könne, weil die Literatur – trotz Kritik, man stelle sich vor! – schon einige Jahrtausende überlebt hat.* Etwas mehr Substanz hat Schröders Kommentar aber doch. Er will sagen, dass es sich in der deutschen Literatur »seit Langem mehr oder weniger ausgehandket und fertiggestrausst« hat. Und, möchte ich hinzufügen, ist nicht allein die Tatsache, dass wir gerade nicht über Walser reden, ein gutes Zeichen? Es mag schon sein, dass es heute besser ist als vor zwanzig Jahren. Ich bin froh über einen Autor wie den von Schröder »äußerst brillant« genannten Thomas von Steinaecker.

Aber ich zweifle, ob es angemessen ist, aus dem ›Früher war’s schlimmer!‹ zu folgern, dass heute alles super ist. In der Jungle World sind zwei Beiträge erschienen, die sich näher mit der Frage befassen, wie eine Literatur aussehen könnte, die sich nicht beschränkt auf »Coming-of-Age-Geschichten, immer wieder das Thema Nationalsozialismus, inzwischen ergänzt um die DDR-Sozialisation, dazu der ewige Dauerbrenner: die Familienchronik«. Diese Aufzählung von Enno Stahl bringt prägnant zum Ausdruck, warum es gerade heute doch ein Literaturproblem gibt, und für wen – für Leser_innen, die »für die Beurteilung von Literatur eigentlich zuständige Klientel«. Stahl macht klar, dass es nicht um einen Neuaufguss der »Literatur der Arbeitswelt« geht, aber durchaus um mehr Realismus: »Dazu braucht es tatsächliche, also glaubhafte Charaktere mit glaubhaften Biographien. Ihre soziale Herkunft sollte erkennbar sein: Wo kommen sie her, wie sind sie die geworden, die sie sind? Und natürlich auch: Was tun sie? [...] Die deutsche Gegenwartsliteratur wimmelt allerdings momentan nur so von Figuren, bei denen man gar nicht weiß, wovon sie überhaupt leben.« Das Problem sieht Stahl dabei weniger in der bildungsbürgerlichen Herkunft der Schreibenden, sondern eher darin, dass ihr Werk dieser Herkunft verhaftet bleibt, statt dagegen aufzubegehren.

Jakob Hayner, der direkt auf Stahl antwortet, macht bei diesem einen unhistorischen Realismusbegriff aus. Als ästhetisches Prinzip des Realismus sieht er »die freie Entfaltung der Sinnlichkeit [...] jenseits von Regelpoetiken«, womit die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts »für die ihm zugehörigen Künstler die Möglichkeit, sich frei zum Stoff zu verhalten«. Im 20. Jahrhundert habe sich das geändert: »[D]ie Bindung der Massen [war] zum Programm des Realismus geworden. Konservative und Nationalisten fassten den Realismus als Ausdruck des behaupteten jeweiligen Volkswesens auf. War Kunst nicht in diesem Sinne realistisch, galt sie als verkommen, gar als entartet.« Ein Vorgang, den Hayner – zumindest implizit – mit dem Übergang vom Wettbewerbs- zum Monopolkapitalismus in Verbindung bringt. Beruft man sich heute auf den Realismus, ist das für Hayner bestenfalls ein Missverständis. Stahl gegenüber trägt er sich allerdings gleich mit dem Verdacht, dass dessen Motiv »im Grunde die Missbilligung der literarischen Moderne« sei.

Es liegt auf der Hand, was an Hayners Argumentation nicht stimmt: Er ignoriert die Vieldeutigkeit des Realismusbegriffs. Ich sehe in Stahls Forderung nach Realismus jedenfalls keinen Aufruf, zur bürgerlichen Poetik des 19. oder zur Agitationsliteratur des frühen 20. Jahrhunderts zurückzukehren. Hayner meint trotzdem, ihn widerlegen zu können, indem er konstatiert: »Aufgrund der Funktionsweise der Gesellschaft ist der formale Realismus nicht in der Lage, die Realität der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.« An sich stimmt das natürlich. Kafka, nicht Fontane, drückt die Realität aus, in der wir leben. Nur hat Stahl in seinem Beitrag gar nicht den formalen Realismus im Sinn, sondern stellt interessanterweise die Frage nach phantastischen Geschichten, »die uns symbolisch dem Verständnis der Wirklichkeit näher brächten – und natürlich auch der Kritik an ihr«. Als Vorbilder für die Literatur, die er im Sinn hat, nennt Stahl die Wiener Gruppe, Helmut Heißenbüttel, Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt. Der Vorwurf, er missbillige die literarische Moderne, wirkt da reichlich gezwungen. Dennoch hat Hayners Beitrag als Aufforderung an Stahl, seinen Realismusbegriff zu präzisieren, einen gewissen Wert.

An Kessler kritisiert Hayner, er verwechsle Soziologie und Ästhetik, Genese und Geltung, wenn er eine kausale Verbindung zwischen der Klassenherkunft der Literati und ihrem Werk herstellt. Dem stimme ich teilweise zu, wie ja auch Stahl schon bemerkt hat, dass nicht die Klassenherkunft das Problem ist, sondern das Verhaftetsein in ihr. Allerdings irrt Hayner, wenn er meint, die Entstehungsbedingungen eines Werk seien vollständig abtrennbar von seiner ästhetischen Beurteilung. Das ›Bedeuten des Realen‹, das auch Hayner als Aufgabe der Literatur sieht, kann nur gelingen, wenn Literatur Erfahrungen zum Ausdruck bringt, bei denen es sich wiederum nur um die Erfahrungen der Menschen handeln kann, die Literatur produzieren und rezipieren. Alles andere wäre im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos – beziehungsweise würde nur wieder in dem Versuch enden, »lammfromm den hehren Kunstzielen [zu] dienen« (und damit das Bestehende zu affirmieren), den Stahl zu Recht kritisiert. 

Am Ende steht bei mir eine Frage: Was hat es bloß mit dem Terminus »deutsche Gegenwartsliteratur« auf sich, der lesehungrige Menschen unweigerlich dazu bringt, sich aufstöhnend von den so bezeichneten Büchern abzuwenden? Wäre ich Schriftsteller, so ein richtiger zudem, der sich nicht in Genre-Niederungen aufhält, ich würde jeden Morgen ein Bittgebet aufsagen, dass mich niemand der »deutschen Gegenwartsliteratur« kommensurieren möge. Vielleicht wäre die Distanznahme von diesem abscheulichen Begriff ja der erste Schritt zu einer spannungsreicheren, wagemutigeren Literatur in deutscher Sprache.

* Seltsamerweise behauptet Wikipedia, dass Schröder selber Literaturkritiker sei. Der vierte Unterpunkt, das müsste er sein. Wieder mal zeigt sich, wie notorisch unzuverlässig dieses Enzyklopädieprojekt ist.

Samstag, 15. Februar 2014

Eine Petition für die Einführung des Goldenen Zeitalters?

Ich wollte eigentlich nichts über diesen schlechten Witz schreiben. Ich will mich auch gar nicht ausführlich mit dem Inhalt der ›Petition‹ befassen. Warum ich doch ein paar Sätze dazu schreibe, hat eher mit einer grundsätzlicheren Frage zu tun, die seit einer Weile in meinem Kopf rumort.

Es geht wieder einmal um SFWA, die Science Fiction and Fantasy Writers of America, eine Berufsorganisation, die ich in einem anderen Zusammenhang schon einmal erwähnt habe. SFWA gibt ein Bulletin für Mitglieder heraus, dessen 200. Ausgabe letztes Jahr für einen Eklat sorgte. Das lag einerseits an der Coverillustration, im Vergleich zu der die schlechtesten 80er-Jahre-Fantasy-Buchumschläge künstlerische Höchstleistungen darstellen. Das eigentliche Problem war jedoch eine Kolumne von Barry N. Malzberg und Mike Resnick, zwei verdienten Autoren, die die SFWA-Plattform nutzten, um sich in nostalgischen Reminiszenzen über die gute alte Zeit™ zu ergehen, und zwar indem sie sich darüber ausließen, wie heiß ihre Verlegerin damals™ im Bikini ausgesehen habe. Natürlich wurde Kritik an diesen mit Sabber im Mundwinkel vorgebrachten Wichsfantasien laut. Malzberg und Resnick reagierten, indem sie mit vollen Händen Scheiße auf den Ventilator warfen: Die Kritik komme von anonym auftretenden »liberal fascists«, die mittels »thought control« eine Diktatur wie die von Stalin oder Mao errichten wollten – nein, das sind keine ironischen Übertreibungen meinerseits, sondern Malzbergs und Resnicks Worte. Das Ergebnis ist, dass Jean Rabe, die Redakteurin des Bulletins, von ihrem Posten zurücktritt. Die Organisation kündigt an, Mittel und Wege zu ersinnen, wie man die Inhalte des Bulletins einer Qualitätskontrolle unterwerfen könne. Immerhin versteht SFWA sich als professionelle Organisation, die Schriftsteller_innen in beruflichen Angelegenheiten zur Seite stehen möchte, und es ist nicht einsichtig, was Malzbergs und Resnicks Altherrensexismus zu diesem Ziel beitragen könnte. Das hätte es also gewesen sein können. Wenn es nicht Dave Truesdale gäbe.

Truesdale verfasste die oben verlinkte Petition an SFWA. Er selber ist kein Mitglied der Organisation, sondern eine früher mal recht einflussreiche, zwischenzeitlich aber in der Versenkung verschwundene Fandom-Persönlichkeit. Nun möchte ich niemandem zumuten, Truesdales mäandernde Ausführungen komplett zu lesen, um meinen Post verstehen zu können, und fasse deshalb kurz zusammen: Truesdale hängt sich an einer Bemerkung des SFWA-Präsidenten Steven Gould auf, derzufolge der Inhalt des Bulletins den »needs of the organization« zu dienen habe. Truesdales pathosgeladene Antwort:
Whenever I hear phrases like “for the good of the membership” or “for the good of the people” coming from any voice of authority, I immediately take a step back and wonder who decides what is good and what is to be deemed “not acceptable”? Most of the time words like the above come from political dictators afraid of any media spouting anything contrary to party line, and thus squelching freedom of speech.
Truesdale vermischt hier zwei Dinge von sehr unterschiedlicher Bedeutung: a) diktatorische Systeme, die die Redefreiheit unterdrücken, und b) eine nichtstaatliche Organisation, die selbst entscheiden kann, was sie in ihren Publikationen sehen möchte und was nicht. Er vermutet, SFWA wolle eine Art interne Zensurbehörde etablieren, um den Inhalt des Bulletins ›politisch korrekt‹ zu gestalten, und will mit seiner Petition dagegen protestieren. Truesdales Text schließt mit der Versicherung, die Sache, um die es gehe, sei »most decidedly not one of Left vs. Right«. Es greift die alte politische Faustregel: Wann immer jemand behauptet, ein Anliegen sei keine Sache von links oder rechts, handelt es sich um ein Anliegen von rechts, oder genauer um ein konservatives (dazu unten mehr). In diesem Fall handelt es sich zudem um eine irreale Angelegenheit, denn gestern veröffentlichte der SFWA-Präsident eine Richtigstellung:
[T]he editor of the Bulletin will not have to go to any selection or editorial review board to approve material. [...] With all of our publications, SFWA will continue to stand strong for the rights of writers. This includes opposition to censorship.
In der Richtigstellung heißt es bezeichnenderweise, dass die Petition SFWA nie vorgelegt, sondern nur im Internet verbreitet wurde. Dass Truesdales Befürchtungen ziemlich paranoid sind, hätte man sich natürlich ohnehin denken können, denn die Vergleiche, die er bringt (Diktator_innen, die Angst vor Pressefreiheit haben etc.) sind in diesem Kontext schlichtweg ein paar Nummern zu groß. Es hat aber eine ganze Reihe angesehener Autor_innen die ›Petition‹ unterschrieben, darunter David Brin, C.J. Cherryh, Harlan Ellison, Nancy Kress, Mercedes Lackey, Jack McDevitt, Robert Silverberg, Norman Spinrad, Harry Turtledove, Vernor Vinge und Gene Wolfe. Viele der Genannten gehören keineswegs dem rechten Spektrum an, sondern vertreten eher linke oder liberale Ansichten. Daneben gibt es auch einige, deren Unterschrift nicht weiter überrascht: Resnick und Malzberg haben ihre ohnmächtige Wut über die Machenschaften der stalinistisch-maoistischen »liberal fascists« offenbar nach wie vor nicht überwunden. Und Gregory Benford, Larry Niven und Jerry Pournelle gehörten schon in den 80ern zu den Reagan Boys, einer Gruppe von SF-Autoren mit offen militaristischen Ansichten.

Das Fatale ist: Die oben verlinkte Version der Petition ist nicht die ursprüngliche. Truesdales Originaltext ist sehr viel länger und sehr viel dümmer als die überarbeitete, auf der Website von Tangent veröffentlichte Fassung. Silverberg behauptet, die ursprüngliche Version sei nur ein Entwurf gewesen, doch sie zirkulierte bereits per E-Mail – unterschrieben von Benford, Malzberg, Resnick und Silverberg selbst. Natalie Luhrs hat sie zugänglich gemacht. Darin wird deutlich, dass die Redefreiheit für Truesdale eher einen Nebenschauplatz darstellt. Was in der überarbeiteten Fassung fehlt, sind nämlich Truesdales seitenlange Klagen darüber, dass SFWA eine Kampagne »to banish attractive, sexy women (fully or partially clothed in a traditional SF or Fantasy setting)« führe. Wer sich gewundert hat, warum ein Heftchen, das eine Organisation an ihre Mitglieder verschickt, bei Truesdale solche Aufregung hervorruft (und ich habe mich sehr gewundert), kann sich nun denken, wo der Hase im Pfeffer liegt. Silvia Moreno-Garcia fasst in zwei Sätzen zusammen, was vermutlich Old Daves wahres Anliegen ist: »Truesdale, however, is fighting the good fight. Ensuring you get your dose of tits.«

Nun gibt es durchaus unterschiedliche Antwortversuche auf die Frage, warum so viele respektable Autor_innen Truesdales Blödsinn mit ihrer Unterschrift aufgewertet haben. Nicht von der Hand zu weisen ist z.B. die Vermutung, dass beim Stichwort Redefreiheit insbesondere in den USA nicht wenige Menschen erst unterschreiben und dann nachdenken. Einleuchtend erscheinen mir auch Überlegungen, dass bei Leuten wie Resnick die Angst vor dem Verlust von Gatekeeper- oder Elder-Statesman-Positionen eine Rolle spielen könnte. Ich behaupte jedoch, dass Truesdales ursprünglicher Text ganz wörtlich zu nehmen ist. Es geht in der ganzen Auseinandersetzung weniger um Redefreiheit an sich, sondern darum, dass auf das Cover der offiziellen Publikation von SFWA gefälligst ein chainmail chick gehört. Warum? Weil es Tradition ist, darum. Früher™ wurde es so gemacht, deshalb gehört es einfach dazu. Diese Begründung – die Berufung auf die Tradition – hat Truesdale sich nicht ausgedacht. Bereits letztes Jahr haben diejenigen, die das umstrittene Covermotiv verteidigten, lautstark geltend gemacht, dass solche Bilder zur Fantasy nun einmal dazugehörten (bzw. zur SF, denn es hätte anstelle eines Red-Sonja-Verschnitts ebenso gut um ein phallusförmiges Raumschiff gehen können). Das Bulletincover weckte nostalgische Erinnerungen an die gute alte Zeit der 80er Jahre, als (in den Worten von Peter S. Beagle) in SFF-Buchhandlungen »rows of unfamiliar paperbacks« mit »mock-Frazetta covers featuring muscular, barechested northern-barbarian types rescuing similarly muscular barechested damsels from assorted monsters« zu bewundern waren. Ich vermute, dass der schwertschwingende Rotschopf mit der Dauerwelle für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen keine ästhetischen Zweifel weckt, sondern vielmehr eine beruhigende Botschaft aussendet: Damals™ war die SFF-Welt noch in Ordnung.

Das ist eine Haltung, die bei mir massives Unbehagen auslöst. Bevor ich weiter ausführe, was ich damit meine, muss ich ein paar Bemerkungen los werden: Ich lese SF ebenso wie Fantasy. Zwar kann ich mit Hard/Military SF im Allgemeinen nichts anfangen, während es auf der anderen Seite (glaube ich) kein Fantasy-Subgenre gibt, das mir nicht einige Lieblingsbücher beschert hat, aber wer Imagination gegen Extrapolation ausspielt (oder umgekehrt), kann sich meiner Kritik sicher sein. Dennoch muss ich konstatieren, dass ich mich in Diskussionen über Fantasy bzw. in primär fantasylesenden Kreisen stärker zu Hause fühle als in ihren Äquivalenten im SF-Bereich. Warum es mir so geht, lässt sich recht einfach auf den Begriff bringen: Golden Age.

Das vom Fandom tradierte Genrebewusstsein der SF blickt auf das Ideal einer verklärten Vergangenheit zurück, die als Goldenes Zeitalter des Genres gilt. Dieses Konstrukt hat sich tief ins kollektive Gedächtnis des SF-Fandoms eingegraben. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um ein ästhetisches, sondern eher um ein literatursoziologisches Phänomen. Die aus Asimov, Clarke und Heinlein bestehende Dreieinigkeit kann längst durch andere Vorlieben abgelöst worden sein. Aber der Maßstab an sich, dass das Vorbild für gute SF stets in der Vergangenheit zu suchen sei, wird unter Fans getreulich von Generation zu Generation weitergegeben. Die periodisch wiederkehrende Diskussion darüber, dass gute SF vom Aussterben bedroht sei, wird gepflegt wie ein anheimelndes, vertrautes Ritual. Der Vergangenheitsbezug wirkt identitätsstiftend. Genregeschichtlich ist dies letztlich auf die soziologischen Bedingungen zurückzuführen, unter denen SF im sogenannten Golden Age produziert wurde, denn dabei handelt es sich um die Zeit, in der das Genrebewusstsein der SF entstanden ist. Das entscheidende Merkmal des SF-Fandoms im Golden Age ist, dass es sich um eine geschlossene Gesellschaft handelte. SF wurde vor allem für Magazine verfasst, die von Leuten gelesen wurden, die später selber SF zu schreiben begannen. Die gesellschaftliche Positionierung der Fans war sehr homogen: überwiegend middle class, weiß und männlich. In dieser geschlossenen Gesellschaft entwickelte sich eine ausgeprägt apologetische Haltung gegenüber der literarischen Moderne, deren maßgebliche Werke zur gleichen Zeit kanonisiert wurden. Noch bevor überhaupt Buchverlage entstanden waren, die sich für SF interessierten (bevor die SF also mit einer breiteren literarischen Öffentlichkeit in Kontakt treten konnte), hatte sich bereits eine Subkultur herausgebildet, die bereit war, die geliebte Lektüre Außenstehenden gegenüber mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Die Vergangenheit wird zum Goldenen Zeitalter, weil in der Vergangenheit die Fans unter sich waren und sich gegenseitig den Rücken stärken konnten. Interessanterweise wird die Frage, in welchem historischen Zeitraum das Golden Age anzusiedeln ist, generationsabhängig beantwortet. Während es gemeinhin heißt, die 40er Jahre seien als Goldenes Zeitalter der SF anzusehen, bezeichnet Robert Silverberg (Jahrgang 1935) die Weltkriegsdekade als »false dawn« und erklärt die 50er zum wahren Golden Age. Barry Malzberg (Jahrgang 1939) sieht es ähnlich: »Say this at the outset: there has only been a trickle of novels through the fifty-five-year history of science fiction that have been consensually accepted as masterpieces, absolute examples of what the field can be at its best. With no exception that I can glimpse, all of them were published in the fifties.« Zwei Autoren, die in der gegenwärtigen Kontroverse Schlüsselrollen spielen, sind sich völlig einig, dass die Hochzeit des Genres in ihrer eigenen Jugend liegt. Wären sie zehn Jahre älter, würden sie wahrscheinlich auch das Golden Age um eine Dekade nach hinten verlegen. Dem zugrunde liegt die Annahme: Es gab eine Hochzeit der SF. Sie liegt in der Vergangenheit. Und niemand versteht das, der sie nicht selbst erlebt hat. Woraus implizit folgt: Ihr Außenstehenden könnt nicht mitreden.

Für ein Genre, das sich oft und gern als die Literatur der Zukunft versteht, mag das eine bemerkenswerte Haltung sein, wenn nicht ein Widerspruch in sich. Aber mir geht es hier nicht in erster Linie um SF als Literatur, sondern um SF als Subkultur. Die Fantasy wiederum, die häufig auf nicht ganz faire Weise zur Literatur einer idealisierten Vergangenheit erklärt wird, hat eine völlig andere Geschichte. Ihr Genrebewusstsein hat sich nicht durch die subkulturelle Rezeption von Magazinveröffentlichungen herausgebildet. Das die Entstehung dieses Bewusstseins auslösende Moment war die Publikation des Lord of the Rings 1954/55. Das epochale Werk der Fantasy erschien in Großbritannien in einem allgemeinen Literaturverlag und war damit von Anfang an der kritischen Beurteilung durch die literarische Öffentlichkeit ausgesetzt. Auch Fantasy lässt sich als Gegenbewegung zur literarischen Moderne verstehen, doch fand diese in Form einer engen Auseinandersetzung und nicht durch subkulturelle Abschottung statt: James Joyce wünschte sich den Fantasyautor James Stephens als Vollender seines Spätwerks Finnegans Wake. W.H. Auden gehörte zu den Bewunderern Tolkiens. George Orwell rezensierte kühl, aber wohlwollend C.S. Lewis’ That Hideous Strength. Anthony Burgess wiederum machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für »allegories with animals or fairies«, womit er vermutlich Watership Down und The Lord of the Rings meinte. Diese Öffentlichkeitswirkung führte dazu, dass sich schon früh bedeutende Literaturkritiker wie Edmund Wilson, Harold Bloom oder Fredric Jameson mit Fantasy als Genre befassten (wie man auch sagen könnte, dass Sigmund Freud und Walter Benjamin sich avant la lettre mit Fantasy beschäftigten). Man muss die Urteile, zu denen die Literati in Sachen Fantasy gekommen sind, nicht mögen. Es ist auch unübersehbar, dass die meinungsbildende Öffentlichkeit überwiegend nicht sehr nett mit der Fantasy umgegangen ist und sie regelmäßig als trivialen Schund oder eine Art literarischen Wechselbalg, der im Literaturbetrieb des 20. Jahrhunderts eigentlich nichts zu suchen habe, abgetan hat. Dennoch glaube ich, dass diese Öffentlichkeit ein Segen war. Von Anfang an ging kein Weg daran vorbei, sich auf die offene, polemische Auseinandersetzung einzulassen. Eine völlige Einigelung war nicht möglich.

Hatte dieser Unterschied im Genrebewusstsein auch Einfluss auf die ästhetische Entwicklung von Fantasy und SF? Es ist bemerkenswert, dass die Fantasy sich seit Tolkiens Zeiten immer wieder selbst erneuert hat, ohne dass dies zu größeren Verwerfungen im Genrebewusstsein geführt hat. Das Tolkien-Bashing der einen scheint ebenso wie die Tolkien-Bewunderung der anderen immer dazugehört zu haben, beides zusammen sorgte für Vielfalt. (Die gegenwärtige Grim-and-Gritty-Welle stellt vielleicht die erste wirkliche Verwerfung dar.) Die New-Wave-Bewegung, die versuchte, die literarische Moderne in die SF einzuführen, nahm dagegen die Form einer offenen Revolte gegen die Altvorderen des Genres an. Es handelt sich vielleicht um ein Zeichen dafür, dass die Fantasy bereits zu Anbeginn ihrer Geschichte Zumutungen gewöhnt war, die die SF nur langsam akzeptieren lernte – oder nie vollständig akzeptiert hat, denn wenn es das Ziel der New Wave war, ihre Vorstellungen auf breiter Ebene durchzusetzen, dann ist sie weitgehend gescheitert, und der Hauptstrom der SF ist hartnäckig bei den alten Gewohnheiten geblieben. Allen Veränderungen zum Trotz hat jedenfalls die Vergangenheitsfixierung des Fandoms keinen Schaden genommen.

Bisher ist meines Wissens noch niemand auf die Idee gekommen, ein in der Vergangenheit liegendes Goldenes Zeitalter der Fantasy auszurufen (und wenn doch, dann ohne Folgen). Wenn im Zusammenhang mit Fantasy von einem Golden Age die Rede ist, scheint man sich eher auf die Gegenwart zu beziehen. Kurz gesagt: Was bei mir an Truesdales Geschreibsel Unbehagen auslöst, ist nicht nur sein offenkundiger Sexismus, sondern auch, dass darin der Ansatz zu dem Versuch steckt, die 80er Jahre zu einem Goldenen Zeitalter der Fantasy hochzujazzen. SF und Fantasy sind Geschwister und beeinflussen sich ständig gegenseitig. Im Vergleich zu denen, die sich auf beiden Feldern wohlfühlen, dürfte es nur wenige Autor_innen geben, die sich ausschließlich an einer der beiden Formen versucht haben. Im Allgemeinen finde ich das gut so. Doch in dieser Sache hoffe ich sehr, dass die Fantasy sich von der unglückseligen Geschichte der SF nicht irritieren lässt.

Wer mehr über die SFWA-Kontroverse lesen möchte, sei auf die ausführliche (parteiliche) Timeline zu den Ereignissen hingewiesen, die S.L. Huang zusammengestellt hat. Außerdem hat Cora Buhlert in diesem Post jede Menge aktuelle Links zusammengestellt.

Dienstag, 4. Februar 2014

The Narnian

Biographien über C.S. Lewis gibt es einige. Interessant an ihnen ist immer, wie sie die kontroversen Aspekte von Lewis’ Leben behandeln: Einige geben sich pietätvoll und gucken lieber nicht so genau hin, wenn irgendetwas nicht ins Bild passt. Andere sind wagemutiger und geben sich nicht mit einer Wiederholung der diversen Mythen zufrieden, die um »Onkel Jacks« Lebensgeschichte gewoben wurden. The Narnian von Alan Jacobs gehört zu letzteren.

Wer über Lewis schreiben will, muss sich dem Problem stellen, dass es nicht nur einen Lewis gibt, sondern drei: Den christlichen Apologeten, der so clever gewesen sein soll, dass er seine atheistischen und agnostischen Widersacher_innen mit ihren eigenen Waffen schlug. Den weltberühmten Autor der Kinderbuchreihe Chronicles of Narnia. Und den relativ unbekannten Literaturwissenschaftler, Verfasser von wunderbaren Büchern wie The Discarded Image und An Experiment in Criticism. Sieht man in Lewis vor allem den Verteidiger des christlichen Glaubens, dann liegt es nahe, sein Leben als eine Art folgerichtige Entwicklung mit geradezu vorherbestimmten Ziel zu sehen: Lewis ist als Kind im Christentum erzogen worden, verlor aufgrund erschütternder Ereignisse seinen Glauben, bis ihn seine eigene Vernunft im Erwachsenenalter zunächst zur Annahme der Existenz Gottes und schließlich zum Glauben an Jesus Christus zurückführte. Lewis selber zeichnet allerdings ein sehr viel komplexeres Bild seiner spirituellen Entwicklung. So sah er in seiner späteren Bekehrung keineswegs eine Rückkehr zum Glauben seiner Kinderzeit. Er betonte vielmehr, dass er als Kind eine quasi magische Auffassung von Religion gehabt habe. Der Glaube an die Wirksamkeit dieser ›Magie‹ sei ihm jedoch abhanden gekommen, als er gemerkt habe, dass Gebete seine früh verstorbene Mutter nicht wieder zum Leben erwecken konnten. Auch viel später noch zeigte sich bei Lewis eine sporadisch aufflackernde Begeisterung für Okkultes und Magisches, eine Tendenz, die er an sich selbst zu bekämpfen versuchte. Es ist verständlich, dass der reife Lewis, als gefeierter Laientheologe in der Öffentlichkeit stehend, eine strikte Unterscheidung zwischen seinem christlichen Glauben und seiner Faszination für Magie vornahm (auch wenn es ihm selber nicht immer ganz gelang, die Unterscheidung auch einzuhalten).

Alan Jacobs leugnet nicht die traumatische Wirkung, die der Tod der Mutter auf das Kind Jack Lewis hatte. Er geht jedoch darüber hinaus und sieht Lewis’ bewusste Hinwendung zum Atheismus als Rebellion gegen den gefühlsbetonten, redseligen, der Kirche aus sentimentalen Gründen (und bürgerlicher Wohlanständigkeit) verbundenen Vater an. In der Tat ist es nicht zuviel gesagt, dass die Charaktereigenschaften seines Vaters angetan waren, Lewis rasend zu machen, so dass es mindestens einmal sogar zum offenen Zerwürfnis zwischen den beiden kam. Die Annahme, dass Lewis als junger Mann eine betont rationalistische Weltsicht kultivierte, um sich vom Vater abzugrenzen, liegt also nahe. Zugleich bekämpfte er damit aber die imaginative, sich für das Phantastische begeisternde Seite seines eigenen Charakters. Nach dem Studium in Oxford entschied Lewis sich zunächst, eine Karriere als Philosophiedozent zu verfolgen. Dies kam seiner pedantischen, zum Argumentieren und zum Streitgespräch neigenden Seite entgegen, die er zu stärken versuchte. Zugleich kam er nicht los von seiner Begeisterung für Märchen und Sagen, für die frühe Fantasy von George MacDonald, H. Rider Haggard und David Lindsay – nur schien diese Begeisterung keinen Platz zu haben in dem Bild, das er von sich selber entwarf.

Um seine philosophische Tätigkeit machen vor allem diejenigen viel Aufhebens, die in Lewis den brillanten Apologeten sehen wollen. Doch wenn man ehrlich ist, wird man selbst bei größter Sympathie für Lewis nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass er keinen sonderlich überzeugenden Philosophen abgab. In der akademischen Philosophie der Zeit spielte Oxford die zweite Geige, während die spannenden Entwicklungen vor allem in Cambridge stattfanden. Dort wurde von George Edward Moore, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein die analytische Philosophie entwickelt, während man an der Themse einer theistisch-idealistischen Hegel-Interpretation huldigte, die heute weitgehend vergessen ist. Dass Lewis zum Ende seiner philosophischem Laufbahn hin theistische Auffassungen vertrat, hat mehr mit seiner Oxforder Prägung als mit der rationalen Überzeugungskraft des christlichen Gottesbildes zu tun. Lewis postulierte Gott, weil der Theismus ihm als »the least objectionable hypothesis« unter den philosophischen Optionen der Zeit erschien. Das spricht nicht für Brillanz, sondern eher für intellektuellen Kleinmut. Lewis schreckte vor den radikaleren Implikationen seines eigenen Atheismus zurück, bis er ihn schließlich ganz aufgab.

Zwei Entscheidungen bewahrten Lewis davor, an diesem unzufriedenstellenden Punkt zu verharren: Er gab die Philosophie auf und verlegte sich auf Literaturwissenschaft. Damit räumte er seiner persönlichen Liebe zur Literatur den gebührenden Platz in seinem akademischen Leben ein. Und er bekehrte sich zum Christentum. Alan Jacobs ist der Ansicht (und es spricht einiges dafür), dass diese Bekehrung für Lewis’ Charakter vor allem die Befreiung seiner imaginativen Seite bedeutete. Lewis liebte die Mythologie, aber sein selbstgestellter Anspruch, ein Vernunftansprüchen gehorchender, sachlicher Mensch zu sein, zwang ihn dazu, die geliebten Geschichten als bloße Lügen anzusehen. Sie mochten ästhetisch ansprechend sein, aber sie waren unwahr. Unter dem Einfluss von Tolkien, Barfield und den anderen Inklings gelangte er zu einer überraschenden Lösung für sein Dilemma: Wenn die christliche Erzählung von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi ein wahrer Mythos war (wovon er jetzt überzeugt war), dann kam von dieser Wahrheit her auch allen anderen Mythen eine besondere Würde zu. Wenn sie auch weiterhin nur Erfindungen des menschlichen Geistes waren, wurden sie Lewis’ Empfinden nach doch in eine Position versetzt, die sie zur geeigneten Beschäftigung für erwachsene Menschen machte.

Das Christentum, das Lewis für sich entwickelte, trägt denn auch nicht zufällig stark mythologische Züge. Lewis glaubte, dass schon vor der Entstehung des Menschen ein kosmischer Krieg zwischen Himmel und Hölle, Engeln und Dämonen begonnen habe. Die Aufgabe des Menschen in dieser übernatürlichen Auseinandersetzung war es, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Auch nichtreligiöse Menschen stehen Lewis zufolge vor der Entscheidung zwischen Himmel und Hölle, wenn sie zwischen moralisch richtigem und falschem Handeln wählen müssen. Diese Auffassung – Lewis’ persönliche Mythologie – liegt implizit oder explizit den meisten seiner belletristischen Werke zugrunde, von Out of the Silent Planet über The Screwtape Letters und The Great Divorce bis zu den Chronicles of Narnia. Was immer man von seiner Weltanschauung halten mag, sie befeuerte Lewis’ mythopoetische Phantasie ganz erheblich.

Jedoch wird in der Betrachtung von Lewis’ Christentum meist auf seine Tätigkeit als Apologet fokussiert. Diese Sichtweise ist so selbstverständlich geworden, dass häufig sein gesamtes schriftstellerisches Werk unter dem Aspekt der Verbreitung des christlichen Glaubens gesehen wird. Jacobs weist jedoch zu recht darauf hin, dass nur drei von Lewis’ Büchern, alle aus den 40er Jahren, Apologien des Christentums im engeren Sinne darstellen: The Problem of Pain, Miracles und die einzelnen Teile von Mere Christianity. Daneben trat der Apologet Lewis im Socratic Club, dem er 1942–1954 als Präsident vorstand, in Erscheinung. Diese Oxforder Gesellschaft veranstaltete regelmäßige Diskussionsforen, bei denen Vertreter_innen christlicher und areligiöser Positionen sich Streitgespräche lieferten. Seine apologetischen Bücher und die Diatribe, die Lewis im Rahmen des Socratic Club hielt, werden insbesondere von evangelikalen und anderen konservativ-christlichen Lewis-Fans in ehrfürchtigem Andenken gehalten. Die Begeisterung dieser Kreise kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele von Lewis’ Ausführungen über die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (und an die Göttlichkeit Jesu) argumentativ gesehen Humbug sind.

Kein Zweifel, Lewis hielt es für ein ausnehmend wichtiges Unternehmen, in der Öffentlichkeit für den christlichen Glauben zu werben. Aber bildet es auch den Mittelpunkt seines Wirkens? Die Beantwortung dieser Frage hängt ganz wesentlich davon ab, wie man sich Lewis’ um 1950 herum erfolgte Abkehr von der apologetischen Tätigkeit erklärt. Alan Jacobs weist auf die schwierigen Lebensumstände hin, mit denen Lewis Ende der 40er Jahre zu kämpfen hatte: Neben der arbeitsintensiven Lehrtätigkeit in Oxford hatte er sich um seinen alkoholkranken Bruder Warnie zu kümmern, der sich auf seinen ausgedehnten Sauftouren immer wieder ins Delirium trank. Außerdem verkomplizierte sich die Beziehung zu seiner langjährigen Lebensgefährtin Jane Moore, deren exzentrische, fordernde Charakterzüge zu dieser Zeit stärker in den Vordergrund traten. Es spricht alles dafür, dass Lewis schlicht überlastet war und sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs befand. Zugleich gibt es aus dieser Zeit eine oft wiederholte Geschichte, die wahrscheinlich bereits in Lewis’ persönlichem Umfeld entstanden ist: 1948 fand im Socratic Club eine Diskussion zwischen Lewis und der Philosophin Elizabeth Anscombe statt, bei der Anscombe Lewis nachwies, dass er in seinem Buch Miracles unsauber argumentiert hatte. Anscombe und Lewis scheinen die Debatte eher als freundschaftlichen Schlagabtausch verstanden zu haben (der im Übrigen damit endete, dass Lewis seinen Fehler zugab). Im Nachhinein wurde jedoch verschiedentlich behauptet, von Anscombe im Streitgespräch besiegt zu werden, sei für Lewis eine tiefe Demütigung gewesen und habe zu einer existentiellen Krise geführt, die bis zur Infragestellung seines Glaubens gegangen sei. Die Implikation dieser Geschichte ist klar: Lewis hat sich enttäuscht und verletzt von seiner wahren Bestimmung als scharfzüngiger Verteidiger des Christentums abgewandt und anstelle dieser ernsthaften Tätigkeit mit dem Schreiben von Kinderbüchern begonnen.

Jacobs macht deutlich, dass biographisch eher wenig dafür spricht, dass es sich so verhalten haben könnte. Im Gegenteil, seine Darstellung von Lewis’ Leben wirft die Frage auf, ob man in der Apologetentätigkeit nicht eine verwandelte Form von Lewis’ alter Obsession, sich zum unbestechlichen Vernunftmensch zu modellieren, erblicken kann. Der Hang zur Engstirnigkeit und Rechthaberei, der vor allem in den apologetischen Schriften zum Ausdruck kommt, spricht sehr dafür. Wie dem auch sei; für die Nachwelt ist es ein Glück, dass Lewis um 1950 herum die Notwendigkeit verspürte, sich stärker als zuvor dem Erzählen von Geschichten zu widmen. Das Ergebnis sind die sieben Bände der Chronicles of Narnia und der Roman Till We Have Faces – die einen sein beliebtestes, der andere sein angesehenstes literarisches Werk.

Es sollte deutlich geworden sein, was ich als das Hauptverdienst von Jacobs’ Biographie ansehe: Sie befreit den Erzähler C.S. Lewis, der Geschichten liebte (und als Literaturtheoretiker zu bemerkenswerten Einsichten gelangte), aus der Umklammerung seiner evangelikalen Rezeption. Dieses Unternehmen ist Jacobs umso höher anzurechnen, als dass er selber Christ ist. The Narnian will »the life of a mind, the story of an imagination« sein und nicht eins jener zahlreichen Bücher, die Jacobs folgendermaßen beschreibt:
Long ago the writers of books and articles concerning “What C.S. Lewis Thought About X” ran out of subjects and began to write books and articles concerning “What C.S. Lewis Would Have Thought About X if He Had Lived Long Enough to See It.”
Das ist nicht übertrieben. Ich erinnere mich an einen Artikel, dessen Inhalt sich mit »Warum C.S. Lewis sich dem Katholizismus zugewandt hätte, wenn er nicht kurz davor gestorben wäre« zusammenfassen ließe.

Obwohl ich gegen Jacobs’ von Sympathie geprägte Herangehensweise grundsätzlich nichts einzuwenden habe, führt sie mitunter doch dazu, dass er an kritischen Punkten viel zu nett bleibt. Jacobs streitet nicht ab, dass Lewis’ Werk von Rassismus und Sexismus durchzogen ist, doch wenn er darauf zu sprechen kommt, geht er schnell dazu über, Lewis als Kind seiner Zeit zu verteidigen (und geht damit der Auseinandersetzung faktisch aus dem Weg). Auch frage ich mich, ob er nicht ein einseitiges Bild zeichnet, wenn er sagt, Lewis sei stets bereit gewesen, die Frauen unter seinen Studierenden zu fördern. Die Erinnerungen A.S. Byatts, die in Cambridge bei Lewis studierte, mögen dazu dienen, diese Behauptung ein wenig zu relativieren:
I did have the feeling that he was a very clever schoolboy who had never grown up. He was sheltered. I didn’t feel he knew anything about the world I was in, with babies and nappies and money problems. I think he didn’t like women.
Auffällig ist auch, dass Jacobs sich über die obskurantistischeren Züge von Lewis’ Weltanschauung – er glaubte z.B. an die Möglichkeit, erkrankte Haustiere durch Handauflegen zu heilen – höflich ausschweigt. Weniger Rücksicht nimmt er, wenn es um die Eigenheiten von Lewis’ Freunden geht. So kommt er zu amüsanten Urteilen über Charles Williams (»rather creepy«) oder Tolkien (»Tact was not a virtue Tolkien cultivated with much enthusiasm«). Allein schon deshalb lohnt es sich, The Narnian zu lesen.

The Narnian: The Life and Imagination of C.S. Lewis von Alan Jacobs ist 2005 bei HarperCollins erschienen.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.