Donnerstag, 4. Dezember 2014

Das Lewis-Trilemma, 2. Teil

Im ersten Teil dieses Blogposts sagte ich, dass C.S. Lewis’ berühmtes Trilemma, das die Göttlichkeit Jesu beweisen soll, nur auf der Grundlage des Trinitätsdogmas zu verstehen ist: Im 4. Jahrhundert legte die Kirche fest, dass Gott drei und eins zugleich ist – Gott der Vater, Gott der Sohn (also Jesus) und der Heilige Geist sind der dreieinige Gott. Gott ist im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist gleichermaßen präsent. Auf dieses Gottesbild gründet sich, historisch gesehen, der christliche Glaube an die Göttlichkeit Jesu. Wie es zu diesem Dogma kam, lässt sich am besten vor dem Hintergrund theologischer Kontroversen verstehen, die im 3. und 4. Jahrhundert ausgetragen wurden. Vor der Festlegung auf die Trinität gab es in der Kirche zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen über die Beziehung zwischen Jesus und Gott, und damit implizit auch über die Göttlichkeit (oder Nichtgöttlichkeit) Jesu. Nun geht das Lewis-Trilemma aber davon aus, dass nicht erst die Kirche des 4. Jahrhunderts den Glauben an die Göttlichkeit Jesu bekundet habe. Vielmehr habe Jesus selbst den Anspruch erhoben, Gott zu sein.

Das Problem ist, dass dieser Anspruch aus dem Neuen Testament herzuleiten sein müsste. Dieser Mühe unterzieht Lewis sich aber nicht. Natürlich wird Jesus im Neuen Testament oft als Sohn Gottes bezeichnet, und Jesus selbst nennt Gott seinen Vater. Aber was bedeutet das im Kontext von Jesu Zeit? Sprechen das Neue Testament und die Theologie des 4. Jahrhunderts die gleiche Sprache? War das Neue Testament für Menschen, die 300 Jahre später lebten, nicht genauso interpretationsbedürftig wie 300 Jahre alte Texte es für uns sind? Das hätte Lewis untersuchen müssen, und indem er es nicht tut, begeht er eine methodische Schlamperei, die er als Literaturwissenschaftler anderen wohl nie hätte durchgehen lassen. Wenn sich aber herausstellt, dass Jesus selbst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in dem Sinne, wie das Trinitätsdogma es versteht, Göttlichkeit beanspruchte, dann fällt die gesamte Argumentation des Lewis-Trilemmas in sich zusammen.

Jesus war ein Mensch, der im 1. Jahrhundert in der Region Palästina lebte. Diese Tatsache lässt sich mit der Trinitätslehre nur dann vereinbaren, wenn man annimmt, Jesus habe als Gott der Sohn von Anbeginn der Zeit an neben Gott dem Vater und dem Heiligen Geist existiert, sei dann irgendwann um die Zeitenwende herum auf die Erde hinabgestiegen, um als Mensch Jesus geboren zu werden, habe einige Jahrzehnte unter den Menschen verbracht und sei dann in den Himmel aufgefahren, um seinen Platz neben dem Vater und dem Heiligen Geist wieder einzunehmen. In der Tat ist das die orthodoxe christliche Vorstellung. Was aber sagt das Neue Testament?

Dazu ist zunächst zu klären, um welche Art von Texten es sich bei den Schriften des Neuen Testaments handelt und wie sie entstanden sind. Für die Frage, was Jesus über sich selbst gesagt haben könnte, sind dabei vor allem zwei Textkorpora interessant: die vier Evangelien und die Briefe des Paulus. Jesus wurde um das Jahr 30 herum von den römischen Behörden hingerichtet. Darauf begannen seine Jünger_innen, Erscheinungen eines von den Toten auferstanden Jesus zu haben. Später erschien der auferstandene Jesus auch solchen Personen, die ihn zu seinen Lebzeiten nicht gekannt hatten. Zu diesen gehörte Paulus, ein Jude aus Kleinasien. In Damaskus hatte er eine Vision des Auferstandenen, der ihn zum Apostel berief. In dieser Funktion schrieb er eine Reihe von Briefen, die sich auf die Zeit zwischen ca. 45 und 64 datieren lassen. Vermutlich kam Paulus im Jahr 64 bei von Kaiser Nero in Rom initiierten Verfolgungen ums Leben. Die Briefe sind also relativ zeitnahe Quellen über Jesus – nur leider sagen sie so gut wie nichts über dessen Leben und Worte. Das heißt nicht zwangsläufig, dass Paulus nichts über Jesu Leben wusste. Wahrscheinlich ist eher, dass er es für nicht sonderlich wichtig hielt. Ihm kam es vor allem auf die Auferstehung Jesu an. Wenn man sich taufen ließ (so wie Jesus von Johannes dem Täufer), glaubte Paulus, dann partizipierte man auf mystische Weise am Tod und an der Auferstehung Jesu. Wie Jesus von den Toten auferstand, würden dereinst auch alle in seinem Namen Getauften von den Toten auferstehen.

Was immer Paulus dazu dachte, andere frühe Nachfolger_innen Jesu interessierten sich durchaus für sein Leben und seine Worte. Das ist durch die Existenz der Evangelien belegt. Diese beruhen auf mündlich tradierten Überlieferungen, die unter den Jünger_innen Jesu kursierten. Am ältesten ist das Markusevangelium, das um das Jahr 70 herum entstand. Darauf folgt das Matthäusevangelium, das Markus (neben anderen Überlieferungen) als Quelle benutzte, um das Jahr 85 herum, und das ähnlich wie Matthäus aufgebaute Lukasevangelium um 95. Diese drei werden als synoptische Evangelien bezeichnet, weil sie aufgrund ihrer gemeinsamen Quellen große Übereinstimmungen aufweisen. Synopsis bedeutlich wörtlich Zusammenschau, was sich darauf bezieht, dass man die Texte der drei Evangelien nebeneinander legen und parallel lesen kann. Übrigens ist es kaum ein Zufall, dass das erste Evangelium ca. 70 geschrieben wurde: Zu dieser Zeit werden die meisten Jünger_innen, die Jesus noch als Erwachsene gekannt hatten, gestorben sein. Dadurch wurde es notwendig, die Erinnerung an Jesus auf andere Weise zu bewahren. Das Johannesevangelium, das Ende des 1. oder Anfang des 2. Jahrhunderts entstand, unterscheidet sich stark von den anderen drei, auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass es von jemandem geschrieben wurde, der das Markusevangelium kannte. Über die Verfasser_innen der Evangelien ist nichts bekannt. Man weiß nicht einmal, ob sie wirklich die Namen trugen, unter denen ihre Evangelien überliefert wurden. Das Johannesevangelium sagt von sich selbst, dass es auf den Bericht eines Jüngers zurückgehe, den es aber nie namentlich nennt, sondern immer nur als »den Jünger, den Jesus liebte« bezeichnet (warum, wird nicht erklärt). Von einem Autor namens Johannes ist dagegen im Text nicht die Rede. Der Einfachheit halber hat man sich angewöhnt, die unbekannten Verfasser_innen weiterhin Markus, Matthäus, Lukas und Johannes zu nennen. Fast ebensowenig weiß man über die Entstehungsorte der Evangelien. Während Matthäus recht sicher in Syrien lokalisiert werden kann, stehen für Johannes Syrien und Kleinasien als relativ plausible Entstehungsorte zur Auswahl. Im Fall von Markus und Lukas hat noch niemand eine wirklich überzeugende Hypothese über ihre jeweiligen Entstehungsorte aufstellen können.*

Papyrusfragment des Johannesevangeliums (2. Jh.)

An dieser Stelle liegt ein Einwand nahe, der schon früher gegen das Lewis-Trilemma erhoben wurde: Die Evangelien behaupten vielleicht, biographisches Material über Jesus zu enthalten, aber sie widersprechen sich oft gegenseitig und berichten viele unglaubwürdige Dinge, z.B. dass zum Zeitpunkt von Jesu Tod die Erde gebebt habe und die Toten aus den Gräbern aufgestanden und in Jerusalem herumgelaufen seien (Mt 27,51–53). Das lässt darauf schließen, dass die Evangelienberichte eher legendarischen Charakters ohne historischen Wert sein könnten. Lewis hatte auf diesen Einwand eine Antwort parat: »Now, as a literary historian, I am perfectly convinced that whatever else the Gospels are they are not legends. I have read a great deal of legend and I am quite clear that they are not the same sort of thing. They are not artistic enough to be legends.« Hier ist Lewis teilweise zu widersprechen. Die Evangelien enthalten ganz klar legendenhafte Elemente. Wenn bei Matthäus erzählt wird, Jesus sei als Kind den Mordplänen des Königs Herodes entkommen, weil seine Eltern durch einen Engel gewarnt wurden, dann erinnert das an zahllose ähnliche Geschichten, die über Heroen und Heilige erzählt wurden: Mose wurde in einem Schilfkorb im Nil ausgesetzt und von der Tochter des Pharaos gefunden. Perseus wurde mit seiner Mutter Danae in einen Kasten gesperrt und ins Meer geworfen, aber von einem Fischer gerettet (um nur zwei von vielen möglichen Beispielen zu nennen).

Die bibelwissenschaftliche Forschung ist sich heute allerdings einig, dass nicht alles an den Evangelien legendarisch ist. Mit Hilfe historisch-kritischer Methoden lässt sich ein einigermaßen zuverlässiges Bild des historischen Jesus rekonstruieren. Biographische Angaben enthalten die Evangelien, lässt man ihre legendenhaften Anteile beiseite, allerdings nur wenige: Jesus stammte aus Galiläa, einem Landstrich im Norden des heutigen Israel und des Westjordanlandes. Er wurde zum Anhänger Johannes des Täufers. Irgendwann – wahrscheinlich nachdem Johannes das Missfallen von Antipas, dem Fürsten von Galiläa, erregt hatte und hingerichtet worden war – begann Jesus, eigene Jünger_innen um sich zu versammeln und und mit ihnen durch die Lande zu ziehen. Gegen Ende seines Lebens begab Jesus sich anlässlich des Pessachfestes** nach Jerusalem, wo es zu tumultartigen Szenen um seine Person kommt. Jesus wird von den römischen Behörden als Unruhestifter verhaftet, vom Statthalter Pontius Pilatus zum Tode verurteilt und durch Kreuzigung hingerichtet.

Kreuzigung war im Römischen Reich die übliche Strafe für Rebellion, wobei es schon reichte, spontan eine Menschenmenge um sich zu versammeln, um von den Behörden als Aufrührer_in eingeschätzt zu werden. Es war eine Hinrichtungsart, die sich nicht nur ausgesprochen qualvoll gestaltete, sondern auch als entehrend galt. Die Evangelien zeichnen Pilatus als einen milden, zu philosophischen Gedankenspielen neigenden Menschen, der Jesus am liebsten wieder freigelassen hätte und ihn nur auf äußeren Druck hinrichten ließ. Das dürfte kaum den historischen Ereignissen entsprechen, denn aus zeitgenössischen Quellen ist Pilatus als grausamer, korrupter Beamter bekannt, der nicht lange zögerte, gegen ihm unliebsame Personen das Todesurteil auszusprechen. Möglicherweise stellen die Verfasser_innen der Evangelien Pilatus wider besseres Wissen in einem recht günstigen Licht dar, um nicht selber Opfer von Repressionen zu werden.

Charismatische Personen wie Johannes den Täufer und Jesus gab es im Judentum des 1. Jahrhunderts viele. Sie wurden vom einfachen Volk als Prophet, Messias oder von Gott gesandter König angesehen und kanalisierten die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der römischen Herrschaft. Insofern war Jesus keine besonders ungewöhnliche Erscheinung. Zudem dauerte sein öffentliches Wirken wahrscheinlich nur ein bis drei Jahre. Wir wissen nicht, was er während seines restlichen Lebens getan hat, und die Verfasser_innen der Evangelien wussten es wahrscheinlich auch nicht. Der entscheidende Unterschied zwischen Jesus und allen anderen volkstümlichen Propheten- und Messiasgestalten seiner Zeit bestand darin, dass seine Jünger_innen nach seinem Tod Visionen von seiner Auferstehung hatten und ihn deshalb weiterhin verehrten. Dies führte zu einer paradoxen Entwicklung, deren Dauer ich im ersten Teil dieses Blogposts auf etwa 300 Jahre angesetzt habe: Aus einem kleinen Personenkreis, der einen von der Welthauptstadt Rom als Verbrecher hingerichteten Menschen verehrte, wurde die offizielle Religion des Römischen Reiches und schließlich die größte Weltreligion. Dass das Resultat dieser Entwicklung nur noch wenig mit ihrem Ausgangspunkt zu tun hat, versteht sich von selbst.

Die Evangelien schreiben Jesus während seines öffentlichen Wirkens vor allem zwei Tätigkeiten zu: Einerseits lehrte er, andererseits heilte er und vollbrachte Wunder. Jesu Lehre lässt sich vor allem anhand des ältesten Evangeliums, dem von Markus, rekonstruieren. Darin wird die Botschaft Jesu auf folgende Weise zusammengefasst: »Der Augenblick ist gekommen, die Zeit erfüllt. Die Gottesherrschaft ist nahe gekommen! Kehrt um und vertraut dem Evangelium!« (Mk 1,15) Der Ausdruck »Gottesherrschaft« lässt sich so verstehen, dass Jesus erwartete, Gott werde irgendwann in naher Zukunft die Verhältnisse der Welt grundlegend verändern. Auf diese Botschaft (das Wort Evangelium bedeutet gute Botschaft) sollten die Menschen reagieren, indem sie von ihrer bisherigen Lebenspraxis Abstand abließen und neue soziale Beziehungen aufbauten. Diese neuen Beziehungen stellte Jesus sich so vor: »Ihr wisst: Die als Herrscher über die Völker gelten, herrschen mit Gewalt über sie, und ihre Anführer missbrauchen ihre Amtsgewalt gegen sie. Bei euch soll es nicht so sein! Wer bei euch hoch angesehen und mächtig sein will, soll euch dienen, und wer an erster Stelle stehen will, soll allen wie ein Sklave oder eine Sklavin zu Diensten stehen.« (Mk 10,42–44) In der antiken Folklore gab es den beliebten Topos des mundus inversus, der verkehrten Welt, in der alle Dinge dem Normalzustand genau entgegenstehen. Dieser Topos findet sich an verschiedenen Stellen in den Evangelien, auch in den legendenhaften Episoden: Im Lukasevangelium singt Maria, nachdem sie von dem Engel Gabriel erfahren hat, dass sie mit Jesus schwanger ist (Lk 1,47–53):
Mein Geist jubelt über Gott, der mich gerettet hat.
Er hat auf die Erniedrigung seiner Sklavin geschaut. [...]
Er hat Gewaltiges bewirkt.
Mit seinem Arm hat er die auseinander getrieben,
die ihr Herz darauf gerichtet haben,
sich über andere zu erheben.
Er hat Mächtige von den Thronen gestürzt und
Erniedrigte erhöht,
Hungernde hat er mit Gutem gefüllt
und Reiche leer weggeschickt.
Man muss bedenken, dass in der Antike 90 % der Bevölkerung entweder in der Sklaverei lebten oder bettelarm waren. Die ersten Jünger_innen Jesu dürften sich aus diesen Armen rekrutiert haben. Die Vorstellung einer Welt, in der Sklav_innen Ansehen genießen, Mächtige von den Thronen gestürzt werden, Hungernde satt werden und Reiche leer ausgehen, übte deshalb eine beträchtliche Anziehungskraft auf sie aus. Die kommende »Gottesherrschaft«, die Jesus verkündete, kann man sich also als eine Art mundus inversus vorstellen. Wenn Jesus sagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt, dann meint er wahrscheinlich genau das: Das Reich, das Jesus im Sinn hatte, stand im Widerspruch zu den in der Welt herrschenden Verhältnissen.

Über diese Botschaft hinaus scheint Jesus als religiöser Lehrer aufgetreten zu sein, der vor allem in einprägsamen Parabeln, Sinnsprüchen und Maximen sprach. Diese leicht memorierbare Redeweise war insofern sinnvoll, als die meisten Menschen nicht lesen und schreiben konnten. Entsprechend geben die Evangelien keine Hinweise darauf, dass Jesus seine Lehre aufgeschrieben haben könnte. Möglicherweise konnte auch er nicht schreiben. Jesu Tätigkeit als Heiler und Wundertäter scheint mit der Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft in engem Zusammenhang gestanden zu haben. Im Matthäusevangelium wird Jesus einmal die Frage gestellt, woran man denn erkennen könne, ob das Reich Gottes wirklich komme. Jesus antwortet: »Blinde sehen, Gelähmte gehen umher, Leprakranke werden rein und taube Menschen können hören. Tote werden aufgeweckt und die Armen bringen das Evangelium.« (Mt 11,5) Die Heilungen sind also materiale Zeichen der kommenden Gottesherrschaft. Auffällig ist an dieser Stelle, dass Jesus das Heilen und das Verkünden der Botschaft nicht auf seine Person beschränkt. Offenbar war er der Ansicht, was er tue, könnten auch andere tun.

Dass Jesus Krankheiten heilte (und sogar Tote auferstehen ließ), wird in den Evangelien nirgendwo in Frage gestellt. Kontrovers ist eher, wie er das machte. Es wird von Leuten berichtet, die Jesus misstrauten und ihm vorwarfen, er beziehe seine Wunderkräfte von einem Dämon: »Er trägt Beëlzebul*** in sich und durch das Oberhaupt der Dämonen befreit er von Dämonen.« (Mk 2,22) Meist wird erzählt, dass Jesus durch Worte oder Berührungen heilte. Manchmal scheint Jesus sich aber auch magischer Praktiken bedient zu haben:
Da brachten sie ihm einen Menschen, der taub war und nur mit Mühe sprechen konnte. [...] Jesus nahm ihn beiseite, weg von der Menschenmenge, drückte seine Finger in seine Ohren und berührte seine Zunge mit Spucke. Dann schaute er in den Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: »Ephata«, das heißt: »Öffne dich!« Sofort wurden ihm die Ohren geöffnet, die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete verständlich. Jesus gab ihm die Anweisung, niemandem davon zu erzählen. (Mk 7,32–36)
Sie brachten einen Blinden zu Jesus und baten ihn, dass er ihn berühre. Da nahm er die Hand des Blinden, führte ihn aus dem Dorf heraus und spuckte in seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: »Siehst du etwas?« Er sah auf und sagte: »Ich sehe die Menschen; sie sehen aus wie Bäume, die umhergehen.« Da legte Jesus die Hände noch einmal auf seine Augen. Jetzt konnte er richtig sehen und war geheilt. Schon von weitem sah er alles deutlich. (Mk 8,22–25)
Wie genau Jesus sich seine eigene Rolle gedacht hat, ist kaum mehr zu rekonstruieren. Sicher ist, dass die Leute alle möglichen Erwartungen an ihn herantrugen. In einer aufschlussreichen Szene fragt Jesus seine Jünger_innen: »Für wen halten mich die Leute?« Die Jünger_innen antworten, Jesus werde von den einen für Johannes den Täufer gehalten, von anderen für den wiedergekehrten Propheten Elija, oder auch für einen neuen Propheten. Daraufhin bemerkt der Jünger Petrus, er selber halte Jesus für den Messias. Jesus widerspricht ihm nicht, weist ihn aber an, mit niemandem darüber zu sprechen. Vielleicht glaubte Jesus wirklich, dass er der Messias war, hielt dies aber für weniger wichtig als die Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft.

Der Messias war in der Vorstellungswelt des Judentums im 1. Jahrhundert ein von Gott gesandter König (manchmal auch ein Hoherpriester), der über ein irdisches Reich der Gerechtigkeit herrschen würde. Der Titel Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes Messias, das Gesalbter bedeutet. Im Christentum ist es üblich geworden, den Messias- oder Christustitel als Ausdruck für die Göttlichkeit Jesu zu sehen. Das entspricht aber nicht der jüdischen Sichtweise, für die der Messias vor allem ein Mensch ist, allerdings einer mit göttlichem Auftrag. Wenn Jesus sich als Messias sah, dann bedeutete das vielleicht, dass er glaubte, er werde im kommenden Reich Gottes (sozusagen stellvertretend für Gott selbst) König sein. Im Verhör wird Jesus von Pilatus gefragt, ob er der König des jüdischen Volkes sei (Mk 14,2). Dass er sich als König des jüdischen Volkes bezeichnet habe, wird auch als Grund für die Hinrichtung Jesu angegeben (Mk 15,26). Historisch ist das plausibel, denn Pilatus hätte es als Infragestellung der römischen Herrschaft angesehen, wenn jemand wie Jesus sich als König ausgegeben hätte – obwohl ihm natürlich klar gewesen sein muss, dass Jesus kein König im herkömmlichen Sinne sein konnte.

Jesus selbst wird das kaum anders gesehen haben, denn immerhin bezeichnete er die Könige der Welt laut Markusevangelium als Gewaltherrscher. Das Matthäusevangelium legt Jesus eine spöttische Rede in den Mund:
Was wolltet ihr euch in der Wüste ansehen, als ihr hinausgewandert seid? Ein Schilfrohr, das im Wind hin und her schwankt? Also, was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgewandert seid? Einen Menschen in Luxuskleidung? Seht, die Leute, die Luxuskleidung tragen, wohnen in Königspalästen. (Mt 11,7f.)
Mit dem im Wind schwankenden Schilfrohr bzw. dem Menschen in Luxuskleidung ist Antipas, der Fürst von Galiläa, gemeint, der Münzen mit dem Bild eines Schilfrohrs darauf prägen ließ. Damit gibt Jesus zu verstehen, dass dort, wo er sich befindet, keine Luxuskleidung und keine Paläste zu erwarten sind. Das ist nur realistisch, denn wie die meisten Menschen seiner Zeit dürfte Jesus Paläste und Luxuskleidung höchstens von außen bzw. von weitem gesehen haben.

Möglich ist also sowohl, dass seine Anhänger_innen Jesus den Titel eines messianischen Königs zulegten, als auch, dass er selbst sich als Messias und baldiger König einer von Gott veränderten Welt sah. Für einen römischen Amtsträger wie Pontius Pilatus wäre das eine wie das andere Grund genug gewesen, Jesus schmählich hinrichten zu lassen. Gelegentlich wird daraus der Schluss gezogen, Jesus habe einen bewaffneten Umsturz gegen die römische Herrschaft anführen wollen. Das behauptete der Historiker Joel Carmichael in seinem Buch Leben und Tod des Jesus von Nazareth in den sechziger Jahren. Jedoch erwähnen die zeitgenössischen Quellen keinen solchen Aufstand. Ohnehin beruht Carmichaels Hypothese auf der impliziten Vorstellung, Religion und Politik seien in der Antike voneinander getrennt gewesen, wie es in modernen Nationalstaaten der Fall ist: Damit das Römische Reich einen Grund gehabt habe, Jesus hinzurichten, könne er nicht bloß ein religiöser Lehrer gewesen sein, sondern müsse mit Waffengewalt die Autorität Roms bedroht haben. Die zeitgenössischen Quellen zeichnen allerdings ein anderes Bild. Wenn die römischen Behörden irgendwo einen Unruheherd witterten, dann zögerten sie nicht lang, sondern schlugen mit brutaler Gewalt zu, und zwar meistens gegen Unbewaffnete.

Die Tatsache, dass Religion und Politik in der Antike keine getrennten Sphären waren, verbietet übrigens auch die gegenteilige Annahme, dass Jesus eine weltabgewandte Seele gewesen sei, die allein die spirituelle Erneuerung von Menschen im Sinn gehabt habe. Das wäre ebenso anachronistisch. Am ehesten kann man Jesus als eine Art folk hero sehen, der mit seinen Wunderkräften und seiner Botschaft vom mundus inversus tief in den Vorstellungen und Sehnsüchten der einfachen Menschen seiner Zeit verankert war.

Ich habe versucht, in groben Zügen ein Bild von Jesus auf historischer Grundlage zu zeichnen. Wenn dieses Bild zutrifft, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass der historische Jesus sich selber für einen Gott in Menschengestalt hielt.

* Neben den vier Evangelien des Neuen Testaments gibt es natürlich noch zahlreiche weitere, sogenannte apokryphe Evangelien. Diese sind wichtige Dokumente des frühen Christentums, sagen über den historischen Jesus aber nichts aus, weil sie sämtlich Jahrhunderte nach Jesu Leben entstanden sind.
** Pessach ist ein jährlich gefeiertes Wallfahrtsfest, das an den Exodus, die Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei, erinnert.
*** Beëlzebul bedeutet »Herr des Misthaufens« und ist ein Spottname für den Gott Baal, der im Laufe der Zeit zum Dämon herabgesunken war.

Bildquelle: Wikimedia Commons

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.