Dienstag, 5. August 2014

Torture Porn: Merkmale eines Genres

In »Torture Porn – ein Nachfahre des Splatterfilms?« habe ich versucht, das Torture-Genre vom klassischen Splatterfilm abzugrenzen. In »Torture Porn und Exploitation-Kino« habe ich kritische Einwände gegen die verbreitete These formuliert, das Torture-Genre sei filmhistorisch aus den Exploitation-Genres der 70er Jahre (wie dem Kannibalenfilm und dem Rape-and-Revenge-Film) herzuleiten. In beiden Texten habe ich dafür argumentiert, Torture Porn nicht als eine Fortsetzung älterer Genres, wie Kannibalenfilm und Splatterfilm, anzusehen, sondern als ein neues, eigenständiges Genre.

Nach einem zeitgeschichtlichen Kontext für die Entstehung dieses neuen Genres braucht man nicht lang zu suchen. Meines Wissens wird die Bezeichnung Torture Porn seit den nuller Jahren auf Filme angewendet. Über Folter im Gefangenenlager Guantanamo wird seit 2004 diskutiert. Im selben Jahr kam es zum Skandal von Abu Ghraib, als die dortige Folterpraxis der Öffentlichkeit bekannt wurde. Bereits zuvor, seit dem Jahr 2002, wurde Ähnliches über das US-Militärgefängnis Bagram in Afghanistan berichtet. Ende 2002 wiederum kam es in Deutschland zu einer öffentlichen Debatte, weil der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner den Entführer und Mörder Magnus Gäfgen mit Folter bedrohen ließ. Praxis und Diskussion von Folter ging also Anfang der 2000er von den beiden Bereichen aus, die im bürgerlichen Staatensystem als Orte legaler Gewaltanwendung gelten – zwischenstaatliche, militärische Konflikte und die innerstaatliche Durchsetzung des Rechts durch die Polizei. Es wäre verwunderlich, hätte sich diese Wahrnehmung von Folter (die sich ja keineswegs hinter verschlossenen Türen abspielte, sondern vor den Augen der Weltöffentlichkeit) nicht auch in irgendeiner Weise in der Populärkultur niedergeschlagen. Das Torture-Genre ist nicht mal das einzige Beispiel dafür. Folter war Mitte der nuller Jahre auch in Spionagethrillern wie Syriana ein Thema.

Was sind nun die Merkmale des Genres Torture Porn? Verbreitet ist die Behauptung, in Torture-Filmen sei Gewalt reiner Selbstzweck, die Darstellung von Schmerz und Leid für ein voyeuristisches Publikum. Diese Position wird z.B. von Stefan Geil vertreten, dessen ziemlich unsinnige Ausführungen die Grundlage des deutschsprachigen Wikipedia-Artikels zum Thema bilden. Der Ansicht von Geil und anderen wird von Praktiker_innen des Genres heftig widersprochen. So meint Darren Lynn Bousman, der bei mehreren Saw-Filmen Regie führte, dass Torture-Filme sich durch eine moralische Botschaft auszeichneten, die durch die Gewaltszenen lediglich illustriert werde. Ich bin geneigt, Bousman zuzustimmen. Die Killer der Torture-Filme sind ausgesprochen mitteilungsbedürftig. Es geht ihnen darum, ihren Opfern eine moralische Lektion zu erteilen und sie darüber aufzuklären, warum sie leiden müssen. Das unterscheidet sie fundamental von den Killern der klassischen Slasherfilme, die entweder schweigend (Michael Myers) oder Witze reißend (Freddy Krueger) zu Werke gingen. Die Killer des Torture-Genres haben dagegen ein Evangelium zu verkünden.

Den Inhalt dieses Evangeliums fasst Thomas Fahy so zusammen: »These recently incredibly popular ›Saw‹ movies—all 5,000 of them—are killers with moralistic agendas. They are out torturing people that they feel embody sinfulness because we live in a society so corrupt and so infused by criminality and violence that we’re apathetic, and then they use extreme violence as part of their message.« Das trifft nicht erst auf die Saw-Reihe (2004–10) zu. Schon der Killer in David Finchers Se7en (1995) inszeniert mit seinen Morden die sieben Todsünden (eigentlich die sieben Hauptlaster), um die Menschen auf ihre Verderbtheit aufmerksam zu machen. In Joel Schumachers Phone Booth (2002) nimmt der Killer die Rolle eines Beichtvaters ein, der sein Opfer so lange quält, bis es bereit ist, seine Verfehlungen öffentlich zu gestehen. Das wäre also ein erstes genredefinierendes Merkmal: Im Torture Porn ist Folter ein Erlösungswerk. Menschen werden extremer Gewalt ausgesetzt, um sie von ihrer Sündhaftigkeit zu befreien und moralisch zu bessern. Man könnte auch sagen: In der Folter liegt die Transzendenz.

Zugleich wird deutlich, dass dahinter ein bestimmtes Gesellschaftsbild steht: Die Gesellschaft wird als verdorben angesehen, und um sie zu reinigen, bedarf es der Entfernung der sündigen Individuen aus ihrer Mitte. Dieses Gesellschaftsbild ist keineswegs nur das ideologische Phantasma eines Horrorfilmgenres, sondern durchaus historisch wirksam. Ein Beispiel liefert die letzte argentinische Militärdiktatur (1976–83): In dieser Zeit wurden zehntausende Menschen durch Streitkräfte, Polizei und Geheimdienste entführt und in Konzentrationslagern gefangen gehalten. Dort wurden sie mit Elektroschocks gefoltert und am Ende meist betäubt, in Flugzeuge verladen und lebendig über dem Atlantik abgeworfen. Schwangere Frauen ließ man entbinden, bevor man sie ermordete. Die Kinder erhielten neue Identitäten und wurden Militärfamilien übergeben. Die Junta bezeichnete dies als »Prozess der Nationalen Reorganisation«. In der Tat handelt es sich um ein großangelegtes Erziehungsprojekt zur moralischen Läuterung der Nation, wobei Folter und Mord das Mittel abgaben. Das Juntamitglied Emilio Massera diagnostizierte eine »Krise der Menschheit«, die er auf die »jüdischen Wissenschaften« Marxismus, Psychoanalyse und Relativitätstheorie zurückführte. Marx habe die Eigentumsordnung der Gesellschaft untergraben, Freud die »geheiligte Intimsphäre des Menschen« entweiht und Einstein schließlich die Vorstellung von der Stabilität der Materie in Zweifel gezogen. Zur Behebung dieser Krise befahlen Massera und die anderen Juntamitglieder die Ermordung all jener »subversiven« Elemente, die an dem von Marx, Freud und Einstein begonnenen Zersetzungswerk teilhätten. Rechtsgerichtete Kreise in der katholischen Kirche gaben dem Vorhaben ihren Segen. Lediglich die Kinder der »Subversiven« ließ man am Leben, um sie in einer nunmehr gereinigten sozialen Umgebung aufwachsen zu lassen.

Nimmt man den Anspruch der Torture-Filme, eine moralische Botschaft zu verkünden, ernst (und warum nicht, denn die Filme zeichnen sich durch eine gravitätische Ernsthaftigkeit aus), dann lässt sich schwerlich behaupten, ihre Gewaltdarstellung sei Selbstzweck. Dies ließe sich viel eher vom Splatterfilm behaupten. Die Probe aufs Exempel ist schnell gemacht: Nähme man etwa aus Herschell Gordon Lewis’ Blood Feast (1963), der gemeinhin als erster Splatterfilm gilt, die Gewaltszenen heraus, bliebe nicht viel übrig. Die Gewalt ist hier nicht Illustration einer Botschaft, wie Bousman für das Torture-Genre beansprucht, sondern die Substanz des Films selbst. Sie dient der Erheiterung des Publikums. Splatter mit seinen heraushängenden Eingeweiden und herumfliegenden Körperteilen ist schlicht und einfach Ekelhumor, der einer Ästhetik des Grotesken folgt. Darauf aufbauend wird das Splatter-Genre manchmal (etwa in den Filmen George A. Romeros) zur Gesellschaftssatire. Grotesker Humor und satirischer Spott sind aber etwas völlig anderes als die moralisierenden Botschaften des Torture Porn. Der Unterschied ist fundamental: Splatter ist ein komisches Genre, Torture Porn ein tragisches.

Ziel des Tragischen ist die Katharsis, die Läuterung des Publikums. Sie geschieht, indem das Publikum sich mit dem tragischen Helden identifiziert und sich von seinem Leiden berühren lässt. Aber wer bietet sich im Torture-Film zur Identifikation an? In jedem ordentlichen Slasherfilm geht vom Killer zwar eine starke Faszination aus, am Ende freut man sich aber darüber, dass er vom Final Girl zur Strecke gebracht wird. Die Rollen sind also klar verteilt. Anders ist es im Torture-Genre. Die Opfer erregen trotz der unaussprechlichen Qualen, die sie erleiden, nicht wirklich Mitleid. Oft handelt es sich um Charaktere, die unter einer Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit verlogen und egoistisch sind. Eben darum werden sie gefoltert – ihre unangenehmen Eigenschaften sollen ans Licht gebracht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Eigenschaften wirklich von Anfang an da waren oder ein Produkt der Folter sind. Folter ist Gleichmacherei. Sie zielt darauf ab, noch die integerste Person dazu zu bringen, sich selbst und ihre Mitmenschen zu denunzieren. Unter Folter verlieren Menschen ihre Individualität. Doch auch der Killer bleibt merkwürdig gesichtslos. Er kommuniziert seine Botschaft meist nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern verschickt indirekte Botschaften (oft sind die verstümmelten Leichen der Opfer selbst die Botschaft). Ist er erst einmal seiner Masken und seiner ausgeklügelten Marterwerkzeuge beraubt, wirkt er unauffällig, fast austauschbar. Und doch lernt das Publikum ihn meist besser kennen als die Opfer, weil es seine Beweggründe erfährt.

Dies führt zu einem zweiten genredefinierenden Merkmal: Torture-Filme verwischen den Unterschied zwischen Täter und Opfer. Der Täter teilt seine Beweggründe mit, und er foltert seine Opfer, damit auch sie seine Beweggründe verinnerlichen – entweder, indem sie durch ihren qualvollen Tod zur Botschaft des Täters werden, oder weil sie das Spiel des Täters aktiv mitzuspielen beginnen. Dazu passt ein Zitat von Will Self (das eigentlich aus einem anderen Kontext stammt, aber zur Charakterisierung des Torture Porn oft herangezogen wird):
Wir verlieren den Sinn dafür, welchen Standpunkt wir einnehmen. Des Sadisten, der foltert? Des Polizisten? Des unbeteiligten Komplizen? Es ist dieses Schwanken im Standpunkt, welches dem Zuschauer den ›Schwarzen Peter‹ der Mitschuld zuschiebt. Denn in einer solchen Situation gibt der Autor die moralische Verantwortung für das, was auf der Leinwand geschieht an den Zuschauer ab – oder schiebt sie ihm eher unter.*
Das erinnert auf den ersten Blick an das Epische Theater, das dem Publikum die Aufgabe zuweist, eine moralische Position zum Geschehen auf der Bühne zu entwickeln. Beim Epischen Theater geschieht dies allerdings durch den distanzierenden Verfremdungseffekt, der eine vorschnelle Identifikation mit den Figuren auf der Bühne verhindern soll. Torture Porn hingegen behält das tragisch-kathartische Schema bei, das das Publikum zur Identifikation mit dem dargestellten Geschehen zwingt.

Aber mit wem sich identifizieren? Folterer und Gefolterte sind sich nicht mehr ausreichend unterscheidbar. Eine klare Positionierung ist unmöglich. Das Genre trägt seinen Namen zu recht, denn hier tut sich eine Parallele zum Pornofilm auf, insbesondere zu den Gangbang- und Gonzo-Subgenres, in denen Identifikation nicht mit einer einzelnen Figur, sondern mit dem orgiastischen Vorgang erwünscht ist. Indem der Torture-Film die Identifikation mit den Figuren erzwingt und zugleich verunmöglicht, verweigert er eine Antwort, lässt aber auch keine Fragen offen. So bleibt letztlich zur Identifikation nur – die Folter selbst.

Natürlich beruht diese Definition vor allem darauf, die selbstformulierten Ansprüche des Genres ernstzunehmen und sie auf ihre Voraussetzungen zu befragen. Zum Glück gibt es kaum Anzeichen dafür, dass das Publikum diese Ansprüche ebenfalls ernst nimmt und in den Torture-Filmen etwas anderes als eine neue Generation von B-Movies zu sehen bereit ist.

* Zitiert nach Wikipedia.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.