Dienstag, 8. Juli 2014

Lest alte Fantasy: Der Zauberlehrling

Anfang 2012, wenige Monate nach dem Auffliegen des NSU, schrieb Fritz J. Raddatz einen Artikel für die Literarische Welt, in dem er den ›tiefen Staat‹ der Deutschen anprangert, den es in der Weimarer Republik gab und heute in der Berliner Republik gibt:
Es ist der Hass, den Heinrich Heine zeitlebens erfuhr; es ist der Hass, mit dem blutrünstige Offiziere Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordeten, den Publizisten Maximilian Harden halbtot schlugen; es ist der Hass, mit dem von Rittergutsbesitzern finanzierte Horden mordend durchs Land zogen, von einer Justiz unbehelligt die kriminelle Vereinigung »Organisation Consul« gründen und betreiben konnten; es ist eben jener Hass, mit dem anno 2011 Mordbuben – wieder von staatlichen Organen unbehelligt, geduldet, wenn nicht gar unterstützt – sich »Zwickauer Zelle« nennen durften, Brettspiele bastelnd, auf denen Juden ins KZ geschickt werden ...
Was Raddatz umtreibt, ist die Frage nach der Rolle der Intellektuellen in diesem mörderischen deutschen Schlamassel. Was haben sie dem faschistischen Hass entgegenzusetzen? Zornig bezeichnet Raddatz es als »Geschichtsklitterer-Quark«, wenn behauptet wird (wie Klaus Harpprecht und Golo Mann es getan haben), dass die demokratische Intelligenz der Weimarer Republik versagt habe. Und er holt zu einem Gegenschlag aus, dessen Stoßrichtung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Es seien allein die marxistischen Intellektuellen gewesen, die dem Aufstieg des Nazismus verwirrt oder sprachlos entgegen gesehen hätten. Walter Benjamins »Fehlurteile [würden] ein Glossar füllen«, und Bert Brecht habe sich in dieser Zeit, in der so viel auf dem Spiel stand, lediglich dafür interessiert, Texte von Hegel, Marx und Lenin zu diskutieren. Der Gruppe der »Ballonmützen-Wüteriche«, der »Rot-Front-Kämpfer in verschwitzter Arbeiterbluse« stellt Raddatz als leuchtendes Beispiel die bürgerlichen Linken gegenüber. Diese allein hätten früh ihre Stimme erhoben und unermüdlich vor dem kommenden Unheil gewarnt. Kästner, Tucholsky & Co. sind in Raddatz’ Augen die vorbildlichen engagierten Intellektuellen, deren Stimmen man »analytisch, warnend, manchmal gar prophetisch hören sollte«.

Es ist kein Zufall, dass er sich in diesem Zusammenhang ablehnend über Benjamin auslässt. Denn es sind ja gerade die von Raddatz so gelobten linksliberalen, bürgerlichen Autor_innen, (deren künstlerische Strömung um 1930 herum die Neue Sachlichkeit darstellte), denen Benjamin »linke Melancholie« attestierte. Ihr literarischer Aktivismus habe »mehr von Blähungen als vom Umsturz«, höhnte Benjamin in einer Kästner-Rezension. Nun finde ich durchaus, dass Benjamins Kritik der Neuen Sachlichkeit zu pauschal ausgefallen ist. Ossietzky und andere taten alles in ihrer Macht stehende, und sie bezahlten dafür mit Isolation, Verfolgung und oft auch mit ihrem Leben. Aber es ist leider nur allzu wahr, dass die linksliberalen Intellektuellen sich gegen Ende der Weimarer Zeit in einer Art Schockstarre befanden und teilweise wie hypnotisiert waren von dem Grauen, das auf sie zu kam. Niemand hat ihr Dilemma passender in Worte gefasst als Erich Kästner, als er über Tucholsky schrieb, er habe »mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten« wollen.

Raddatz hat recht, wenn er Parallelen zwischen den rechten Todesschwadronen der 20er Jahre und dem NSU sieht. Er hat zehnmal recht, wenn er die Behauptung, die Weimarer Republik sei an ihren Intellektuellen zugrunde gegangen, als Geschichtsklitterei bezeichnet. Die bürgerliche Demokratie in Deutschland wurde durch reaktionäre Eliten und eine auf dem rechten Auge blinde Justiz zerstört, die schon 1930 den Parlamentarismus ausgehebelt und durch ein autoritäres, antidemokratisches Präsidialregime ersetzt hatten, so dass im Grunde die Nazis bereits herrschten, bevor sie die Macht übernommen hatten. Keine noch so engagierten Intellektuellen mit Schreibmaschinen hätten sie aufhalten können. Die Nazis an der Machtübernahme zu hindern, dazu hätte es nicht weniger, sondern mehr Ballonmützen-Wüteriche, mehr Rotfront gebraucht – solche allerdings, die sich nicht unrettbar in stalinistische Intrigen, erschütternd falsche Faschismusanalysen oder sozialdemokratische Halbherzigkeiten verstrickt hätten. Und solche gab es nicht, weshalb auch niemand die Katastrophe aufhielt.

Erich Kästner war einer der wenigen neusachlichen Schriftsteller, die nicht fliehen mussten oder den Tod im KZ erlitten. Er blieb während der Naziherrschaft in Deutschland, als »Kulturbolschewist« geschmäht und mit Publikationsverbot belegt. Er gehörte definitiv nicht zu denen (die »Ofenhocker des Unglücks«, wie Thomas Mann sie nannte), die ihr apolitisches Duckmäusertum nach ’45 mit dem Euphemismus der Inneren Emigration belegten und laut darüber jammerten, dass die Emigrant_innen es doch viel einfacher gehabt hätten als die im Lande Gebliebenen. Repressionen bekam Kästner in Form von Bücherverbrennung und Gestapo-Verhör leibhaftig zu spüren. Und doch kann man sagen, dass er zwischen ’33 und ’45 ganz im Sinne des NS-Machtapparats funktionierte. Er schrieb viel, veröffentlichte regelmäßig unter Pseudonym und lieferte Drehbücher für die Ufa-Blockbuster, die während des Krieges für Heile-Welt-Stimmung im zunehmend verzweifelten Herrenmenschenreich sorgen sollten.*

Es fällt manchmal schwer, sich vorzustellen, welche Lebensformen unter der deutschen Diktatur möglich waren. Was war Kästner – Verfemter oder Angepasster? Sicher scheint mir zu sein, dass er in einer Art eisiger, lebensfeindlicher Einsamkeit existierte. 1940 schrieb er zwei »Briefe an mich selber«, wobei er betonte, dass es sich nicht um eine literarische Fiktion handelte, sondern tatsächlich um versiegelte, frankierte und abgeschickte Briefe, die der Autor an sich selber schickte. Darin fragt sich Kästner, wie es kommen konnte, dass er sich selber fremd geworden sei. Seine Antwortversuche klingen eher beschwörend als überzeugt. Vollends unheimlich wird es im Fragment »Die Doppelgänger«, das mit einem Suizidversuch des Protagonisten Karl beginnt. Der wird in letzter Minute vom Selbstmord abgehalten, und zwar durch einen Engel, der Karl den Auftrag erteilt, sich auf die Suche nach seinem Doppelgänger zu machen (da bricht das Fragment auch schon ab). Neben der Einsamkeit scheint das Doppelgängermotiv in Kästners Versuchen, während der NS-Zeit Prosa für Erwachsene zu schreiben, beherrschend gewesen zu sein. Briefe, »Die Doppelgänger« und der unvollendete Roman Der Zauberlehrling erschienen 1969 bei Atrium in einem Band. So weit ich weiß, war es Kästners letzte Buchveröffentlichung, die noch zu seinen Lebzeiten erfolgte.

Der Zauberlehrling spielt hauptsächlich im verschneiten Davos, in dem allerdings kein Welttheater im Sanatorium mehr gespielt wird, sondern eher ein phantastisch-komisches Verwirrspiel. In einem von Wintersport, Tourismus und Parties geprägten Ort treffen ein Scharlatan, ein entthronter Gott, eine junge Schriftstellerin und verschiedene enttäuschte Liebende aufeinander. Im Mittelpunkt steht der junge Kunstgelehrte Mintzlaff, der auf dem Weg nach Davos auf einen Reisenden trifft, der über die Fähigkeit des Gedankenlesens und andere mysteriöse Kräfte verfügt. Baron Lamotte, wie der Fremde sich vorstellt, geht mit Mintzlaff einen Pakt ein: Er wird Mintzlaff erst in Ruhe lassen, wenn er seinen, des Barons, wahren Namen herausfindet. Lamotte (den wahren Namen verrate ich hier natürlich nicht) ist also eine Mischung aus Mephisto und Rumpelstilzchen – und doch keins von beiden. Eines jedenfalls stellt er unmissverständlich klar: »Kommen Sie mir jedoch nicht mit der Gattung ›Übermensch‹! Ich bin kein Mensch, kein Un- und kein Übermensch. Behalten Sie das tunlichst im Auge!«

Auch Mintzlaff ist kein faustischer Tatmensch. Er ist sich seiner selbst zutiefst unsicher und leidet eher passiv, statt die Initiative zu ergreifen. Der Pakt mit dem Baron schreckt ihn aus seiner falschen Ruhe auf. Lamotte blickt ihm in die verstörte Seele:
»Sie haben die letzten zehn Jahre Ihres bisherigen Lebens sorgfältig darauf verwendet, Ihr wahres Wesen zugrunde zu richten.« Die Stimme des Barons klang ernst. »Ihre Energie ist bewundernswert. Sie wollten sich erziehen. Und Sie haben sich erzogen! Sie waren einmal ein empfindsamer Mensch und konnten lieben. Wenn anderen Leid widerfuhr, litten Sie mit ihnen. Sie halfen, ob man sie gerufen hatte oder nicht. Sie hatten keine Angst, sich selber zu verlieren. Damals hatten Sie noch Gefühl im Leibe und spürten, daß man nicht ärmer wird, wenn man sich verschenkt.«
Der so gar nicht faustische Pakt mit Lamotte ist genau das, was der in seiner Menschlichkeit beschädigte Mintzlaff braucht. In diesem Pakt geht es nicht darum, die Seele aufs Spiel zu setzen. Mintzlaff hat seine Seele bereits verloren, und nun erhält er die Chance, sie zurückzugewinnen. Ob Kästner in seinem Leben jemals eine solche Chance sah?

Der Zauberlehrling hätte der Roman der Inneren Emigration werden können, wie Fabian der Roman der späten Weimarer Republik war. Es erscheint mir durchaus angemessen, dass Kästner dazu die Form der phantastischen Erzählung wählte, wie er für Fabian die Form des realistischen Stadtromans wählte. Was sich zwischen ’33 und ’45 in Deutschland ereignete, übersteigt die Ausdrucksmöglichkeiten des formalen Realismus.** Vielleicht musste Kästner damit scheitern, wie zuvor die Neue Sachlichkeit in ihrer Verteidigung der bürgerlichen Republik gescheitert war. Dennoch: Es gilt, den phantastischen Erzähler Kästner wiederzuentdecken.

P.S.: Ich will in Zukunft noch mehr »Lest alte Fantasy!«-Posts schreiben. Meist wird es um Werke gehen, die herkömmlicherweise nicht als Fantasy bezeichnet werden – weil sie zu alt oder zu hochliterarisch sind. Aber von solchen Skrupeln werde ich mich natürlich nicht beeinflussen lassen.

* Unter anderem arbeitete er am Drehbuch von Münchhausen (1943) mit, dem ultimativen deutschen Fantasyfilm der NS-Ära.
** Auch Ernst Jünger, selber Faschist, stellte die NS-Zeit in der Form eines phantastischen Romans dar: Auf den Marmorklippen (1939).

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.