Donnerstag, 24. April 2014

Pirinçci: Holdrio, holdria!

Vergangenen Herbst fasste Alan Posener die Strategie der Neuen Rechten, jener »spätpubertären Kämpfer wider die politische Korrektheit«, so zusammen:
Wie räche ich mich an meinen linken Eltern? Ich finde alles toll, was die blöd fanden, ätsch. Das Muster hat Jan Fleischhauer vorgegeben. [...] Bekanntlich ist der Ruf als Querdenker und Tabubrecher der sicherste Weg in die Talkshows der Republik und von da in die Bestsellerlisten. Immer mit dem leicht beleidigten Gesicht des verzogenen Kindes, das es den Eltern erst recht übel nimmt, wenn sie ihm nachgeben.
Die Neue Rechte ist in mehr als einer Hinsicht das illegitime Kind der Neuen Linken. Man sagt den Vertreter_innen der Neuen Rechten ja gern nach, sie hätten Gramsci gelesen und von dem italienischen Marxisten das Konzept der kulturellen Hegemonie übernommen. Mit kultureller Hegemonie ist gemeint, dass mit Hilfe von Medien, Bildungsinstitutionen und anderen Organen der Zivilgesellschaft ein »Konsens der Regierten« erzeugt wird, der diese glauben lässt, ihre Interessen stimmten mit den Interessen der Herrschenden überein. Nun sieht sich die Neue Rechte nicht in einer Herrschaftsposition. Sie eint vielmehr die Überzeugung, mit dem Rücken zur Wand zu stehen und einen verzweifelten Abwehrkampf gegen die übermächtige Diktatur der Gutmenschen zu führen, in der Political Correctness, Gender Mainstreaming und Multikulturalismus als ungeschriebene Gesetze gelten – bis sie, nachdem alle Masken gefallen sind, durch die Scharia ersetzt werden. Man könnte also sagen, dass es der Neuen Rechten ihrer eigenen Einschätzung nach an kultureller Hegemonie fehlt.

Es ist gar nicht so einfach zu verstehen, das Weltbild der Spätpubertären mit dem beleidigten Gesichtsausdruck. Mal hat es den Anschein, als seien die Altachtundsechziger, die Feministinnen und die Schwulen der Hauptfeind. Diese treten aber auch als betrogene Betrüger_innen auf, da sie sich aufgrund ihrer »Lust am Einknicken« besonders gut als naive Wegbereiter_innen der Muslime eignen, die nach der demographischen Eroberung des Abendlandes schnurstracks eine religiöse Diktatur errichten werden, in der Intoleranz, Sexismus und Homophobie herrschen (alles Dinge, die man selber praktiziert, aber trotzdem – oder gerade deshalb – gern anderen unterstellt). Ähnlich sieht es in der Einschätzung der Kräfteverhältnisse aus: Die Neue Rechte wähnt sich als tapfere Minderheit, die sich gegenüber dem linksgrünen Mainstream (mit seiner gleichgeschalteten Systempresse) nur mit Mühe Gehör verschaffen kann. Gleichzeitig ist man überzeugt, für die schweigende Mehrheit zu sprechen, also das zum Ausdruck zu bringen, was in der Mitte der Gesellschaft gedacht, aber nicht laut gesagt wird. Wer meint, diese Ideologie sei zum Scheitern verurteilt, weil sie sich laufend selbst widerspreche, hat ihre Funktionsweise nicht verstanden. Gerade weil die Ideologie widersprüchlich ist, vermag sie die offensichtlichen Widersprüche in der Wahrnehmung der Wirklichkeit zu erklären. Wenn Sarrazins Bücher zu Bestsellern werden, dann liegt das daran, dass die schweigende Mehrheit endlich die Zeichen der Zeit erkannt hat. Wenn andererseits Akif Pirinçcis Deutschland von Sinnen, das in einem obskuren rechten Kleinverlag erschienen ist, vom stationären Buchhandel ignoriert wird, gilt das als sicherer Beweis für die totalitäre Macht des Mainstreams.

Der gramscianische Begriff für das, was die Neue Rechte vorhat, lautet Gegen-Hegemonie. Wer dem gesellschaftlichen Konsens als Minderheit gegenübersteht, muss an irgendeinem Ort in der Zivilgesellschaft ansetzen, um den Konsens zu brechen. Die Neue Rechte sieht sich in einer solchen Minderheitsposition und versucht entsprechend, den Buchmarkt, die Blogosphäre und die Kommentarformulare der Tageszeitungen mit ihren Ansichten zu fluten. Was nicht unbedingt heißt, dass sie Gramsci wirklich verstanden hat. Der meinte nämlich keineswegs, dass man sich soziale Macht erkämpfen kann, indem man lauter und alarmistischer auftritt als die anderen. Ganz im Gegenteil – die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bestimmen, wer überhaupt laut werden kann und wer überhört wird. Ich bezweifle deshalb, dass die Neue Rechte tatsächlich so viel von Gramsci gelernt hat. So neu ist ihr Vorgehen nämlich gar nicht. Die Publizistik ist spätestens seit dem Kaiserreich das bevorzugte Kampffeld rechter Kräfte, was vermutlich daran liegt, dass sie sich vorzüglich zur Dampfplauderei eignet. Neue und alte Rechte unterscheiden sich nämlich in einer Hinsicht erstaunlich wenig: Sie neigen dazu, im Akkord Pamphlete zu veröffentlichen, in denen das Bild einer dem nationalen Kollektiv (wahlweise auch dem christlichen Abendland) dräuenden Katastrophe gezeichnet wird. Das Publikum, auf das diese Pamphlete zugeschnitten sind, wird sie mit begeistertem Entsetzen aufnehmen, händeringend ausrufen, dass Deutschland endlich erwachen solle, und – nichts tun. Es ist das identitätsstiftende Merkmal der Neuen Rechten und ihrer schweigenden Mehrheit, dass sie viele Worte macht und nichts tut. Anders könnte sie sich nicht als unschuldiges Opfer des Mainstreams gebärden. Das Tun wird in den allermeisten Fällen den faschistischen Schlägertrupps und Todesschwadronen überlassen, die ihre Aufgabe in der Regel zuverlässig erfüllen. Erst dann, wenn man sich gegen Risiken genügend abgesichert fühlt, rottet man sich mit den Schlägern und Mörderinnen zum nun nicht mehr nur verbalradikalen Mob zusammen, damit Deutschland wirklich erwachen kann.

So viel zu den Kontinuitäten zwischen Alt- und Neurechten. Was aber ist neu an der Neuen Rechten? Ich würde behaupten: Vor allem ihre zwanghaften Versuche, sich von der Neuen Linken zugleich abzugrenzen und sie zu übertreffen. Die Altachtundsechziger, die Gutmenschen, die Ökos – die sind der Feind, der dieses schöne Land ruiniert hat; die »linksgrün Versifften«, wie Akif Pirinçci zu sagen pflegt. Deutlicher kann man sich nicht abgrenzen, oder? Da ist es doch überraschend, wenn man erfährt, dass Pirinçcis Deutschland von Sinnen, das gegenwärtig die schweigende Mehrheit und ihre Sprecher_innen in stammelndes Entzücken versetzt, im Hause Manuscriptum erschienen ist. Chef des Verlags (mit den Imprints Landtverlag und Edition Sonderwege) ist Thomas Hoof, vormals Geschäftsführer der nordrhein-westfälischen Grünen. Ja richtig, Geschäftsführer der »Kindersexpartei«. Nach dem Ende seiner parteipolitischen Ambitionen gründete Hoof den Versandhandel Manufactum, der mit dem Spruch »Es gibt sie noch, die guten Dinge« für sich warb. Wer dabei an Spitzendeckchen, röhrende Hirsche und Lobreden auf deutsche Wertarbeit denkt, liegt nicht ganz falsch. Die von Hoof entworfene Firmenideologie von Manufactum propagierte Spießigkeit – aber eine spezifisch grüne Spießigkeit: Alles ist auf unberührte Natur, knorrige Nachhaltigkeit und bäuerliche Selbstversorgungsmentalität angelegt. Im Programm findet man neben anderen kuriosen Dingen »Lawinenspaten aus der Schweiz, Baujahr 1939«, wie der Spiegel letzte Woche zu berichten wusste.

Mittlerweile gehört Manufactum zur Otto Group. Gründer Hoof hat seine Finger nicht mehr im Spiel, und die Firma legt Wert darauf, sich von seinen Ansichten zu distanzieren. Heute hat Hoof nämlich ein anderes Hobby: Er verlegt bei Manuscriptum Bücher von Rechtsauslegern wie Arnulf Baring, Jörg Schönbohm, Ernst Nolte und Jürgen Elsässer. Daneben stehen im Verlagsprogramm Titel wie Die demokratische Sklavenmentalität oder Der Krieg gegen den Mann, außerdem der eine oder andere rechte Klassiker wie Oswald Spengler und Ernst Jünger. Überrascht es irgendjemanden, dass Pirinçci, der deutsche Held, im Kampf gegen das linksgrüne Gutmenschentum im Verlagshaus eines obskuren Ökofaschisten Gefechtsstation bezogen hat? Mich nicht, denn schließlich hört man von Pirinçci selber regelmäßig im Heino-Stil vorgetragene Liebeserklärungen an den deutschen Wald. Wer’s immer noch nicht glauben mag, kann sich die in der Süddeutschen erschienene Beschreibung von Pirinçcis Domizil zu Gemüte führen: Gründerzeithaus mit verglaster Rückseite, um den Blick auf den Garten freizulassen (man hat die gentechnikfreien Lebensmittel – selbstverständlich aus regionalem Anbau – im Kühlschrank förmlich vor Augen stehen). Saturiertes grünes Spießertum in Reinkultur – wie ich schon sagte: Das politische Milieu, um das es hier geht, versucht eben nicht nur, sich von den linksgrünen Übereltern abzugrenzen, sondern auch, sie zu übertreffen.

Eine besondere ideologische Nähe pflegen Hoof und Manuscriptum zum Libertarismus, und zwar insbesondere der von André F. Lichtschlag vertretenen Spielart. Libertär – das klingt selbst in antiautoritär-linken Ohren nicht unbedingt schlecht. Schließlich betonen Libertäre immer wieder, dass sie für die größtmögliche Freiheit des Einzelnen sind. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber oft, dass es mit den Libertären und der Freiheit so eine Sache ist. Den Staat finden sie scheiße, aber nicht, weil eine Gesellschaft ohne Staat womöglich freier, gleicher und solidarischer sein könnte, sondern weil sie dem Staat einen geradezu krankhaften Hang zum Sozialismus unterstellen. Er soll weg, weil er unnatürlich ist, weil er das auf dem Markt herrschende Konkurrenzprinzip behindert. Die Aufgaben, die der Staat wahrnimmt, können ihrer Auffassung nach auch von anderen, ›natürlicheren‹ Institutionen erledigt werden: Für Solidarität sollen Familie und ethnische Gemeinschaft zuständig sein, für Sicherheit bewaffnete Milizen. Ideen wie Individualität und Egalität stören da nur. Ein so verstandener Libertarismus ist im Grunde antimodern und will keine freie, sondern eine barbarische Gesellschaft. Auch hier gilt wieder: Man versucht sich von der politischen Gegnerin nicht nur abzugrenzen, sondern will sie übertrumpfen. Denn diese Art von Gemeinschaftsduselei, die meint, auf den Staat schon jetzt verzichten zu können, weil sich auf lokaler Ebene, im kleinen Kollektiv doch viel bessere Bande der Solidarität knüpfen lassen, ist auch in den aus der Neuen Linken hervorgegangenen Bewegungen und Subkulturen außerordentlich präsent. Hier wie da liegt die unausgesprochene Voraussetzung in der Ablehnung der modernen Gesellschaft und ihres Individualismus, im Verzichtsdenken und im Zurück zur ›natürlichen‹ Gemeinschaft. Was der rechten Variante allerdings abgeht, ist jegliche Vorstellung von Hedonismus und gutem Leben.

Charakteristisch für die Neue Rechte ist also, dass sie sich von einigen der schlechteren Ideen der Neuen Linken hat beeindrucken lassen und jetzt mit einer misslungenen Kopie davon hausieren geht. Die Neue Rechte ist die APO der dummen Kerls. Pirinçci & Co. also – versifft: ganz bestimmt. Verspießert: total. Grün: in gewissem Sinne auch. Links: das gewiss nicht.

Dienstag, 22. April 2014

Neuzugänge

  • H.C. Artmann, Der handkolorierte Menschenfresser. Ausgewählte Prosa
  • Iain M. Banks, The Player of Games
  • Ders., The State of the Art
  • Octavia Butler, Kindred 
  • Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte (Insel-Ausgabe)
  • Dietmar Dath, Sämmtliche Gedichte
  • Philip K. Dick, Eine andere Welt 
  • Susanne Gerdom, Elbenzorn
  • Dies., Die Seele der Elben
  • Joanne Harris, Denk an mich in der Nacht
  • Markolf Hoffmann, Flammenbucht
  • Felix Karlinger/Johannes Pögl (Hgg.), Märchen aus Argentinien und Paraguay (aus der Reihe Märchen der Weltliteratur von Diederichs)
  • Stephen King, Der Werwolf von Tarker Mills
  • T.E.D. Klein, MorgenGrauen
  • Joe R. Lansdale, Kahlschlag
  • Ders., Straße der Toten
  • Rick Moody, Der Eissturm
  • Kim Newman, The Night Mayor
  • Giuseppe Pederiali, Der Nebeldrache

Donnerstag, 17. April 2014

Skandinavische Film-Phantastik: Sechs Empfehlungen

In Zeiten, in denen mir das Bloggen aufgrund von Stress und den damit verbundenen Stimmungsschwankungen schwerfällt, tue ich das Naheliegende: Ich poste eine Liste. Eine Liste ist einfach aufgebaut und nicht allzu überfordernd, wenn es darum geht, Worte und Sätze in stringenter Weise zusammenzufügen.

Also. Ich finde, Skandinavien hat in den letzten fünf Jahren zur Vielfalt im Bereich des phantastischen Films entscheidend beigetragen. Insbesondere bin ich ein Fan von Tomas Alfredsons Låt den rätte komma in, der 2008 auf den Festivals gezeigt wurde und deshalb schon etwas älter als fünf Jahre ist. Auf seine Neuverfilmung der Brüder Löwenherz freue ich mich außerordentlich. Im hohen Norden sind aber noch deutlich mehr einfallsreiche Filmmenschen aktiv. Zum Beweis sechs Beispiele in chronologisch-alphabetischer Reihenfolge:
  • Død snø (Norwegen 2009) von Tommy Wirkola ist mit Abstand der schwächste Film auf dieser Liste. Trotzdem gilt: Anschauen kann man sich den ruhig mal. (Wirkola dürfte hierzulande vor allem für Hansel and Gretel: Witch Hunters bekannt sein. Ob der wirklich so schlecht ist, wie man sagt, kann ich nicht beurteilen, da ich ihn noch nicht gesehen habe.) Dead Snow, wie der internationale Titel lautet, handelt von einer Horde Nazi-Zombies, die seit der deutschen Besatzung Norwegens in Finnmark ihr Unwesen treiben. Durchaus beeindruckend ist, dass der Streifen es schafft, ausnahmslos jedes Horrorfilmklischee zu verwerten: Eine kleine Gruppe junger Leute. Darunter ein Nerd mit umfangreichen Genrekenntnissen. Eine einsame Hütte. Ein Einheimischer, der die jungen Leute warnen will, sich aber so verschroben benimmt, dass ihm kein Glauben geschenkt wird. Morde im Dunkeln. Eine Kettensäge und eine Axt. Muss ich noch mehr sagen? Ich denke nicht.
    Aber der Film wartet auch mit einem eigenständigen Merkmal auf. Die Darstellung der Zombies ist nämlich an die draugar, die lebenden Toten der altnordischen Mythologie, angelehnt. Draugar sind dafür bekannt, dass sie ihre Grabbeigaben eifersüchtig bewachen. Wer sich auch nur versehentlich am Grab eines draugr vergreift, kann sich der Rache der Untoten sicher sein. Die ›Grabbeigaben‹ der Nazi-Zombies in Wirkolas Film bestehen aus Beutegut aus dem 2. Weltkrieg, das natürlich von den jungen Leuten in ihrer Hütte gefunden wird. Wer sich also für die Verwendung von Folklore-Motiven im Horrorfilm interessiert, sollte bei Død snø einen Blick riskieren.
    Eines sollte man aber auf keinen Fall erwarten: eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Besatzungspolitik. Die Zombies in diesem Film sind ausschließlich wegen des Exploitation-Effekts Nazis.
  • Metropia (Schweden 2009) von Tarik Saleh spielt in einer dystopischen Zukunft, in der die Städte Europas durch ein gigantisches U-Bahn-Netz miteinander verbunden sind. Anders als die anderen Produktionen in dieser Liste, die eher dem Indie-Bereich angehören, wartet Salehs englischsprachiger Animationsfilm mit einem Star-Ensemble auf (u.a. Juliette Lewis und Vincent Gallo). Für Genrefans besonders interessant ist Udo Kier mit seiner ihm auf den Leib geschriebenen Rolle. Die Animation ist top, und bei einigen Szenen musste ich tatsächlich denken: This out-Gilliams Gilliam. Muss man gesehen haben.
  • Trolljegeren (Norwegen 2010) von André Øvredal ist ein sehr charmanter, zum Ende hin makabrer Found-Footage-Streifen. Drei Filmstudierende wollen eine Dokumentation über den verschlossenen Einzelgänger Hans drehen, der im Ruf steht, ein Wilderer zu sein. Es stellt sich jedoch heraus, das Hans das Gegenstück zu den berühmten isländischen Elfenbeauftragten ist: Er arbeitet für eine geheime Behörde, die die norwegische Trollpopulation überwachen und ihre Existenz vor der Öffentlichkeit verbergen soll. Hans ist einverstanden, sich bei seiner Arbeit von dem Filmteam begleiten zu lassen, um auf Missstände in seinem Beruf aufmerksam machen zu können. Das sehen seine Vorgesetzten allerdings gar nicht gern ...
    Die CGI-Effekte, mit denen die Trolle dargestellt werden, sind ausgesprochen respektabel. Überhaupt zeigen Filme wie Trollhunter (so der internationale Titel) oder Monsters von Gareth Edwards, dass auch Low-Budget-Produktionen sich nicht mehr darauf herausreden können, für gute visuelle Effekte brauche man viel Geld.
    Trolljegeren wird oft mit The Blair Witch Project verglichen – und unweigerlich dafür kritisiert, dass er sehr viel weniger spannend sei. Damit wird man Øvredals Film, der gar kein Schocker sein will, aber nicht gerecht. Die Ähnlichkeit mit The Blair Witch Project kommt ausschließlich dadurch zustande, dass beide Filme sich des Found-Footage-Schemas bedienen. Mir fällt ein anderer Vergleich ein: Kann man sich einen skandinavischen Kaijū-Film vorstellen? Hier ist er.
  • Marianne (Schweden 2011) von Filip Tegstedt fällt wiederum in den Bereich Horror mit Folklore, ist aber ungleich intelligenter als Død snø. Der Protagonist Krister ist ein verwitweter Familienvater, der von seiner verstorbenen Frau in Gestalt einer mara (eines Albs oder Nachtmahrs) geplagt wird – oder vielleicht auch nur von seinen Ängsten. Ein überaus sparsam erzähltes Psychodrama mit einem Hauch Übernatürlichen, dessen Atmosphäre sich am besten mit dem englischen Wort bleak beschreiben lässt, zu dem ich irgendwie nie ein wirklich passendes deutsches Äquivalent finde.
    Kurt Halfyard fiel in seiner Rezension ein: »Somebody, please, get Guillermo del Toro in contact with Philip [sic!] Tegstedt because here is a young director with the chops to make a The Devil’s Backbone or a Pan’s Labyrinth if he were given the finances and freedom to do so. In fact, he may well already have done the former with Marianne.« Ja, bitte! (Weitere passende Vergleiche aus Halfyards Besprechung: Låt den rätte komma in. La habitación del niño von Alex de la Iglesia. Und sogar Stanley Kubricks The Shining.)
  • Flukt (Norwegen 2012) von Roar Uthaug ist strenggenommen kein phantastischer Film, da er keine übernatürlichen Elemente enthält. Escape, wie der Film international heißt, spielt in einem von Pest und Hexenwahn geplagten mittelalterlichen Skandinavien. Die junge Signe ist mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder unterwegs auf der Suche nach einem besseren Ort zum Leben. In der Einöde wird die Familie von der Wegelagerin Dagmar und ihrer Bande überfallen. Signe wird in das Lager der Bande verschleppt, wo sie Dagmars Findelkind Frigg Gesellschaft leisten soll. Als Signe und Frigg einen Fluchtversuch vor der tyrannischen Dagmar unternehmen, werden sie von der Bande erbarmungslos gejagt.
    Man sieht, es handelt sich um Survival Horror – das mag die Aufnahme in die Liste rechtfertigen – mit der atypischen Eigenheit, dass dieser Film im Mittelalter spielt. Unweigerlich kommt in Flukt die für das Subgenre charakteristische krude Zivilisationskritik zum Tragen. Im Mittelpunkt steht sie aber nicht. Eher geht es um das Schicksal von Dagmar, die, in ihrer Jugend als Hexe verfolgt, zur harten und grausamen Chefin einer Räuberbande wurde.
    Flukt mangelt es nicht an abstrusen Zügen. So wirkt es mitunter unfreiwillig komisch, dass Dagmar in ihrem Räuberlager im Wald eine Art kleinfamiliäres Idyll errichten will – zumindest habe ich mich gefragt, warum Dagmars teilweise reichlich blutrünstig wirkende Gefährten nicht gegen diese Pläne aufbegehren. Dennoch ein nicht uninteressanter Film, der sich die Mühe macht, die in Mittelalterfilmen vorherrschende Robin-Hood-Ideologie zu durchbrechen. Für den verfemten Adligen Robin Hood ist stets klar, dass er  sich seinen Platz in der Gesellschaft, den er unrechtmäßig verloren hat, wieder erkämpfen kann. Die Botschaft von Flukt scheint dagegen zu sein: Es gibt keine Garantie auf einen sicheren Platz in der Gesellschaft. 
  • Thale (Norwegen 2012) von Aleksander L. Nordaas erinnert sowohl an Marianne als auch an Johanna Sinisalos Roman Troll. Eine Liebesgeschichte (in dem ganz andere Trolle als bei André Øvredal auftauchen). Auch hier gibt es ein Folklore-Motiv: Die beiden Tatortreiniger Elvis und Leo finden eine huldra, die jahrelang im Keller eines Hauses eingesperrt war – ein zum Anhimmeln schönes Waldgeschöpf in Gestalt einer jungen Frau mit einem Kuhschwanz. Ihr Peiniger hat sie bis zu seinem Tod medizinischen Experimenten ausgesetzt und die Ergebnisse auf Tonband dokumentiert. Indem Elvis und Leo die qualvolle Geschichte der huldra Thale kennenlernen, werden sie auch mit ihren eigenen Traumata konfrontiert. Eine irgendwie rührende Mischung aus Märchen und Horror.
Frohe Ostern, liebe Leser_innen. Was immer ihr tut, ich hoffe, ihr guckt euch über die Feiertage keine langweiligen Filme an!

    Foto-Disclaimer

    Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.