Montag, 17. März 2014

Neuzugänge

  • Saladin Ahmed, Engraved on the Eye
  • J.G. Ballard, Die Tausend Träume von Stellavista und andere Vermilion-Sands-Stories 
  • Marcus Hammerschmitt, Yardang
  • Norbert Jacques, Dr. Mabuse, der Spieler/Dr. Mabuses letztes Spiel (in einem Band)
  • Max Kruse, Der Schattenbruder
  • Luigi Malerba, Wahrhaftige Gespenster. Geschichten aus den eingebildeten Wissenschaften
  • Orhan Pamuk, Schnee
  • Enno Stahl, Literatur in Zeiten der Umverteilung 
  • Jonathan Swift, Gullivers Reisen
  • Catherynne M. Valente, In the Night Garden
  • Roger Zelazny, The Great Book of Amber (der Ziegelstein der Ziegelsteine)

Donnerstag, 13. März 2014

Sibyllinisch, dieses Onanieverbot

Ich finde es empörend, wie mit Sibylle Lewitscharoff umgegangen wird. Schließlich hat sie nur gesagt, was sie dachte, und das wird man ja wohl dürfen. Lewitscharoff, das dürfte mittlerweile klar sein, ist Opfer eines Missverständnisses. Und dennoch wird weiter auf ihr rumgehackt, statt dass es ihr einfach mal jemand erklärt.

Lewitscharoff ist Fundamentalistin, wird gesagt. Das ist ein Begriff, der häufig in einer sehr vagen und allgemeinen Weise gebraucht wird, um besonders konservative Anhänger_innen einer jeglichen Religion zu bezeichnen. Historisch gesehen ist der Fundamentalismus jedoch eine Strömung innerhalb des protestantischen Christentums. Die so verstandenen Fundamentalist_innen glauben an eine wörtliche Auslegung der Bibel und daran, dass sich die staatliche Gesetzgebung an dieser Auslegung zu orientieren habe. Lewitscharoff sagte in ihrer Dresdner Rede: »Früher habe ich mich über das drastische biblische Onanieverbot gern lustig gemacht, inzwischen erscheint es mir geradezu als weise.« Im FAZ-Interview vom 6. März verteidigte sie diese Aussage mit den Worten, »dass manchmal bestimmte Dinge, die in der Bibel vorhergesagt sind, in dem Moment, in dem sie zu einer so katastrophalen Entwicklung führen können, plötzlich eine ganze andere Dimension bekommen«. Sie glaubt also, dass das »biblische Onanieverbot« nicht einfach so, sondern in weiser Voraussicht erlassen wurde. Zu biblischen Zeiten gab es etwas so Teuflisches wie künstliche Befruchtung noch nicht, aber Gott hat die Fortschritte der Reproduktionsmedizin vorausgesehen und deshalb präventiv Maßnahmen ergriffen. Zwar betont Lewitscharoff im Interview sehr, niemandem das Onanieren verbieten zu wollen, aber das nimmt ihr zu Recht niemand ab. Die Onanie ist ihr suspekt, weil auf diesem Wege Samen gespendet werden kann, der anschließend zur Zeugung von Kindern qua künstlicher Befruchtung verwendet wird. Diese Möglichkeit findet sie nicht nur »absolut widerwärtig«, wie sie in der Rede sagte, sondern auch katastrophal, wie das Interview präzisiert. Wer künstliche Befruchtung für eine Katastrophe hält, muss auch was dagegen tun. Männliche Onanie gehört konsequenterweise verboten. Lewitscharoff wird also durchaus zutreffend als Fundamentalistin charakterisiert.

Allerdings ist es mit der wörtlichen Auslegung der Bibel so eine Sache. Im Grunde ist es nämlich unmöglich, Erzähltexte zu verstehen, indem man sie wörtlich nimmt. Ich zitiere als Beispiel die ersten Sätze von Wolfgang Koeppens Tauben im Gras: »Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen.« Wenn das jemand ›wörtlich‹ verstehen möchte, kann ich nur sagen: Viel Vergnügen. Eine aufschlussreiche Lektüre wird das nicht. Aber Fundamentalist_innen sind meistens nicht so dumm, wie sie aussehen, und wenden sofort ein: Das ist natürlich nicht gemeint mit wörtlicher Auslegung. Auch in der Bibel sind literarische Stilmittel wie Metaphern und Personifikationen zu finden. Wenn Jesus sagt »Ich bin der Weg«, dann ist damit nicht gemeint, er sei ein Feldweg oder eine Schotterstraße. Wichtig ist, den Inhalt der Bibel wörtlich zu verstehen. Nur: Was ist Stilmittel, was ist Inhalt? Im Zweifel sind der Kulanz der Fundamentalist_innen, was symbolische Rede angeht, ziemlich enge Grenzen gesetzt. Heißt es etwa beim Propheten »Wölfin und Lamm werden einträchtig weiden, der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen« (Jesaja 65,25), dann kann das laut fundamentalistischer Auslegung durchaus bedeuten, dass Gott dereinst mit einem Fingerschnipsen dafür sorgen wird, dass Wölfin und Löwe mit einem herbivoren Verdauungstrakt ausgestattet werden (während prosaischer gesinnte Menschen zumeist annehmen, der Prophet habe mit diesem Vers einfach nur seiner Hoffnung auf ein Zusammenleben ohne Gewalt Ausdruck verleihen wollen).

So ist das also mit der wörtlichen Auslegung: Die Bibel wird als eine Ansammlung von Fakten gelesen. Wenn es im Buch Genesis heißt, Gott habe die Welt in sechs Tagen geschaffen und am siebten geruht, dann ist das eine Tatsache und lässt sich nicht etwa damit erklären, dass die Zahl Sieben symbolisch für Vollendung steht. Und wenn Wölfin und Löwe kein Gras, sondern Fleisch fressen, dann liegt das nur daran, dass die Zeit für die Bewahrheitung dieser biblischen Aussage noch nicht gekommen ist. Zum rechten Zeitpunkt wird Gott schon bewirken, dass Wölfin und Löwe auf vegetarische Ernährung umsteigen. Ähnlich verhält es sich mit den ethischen Aussagen der Bibel. Das Onanieverbot ist Gott nicht ohne Grund schon vor langer Zeit in den Sinn gekommen. Er wusste einfach damals schon, dass im 20. Jahrhundert mad scientists etwas so Perverses wie die künstliche Befruchtung erfinden würden.

Aber da fängt auch schon das Missverständnis an. Ich studiere Theologie und kenne daher die Bibel recht gut. Das Problem ist: Es gibt kein Onanieverbot in der Bibel. Das Alte Testament enthält drei große Gesetzessammlungen, namentlich das Bundesbuch in Exodus 20,22–23,33, das Heiligkeitsgesetz in Leviticus 17–26 und das Buch Deuteronomium. Daneben gibt es die berühmten Zehn Gebote, die in zwei voneinander abweichenden Fassungen – in Exodus 20,2–17 und Deuteronomium 5,6–21 – überliefert sind. Die Zehn Gebote verbieten Ehebruch (Exodus 20,14 bzw. Deuteronomium 5,18).* Im Bundesbuch wird Sex mit Tieren verboten (Exodus 22,18). Im Heiligkeitsgesetz, in Leviticus 18 und 20, wird Inzest, Analsex unter Männern, Sex während der Menstruation und abermals Ehebruch und Sex mit Tieren verboten. Onanie wird nicht erwähnt. Und ich würde es zwar nicht beschwören wollen, aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass auch außerhalb der Gesetzessammlungen nirgendwo in der Bibel von Masturbation die Rede ist. Selbstbefriedigung wird schlicht und einfach nicht erwähnt. Kennt die Fundamentalistin Lewitscharoff am Ende die Bibel nicht?

Ganz so verhält es sich nicht. Wenn Lewitscharoff von einem biblischen Onanieverbot spricht, spielt sie damit wahrscheinlich auf die Geschichte von Onan (Genesis 38) an, nach dem die Onanie schließlich benannt ist. Ich gebe mal die Essentials der Handlung wieder: Juda, der Stammvater eines der zwölf Stämme Israels, und seine Frau Schua haben drei Söhne namens Er, Onan und Schela. Er, der Erstgeborene, heiratet eine Frau namens Tamar, doch er stirbt, bevor Tamar schwanger wird. Der Familienchef Juda bestimmt daraufhin, dass der zweitgeborene Sohn Onan mit Tamar Nachwuchs zeugen soll, damit sie nicht kinderlos bleibt. Onan praktiziert jedoch Coitus interruptus mit Tamar. Zur Strafe lässt Gott auch Onan sterben.

Es kommt nicht selten vor, dass die fundamentalistische Bibelauslegung in ihr vermeintliches Gegenteil umschlägt. Anstelle von ›wörtlicher‹ Interpretation hat man dann plötzlich ein völlig willkürliches Hineinlesen aller möglichen Bedeutungen in den Text. Klar ist, dass es sich bei der Geschichte von Tamar und Onan um eine simple cautionary tale handelt: Onan stirbt, weil er unmoralisch gehandelt hat. Aber angekreidet wird ihm nicht Masturbation, sondern dass er außerhalb von Tamars Vagina ejakuliert: »Und wenn er dann zur Frau seines Bruders kam, ließ er ihn [den Samen] auf der Erde verkommen, um nur ja keinen Samen zu spenden für seinen Bruder. Was er da tat, war böse in den Augen Adonajs und so ließ Adonaj auch ihn sterben.« (Genesis 38,9f.) Liest man die Geschichte als Onanieverbot, ergibt sie keinen Sinn. Liest man sie als Verbot von Samenspende, ergibt sie erst recht keinen Sinn. Das heißt aber nicht, dass sie sinnlos wäre. Um die Geschichte zu verstehen, muss man mit einer Eigenheit der gesellschaftlichen Organisation im alten Israel vertraut sein.

Man lebte in Sippen und Stämmen zusammen. Die Zugehörigkeit zu Sippe und Stamm war patrilinear geregelt, d.h. man gehörte zu der Sippe, zu der auch der Vater gehört hatte. Ging es um den Erhalt der Sippe und des Stammes, kam also alles darauf an, die väterliche Linie fortzuführen. Dieses System versetzte kinderlose Witwen wie Tamar in eine ziemlich heikle Position. Sie hatten nichts zum Erhalt der väterlichen Linie beigetragen und deshalb ihre soziale Rolle nicht ausgefüllt. Oft blieb kinderlosen Witwen nichts anderes übrig, als zu betteln. Um das Problem zu lösen, wurde die in der Geschichte beschriebene Regelung eingeführt: Starb ein Mann und ließ eine Frau kinderlos zurück, dann war der Bruder des Verstorbenen verpflichtet, mit seiner Schwägerin ein Kind zu zeugen. Der dadurch entstandene Nachwuchs galt offiziell als das Kind des Verstorbenen, seine Linie wurde fortgesetzt und die Mutter entsprach ihrer gesellschaftlichen Rolle. Onan drückt sich davor, Tamar zu schwängern, weil er dann ein Kind zu versorgen hätte, das rein rechtlich gesehen nicht mal seins wäre, sondern das seines verstorbenen Bruders. Die Geschichte soll wahrscheinlich eine Ermahnung für Männer sein, die so egoistisch dachten wie Onan und ihren Schwägerinnen ihr gutes Recht vorenthielten.

Allgemein lässt sich von der biblischen Ethik sagen: Geht es um Fortpflanzung, ist jedes Mittel recht. Sara ist unfruchtbar und schlägt deshalb ihrem Mann Abraham vor, mit seiner Sklavin Hagar ein Kind zu zeugen. Als Lot mit seinen zwei Töchtern aus dem zerstörten Sodom in die Wildnis flieht, machen sich die beiden Sorgen, dass keine Männer für sie da sein könnten. Nachts füllen sie Lot mit Wein ab, haben Sex mit ihm und werden so zu Stammmüttern von Moab und Ammon, zwei Nachbarstaaten Israels. Kurzum, die Bibel fordert reproductive freedom um jeden Preis. Wären künstliche Befruchtungsmethoden in alttestamentlicher Zeit bereits vorhanden gewesen, hätte Gott Onan wahrscheinlich sterben lassen, weil er die Samenspende für die In-vitro-Fertilisation verweigerte.

Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass Lewitscharoff einem tragischen Irrtum aufgesessen ist. Die vermeintlich so bibelfeste Fundamentalistin hat das Buch Genesis schlichtweg falsch verstanden. Auf das Hier und Heute übertragen, lautet die biblische Botschaft: Recht auf Fortpflanzung für alle, und zwar sofort! Her mit den Reagenzgläsern! Falls Lewitscharoff in Zukunft noch einmal Reden über Reproduktionsmedizin halten will, dann wäre sie gut beraten, vorher die Schrift genau zu studieren. Andernfalls sollte sie besser ihre eigene Religion gründen, die sich meinetwegen auf das Evangelium nach Sibylle beruft, aber bitte nicht mehr auf die Bibel. 

* Ehebruch bedeutet in diesem Fall, dass Männer nicht mit Frauen Sex haben sollen, die anderen Männern ›gehören‹. Man merkt diesen Verboten schon an, dass sie in ausgesprochen patriarchalen Zeiten entstanden sind.

Samstag, 8. März 2014

Women in Horror and Fantasy

Nicht nur ist heute Internationaler Frauenkampftag, im Februar war auch Women in Horror Recognition Month.* Zu diesen Anlässen möchte ich einige Empfehlungen aussprechen:
  • Da ist zunächst die crowdfinanzierte Anthologie She Walks in Shadows, die erste Sammlung von lovecraftesken Horrorgeschichten, zu der ausschließlich Autorinnen beitragen. Als Herausgeberin wird Silvia Moreno-Garcia fungieren. Das Projekt hat sein Finanzierungsziel auf Indiegogo erreicht (Glückwunsch!), aber wer möchte, kann noch bis zum 13. März einen Beitrag zur Veröffentlichung der Anthologie leisten.
  • Ellen Datlow ist zweifellos die bedeutendste Herausgeberin von Horrorgeschichten. Im Interview mit dem Magazin Nightmare spricht sie über ihre Tätigkeit. Im Interview mit Book Riot geht es um ihre persönlichen Lesegewohnheiten und um empfehlenswerte Autorinnen. Ihre nächste Anthologie, die im April erscheint, heißt übrigens Lovecraft’s Monsters.
  • Die Dezember/Januar-Ausgabe des feministischen Magazins an.schläge wartet mit einem Themenspecial »Heimgesucht von Carrie, Carmilla und Co.« auf. Die sehr empfehlenswerten Artikel und Infoboxen widmen sich u.a. der Liebe zu Monstern und der Frage, warum die (fast ausschließlich männlichen) Killer der Slasherfilme ihr Unwesen stets in weißen Vororten treiben. Die Ausgabe ist im Buchhandel oder im Webshop von an.schläge erhältlich.
Zum Schluss noch zwei Buchtipps: Wer gern Streifzüge durch die Literaturgeschichte von phantastikschreibenden Frauen unternehmen möchte, ist mit dem Penguin Book of Classic Fantasy by Women und dem Penguin Book of Modern Fantasy by Women, beide herausgegeben von A. Susan Williams, bestens bedient. Der erste Band deckt den Zeitraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Zwischenkriegszeit ab, der zweite Band versammelt Geschichten ab 1941 und wartet zudem mit einer Einleitung von Joanna Russ auf. ›Fantasy‹ wird in beiden Anthologien als ziemlich weitgefasster Begriff verwendet, der z.B. auch Science Fiction einschließt.

* Als ich »women in horror month« vor ein paar Minuten bei einer nicht ganz unbekannten Suchmaschine eingegeben habe, bekam ich »women’s hormon cycle« als Suchbegriff vorgeschlagen. Liebe nicht ganz unbekannte Suchmaschine, so viel Reduktionismus tut weh.

Dienstag, 4. März 2014

Neuzugänge

  • Stefan Bachmann, Die Seltsamen
  • Iain M. Banks, The Hydrogen Sonata 
  • M. David Blake (Hg.), 2014 Campbellian Anthology
  • Marion Zimmer Bradley (Hg.), Wolfsschwester. Magische Geschichten II
  • Henry Rider Haggard, Sie
  • Marcus Hammerschmitt, Azureus & Pygmalion
  • Madeleine L’Engle, Die Zeitfalte
  • Ana María Matute, Unbewohntes Paradies
  • Georgios A. Megas (Hg.), Griechische Volksmärchen (aus der Reihe Märchen der Weltliteratur von Diederichs)
  • Tobias O. Meißner, Hiobs Spiel (erstes und zweites Buch)
  • Bryan Lee O’Malley, Scott Pilgrim
  • Edgar Allan Poe, Phantastische Erzählungen
    Da ich die Haffmans-Poe-Ausgabe besitze, habe ich eigentlich kein Verlangen nach weiteren, aber dieses Bändchen mit neun Geschichten enthält die Illustrationen von Gustave Doré.
  • Terry Pratchett, Going Postal
  • E. Annie Proulx, Postkarten
  • Dies., Schiffsmeldungen 
  • Felix Salten, Bambi
  • Ann Somerville, A Not-So-Grimm Fairytale
  • Theodore Sturgeon, Der Gott des Mikrokosmos

Montag, 3. März 2014

Tolkien in Joyland

Ende letzten Jahres veröffentlichte John Rateliff einen Blogpost über »Stephen King, Tolkien Fan«:
So, recently I did something uncharacteristic: I read a Stephen King novel. Just as this is atypical of me, so too was this particular book atypical of him, a new hardboiled murder mystery called JOYLAND [...] All of this wd go down for me as just an enjoyable enough light read, were it not for a number of Tolkien references King works into the book.
Da ich mich mitunter damit amüsiere, Dinge über prominente Tolkienfans zusammenzuspinnen, habe ich mir Joyland ausgeliehen und gelesen. Um es vorweg zu sagen: Ich mag nicht jeden Roman von King, dieser ist ihm aber sehr gelungen. Es handelt sich um einen dezent mit Spuk angereicherten Krimi, der bei Hard Case Crime erschienen ist, dem Verlag mit den schicken Retro-Titelbildern. Anders als Rateliff annimmt, ist diese Veröffentlichung nicht sonderlich untypisch für King, denn es ist sein zweites Buch für Hard Case Crime (das erste war 2005 The Colorado Kid); und vom Hardboiled-Genre beeinflusste Stories und Romane finden sich einige in Kings Bibliographie.

Was hat es nun mit den Tolkien-Anspielungen auf sich? Auf den ersten Blick nicht sehr viel. Der Ich-Erzähler des Romans jobbt in einem Vergnügungspark (dem titelgebenden Joyland) und liest The Lord of the Rings, um über einen schweren Fall von Liebeskummer hinwegzukommen. Hier und da erwähnt er im Laufe der Erzählung seine Lektürefortschritte. Wer sich ausführliche Meditationen über die Bedeutung erhofft, die Tolkiens Werk im Leben einsamer junger Menschen hat, wird enttäuscht werden. Ich glaube aber, dass Joyland auf einer etwas weniger offensichtlichen Ebene weitreichende Verknüpfungen zu Tolkien herstellt.

Da ist zum einen der Plot. Mehr noch als die meisten Krimis stellt Joyland heraus, dass es auf einer klassischen Questehandlung beruht – das Ziel der Queste ist in diesem Fall die Entlarvung eines Mörders. Der Ich-Erzähler kommt zudem nicht einfach spontan auf die Idee, sich auf eine Queste zu begeben, sondern wird ausgesandt, und zwar von dem Mordopfer selbst, das als Gespenst (sehr angemessen) in der Geisterbahn des Vergnügungsparks haust. Zur Seite steht ihm ein Helfer mit magischen Fähigkeiten, und es wartet sogar eine Prinzessin auf ihn. Dabei handelt es sich um einen rollstuhlfahrenden Jungen und seine geschiedene Mutter.* Wie in vielen Fantasies ist die Queste zugleich die Geschichte des Erwachsenwerdens des jugendlichen Helden. Am Ende hat der Ich-Erzähler, der märchengerecht den Allerweltsnamen Dev Jones trägt, seine Teenager-Illusionen hinter sich gelassen. Kurzum, mit Joyland deckt King in bravouröser Weise die inneren Verwandtschaften von Fantasy und Kriminalroman auf.

Tolkien unterhielt ein ausgeprägt neurotisches Verhältnis zu Dorothy Sayers’ Lord-Peter-Romanen. Ich kann über die Gründe dafür nur spekulieren, doch verhält es sich auffällig oft so, dass Tolkiens Abneigung sich dann entzündete, wenn eine Sache, die er eigentlich sehr schätzte, in seinen Augen unvollkommen ausgeführt oder in einen falschen Kontext gestellt wurde – legendär z.B. sein Verdammungsurteil über Shakespeare, der es Tolkien zufolge nicht verstanden hat, das Motiv eines in die Schlacht ziehenden Waldes angemessen einzusetzen. Vielleicht misstraute Tolkien Krimis, weil er der Ansicht war, dass sie keinen angemessenen Rahmen für eine Queste abgeben? Immerhin mag eine Verbrecherjagd im Vergleich zu Sams und Frodos Suche nach den Schicksalsklüften recht banal erscheinen. Beweisen lässt es sich wahrscheinlich nicht, dazu sind Tolkiens Bemerkungen zum Krimigenre zu zerstreut und zufällig. Aber sollte ich auf der richtigen Spur sein, dann ließe sich das, was King mit Joyland demonstriert, als geradezu maliziös bezeichnen – wenn dies auch schwerlich Kings Absicht gewesen sein dürfte.

Aber warum sollte King überhaupt ein tiefergehendes Interesse an Tolkien und Fantasy haben? Gewöhnlich wird nur ein vergleichsweise kleiner Teil seines umfangreichen Werks der Fantasy zugerechnet: Der Zyklus The Dark Tower sowie die Romane The Eyes of the Dragon und The Talisman (letzterer gemeinsam mit Peter Straub verfasst). Ich würde jedoch sagen, dass sich gerade an Kings Werk die Willkürlichkeit der Unterscheidung von Fantasy und Horror demonstrieren lässt: Bücher wie Insomnia, Rose Madder oder Hearts in Atlantis würden sicherlich für Fantasy gehalten, stünde nicht Kings Name auf dem Titel, sondern etwa der von Neil Gaiman.

Während die Biographie eines Autors (oder einer Autorin) in der Regel wenig über sein (oder ihr) Werk aussagt, sagen die Lesegewohnheiten oft umso mehr. Joyland spielt 1973. Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass King in den 70er Jahren Tolkien gern und oft gelesen hat. Rateliff offeriert in seinem Blogpost, dass eine Schlüsselszene in dem 1977 erschienenen Roman The Shining von Gollum in den Schicksalsklüften beeinflusst sein könnte. Ein Jahr nach The Shining veröffentlichte King seine erste Storysammlung, Night Shift, zu der John D. MacDonald (sic!) eine Einleitung beisteuerte. Eine der darin versammelten Geschichten, »Strawberry Spring«, enthält eine direkte Anspielung auf The Lord of the Rings. In seinem Vorwort zu Night Shift erwähnt King Tolkien mehrfach, und zwar im Zusammenhang mit der eigentümlichen Genretheorie, die er daselbst entwickelt:
Great horror fiction is almost always allegorical: sometimes the allegory is intended, as in Animal Farm and 1984, and sometimes it just happens – J.R.R. Tolkien swore up and down that the Dark Lord of Mordor was not Hitler in fantasy dress, but the theses and term papers to just that effect go on and on [...] The works of Edward Albee, of Steinbeck, Camus, Faulkner – they deal with fear and death, sometimes with horror, but usually these mainstream writers deal with it in a more normal, real-life way. Their work is set in the frame of a rational world; they are stories that ‘could happen’. They are on that subway line that runs through the external world. There are other writers – James Joyce, Faulkner again, poets such as T.S. Eliot and Sylvia Plath and Anne Sexton – whose work is set in the land of the symbolic unconsciousness. They are on the subway line running into the internal landscape. But the horror writer is almost always at the terminal joining the two, at least if he [sic!] is on the mark. When he is at his best we often have that weird sensation of being not quite asleep or awake, when time stretches and skews, when we can hear voices but cannot make out the words or the intent, when the dream seems real and the reality dreamlike. That is a strange and wonderful terminal. Hill House is there [...]; the woman in the room with the yellow wallpaper is there, crawling along the floor with her head pressed against that faint grease mark; the barrow-wights that menaced Frodo and Sam are there; and Pickman’s model; the wendigo; Norman Bates and his terrible mother. No waking or dreaming in this terminal, but only the voice of the writer, low and rational, talking about the way the good fabric of things sometimes has a way of unravelling with shocking suddenness.
Das etwas umständliche, da umfangreiche Zitat lässt aufhorchen: Warum nennt King ausgerechnet Orwell und Tolkien an erster Stelle, wenn es um Horror geht? Die meisten Leser_innen würden die anderen Autor_innen, die Kings »strange and wonderful terminal« bevölkern, viel eher mit der Genrebezeichnung Horror in Verbindung bringen: Shirley Jackson, Charlotte Perkins Gilman, H.P. Lovecraft, Algernon Blackwood und Robert Bloch – sie alle kann man im Buchladen oder in der Bibliothek in der Abteilung Horror finden. King scheint es jedoch weniger auf Vermarktungskategorien anzukommen als auf das Seltsame und Wundervolle selbst, das in seinen Augen die Werke der aufgezählten ›Horror‹-Autor_innen miteinander verbindet. Horror ist hier einfach nur Kings Wort für das, was in der Literaturtheorie sonst Phantastik oder Fantasy genannt wird: Unglaubliche Dinge, die mit ruhiger und rationaler Erzählstimme vorgetragen werden, so dass man fast – mit einer »weird sensation« – an sie zu glauben beginnt. Aber nur fast.

Stephen King, Night Shift, Hodder 2007 (Erstausgabe 1978); Joyland, Hard Case Crime 2013.

* An dieser Stelle, muss ich in aller Schärfe anmerken, wandelt King stark auf ausgetretenen Pfaden. Ein Kind, dessen Behinderung durch eine übernatürliche Gabe ›kompensiert‹ wird, und eine Frauenfigur, die tatsächlich nichts anderes tut, als auf den Helden zu warten? Wahnsinnig originell. 

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.