Samstag, 22. Februar 2014

Realismus und Literaturbetrieb

In Deutschland gibt es derzeit eine Literaturdebatte. Nein, keine Angst, es ist nicht schon wieder Martin Walser, der irgendwas Blödes gesagt hat. Es geht wirklich um Literatur, nicht nur darum, was irgendein Literat von sich gegeben hat. Florian Kessler hat in der Zeit geschrieben, dass die deutsche Gegenwartsliteratur von »Lehrerkindern und Ärztekindern und noch mehr Lehrerkindern und noch mehr Ärztekindern« produziert werde. Es handele sich um ein »dynastisches Familiending« und die dabei entstehenden Texte seien brav und konformistisch, weil sie von ihrer Entstehung in einem saturierten Milieu geprägt sind (dem Kessler selbst angehört, wie er betont). Den Selektionsprozess, der dazu führt, dass stets nur wieder Bücher aus diesem Eck veröffentlicht werden, führt Kessler auf die ökonomischen Bedingungen zurück, die den Literaturbetrieb strukturieren:
Obwohl insgesamt immer mehr Bücher publiziert werden, entscheidet eine immer kleinere Konstellation von Großagenten, Großverlagen und Großhändlern, welche dieser Bücher die Chance erhalten, zu deutlich sichtbaren Erfolgen hochgepusht zu werden. Wer heute als Autor erfolgreich sein will, der muss in diese Kreise eintreten. Mit innerhalb des vergangenen Jahrzehnts rapide gewachsener Wahrscheinlichkeit gehört er zu einer ganz bestimmten In-crowd aus publizierenden Prominenten und Buchmarktleuten, Journalisten und Betriebsnudeln. Er ist Teil eines informellen Geflechts, das sich vor allem dadurch definiert, dass die allermeisten Schreibenden niemals andocken können.
Wie die Zulassungsrituale zu diesem Geflecht verlaufen, wird von Kessler anschaulich geschildert anhand seiner Bewerbung für das Studium des Kreativen Schreibens in Hildesheim:
Als Bewerbungsmappe hatte ich wirre Liebesmonologe eingeschickt, denen ich zur Nobilitierung ein mir schleierhaftes Zitat des Philosophen Roland Barthes voranstellte [...] Die prüfenden Professoren in Raum J305 liebten mich für dieses Zitat und für meine Hornbrille und für mein kunsteuphorisches Auftreten vermutlich auch. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil extemporierte über sein eigenes wildes Studium in den Siebzigern und seine Barthes-Lesenächte. Ich wiederum lachte viel und an den richtigen Stellen. »Willkommen in Hildesheim!«, rief Ortheil. 
Vorgänge wie dieser dürften allen Studierenden bekannt sein, die nicht zum dynastischen Betriebsgenudel gehören, sprich: kein akademisch gebildetes Elternhaus haben. Man wird der an den richtigen Stellen lachenden Ärztetöchter und Lehrerinnensöhne ansichtig, kommt sich neben ihnen unscheinbar und fehl am Platze vor und erkennt schließlich, dass man zwischen zwei Optionen zu wählen hat: Entweder man verweigert die Anpassung und arbeitet (sofern man überhaupt bis zum Ende des Studiums durchgehalten hat) mit Mitte Dreißig lustlos an einer Dissertation, lustlos betreut von einem sich nach der Emeritierung sehnenden Prof, sofern man nicht ohnehin die meiste Zeit mit Jobben beschäftigt ist, um die Miete fürs WG-Zimmer aufzubringen (während die Ärztetöchter und Lehrerinnensöhne ein eigenes Büro haben, in schicken Klamotten auf Tagungen herumstehen und eifrig netzwerkeln). Oder man macht sich daran, durch hartes Training den von Kessler beschriebenen Habitus zu erlernen und hofft, dass die kleinbürgerliche oder proletarische Herkunft für die lieben Kommiliton_innen irgendwann nicht mehr erkennbar ist. Wenn Kessler behauptet, dass dieser Anpassungsdruck gerade auch im Literaturbetrieb vorhanden ist, dann glaube ich ihm sofort. Aber es geht ihm nicht primär um die Nöte des akademischen Prekariats, sondern um die Folgen für die Literatur selbst, und da lautet Kesslers Urteil: Der Betrieb tut »alles Mögliche, bloß nicht ausgerechnet die Literatur mit abweichenden Stimmen und Erfahrungshintergründen anreichern«.

Kessler erhebt in seinem Text keine Forderungen, weshalb sofort die Feuilletonmühle anlief und zu ergründen versuchte, welche Konsequenzen denn nun zu befürchten seien. Marc Reichwein fragt sich zutiefst erschüttert in der Welt, was Kessler wollen könne: »Weniger Lehrer- und Ärztekinder zum Literaturstudium zulassen? Soll das Ausbildungs- und Stipendiensystem des deutschen Literaturbetriebs Sozialquoten einführen?« Dann erfahren wir, dass Kesslers Ausführungen schlimme Dinge, nämlich Sozialneid, Sozial-Outing und Sozialromantik enthalten. Zum Schluss erhebt Reichwein mahnend die Stimme: »Doch schreibende Milieus kann man nicht züchten. Eine Quotenregelung für Arbeiter und Werktätige hat auch im Bitterfelder Weg der DDR nie funktioniert.« In einem gesellschaftlichen Klima, in dem aus der Hamburger CDU Forderungen laut werden, linken Demonstrierenden das Studium zu verbieten, könnten DDR-Vergleiche ja durchaus Sinn machen. Hier aber nicht, denn niemand hat eine solche Quote, wie Reichwein sie fürchtet, verlangt. Tja, so ist die Welt. Ich warte darauf, dass sie die Abschaffung der Ampelmännchen fordert, denn die sind schließlich in der DDR erfunden worden. Weg mit der Sozialromantik an den Straßenkreuzungen!

In der Zeit selbst wurde zweimal auf Kessler geantwortet. Nora Bossong tadelt, dass er sich »keinen Millimeter von der ihm liebsten Ausdrucksform wegbewegt, dem bürgerlichen Roman nämlich« und empfiehlt eine Auseinandersetzung mit Gramscis Konzept der organischen Intellektuellen. Christoph Schröder dagegen ist richtig wütend: »DIE Literatur, die es ja als solche nicht gibt: Sie hat kein Problem, nicht im deutschsprachigen Raum, nicht heute. Das war vor zwanzig Jahren möglicherweise noch anders. Was Kessler an- und umtreibt, ist kein Literaturproblem.« Schröder treibt etwas anderes um: »Es gehört zum Schicksal der Literatur [...], dass in regelmäßigen Abständen Forderungen an sie herangetragen werden, wie sie denn nun zu sein und wohin sie zu gehen habe.« Ja, richtig. Das nennt man Literaturkritik. Schröder scheint sie ziemlich suspekt zu sein, aber immerhin kommt er zu dem Schluss, dass sie nicht schaden könne, weil die Literatur – trotz Kritik, man stelle sich vor! – schon einige Jahrtausende überlebt hat.* Etwas mehr Substanz hat Schröders Kommentar aber doch. Er will sagen, dass es sich in der deutschen Literatur »seit Langem mehr oder weniger ausgehandket und fertiggestrausst« hat. Und, möchte ich hinzufügen, ist nicht allein die Tatsache, dass wir gerade nicht über Walser reden, ein gutes Zeichen? Es mag schon sein, dass es heute besser ist als vor zwanzig Jahren. Ich bin froh über einen Autor wie den von Schröder »äußerst brillant« genannten Thomas von Steinaecker.

Aber ich zweifle, ob es angemessen ist, aus dem ›Früher war’s schlimmer!‹ zu folgern, dass heute alles super ist. In der Jungle World sind zwei Beiträge erschienen, die sich näher mit der Frage befassen, wie eine Literatur aussehen könnte, die sich nicht beschränkt auf »Coming-of-Age-Geschichten, immer wieder das Thema Nationalsozialismus, inzwischen ergänzt um die DDR-Sozialisation, dazu der ewige Dauerbrenner: die Familienchronik«. Diese Aufzählung von Enno Stahl bringt prägnant zum Ausdruck, warum es gerade heute doch ein Literaturproblem gibt, und für wen – für Leser_innen, die »für die Beurteilung von Literatur eigentlich zuständige Klientel«. Stahl macht klar, dass es nicht um einen Neuaufguss der »Literatur der Arbeitswelt« geht, aber durchaus um mehr Realismus: »Dazu braucht es tatsächliche, also glaubhafte Charaktere mit glaubhaften Biographien. Ihre soziale Herkunft sollte erkennbar sein: Wo kommen sie her, wie sind sie die geworden, die sie sind? Und natürlich auch: Was tun sie? [...] Die deutsche Gegenwartsliteratur wimmelt allerdings momentan nur so von Figuren, bei denen man gar nicht weiß, wovon sie überhaupt leben.« Das Problem sieht Stahl dabei weniger in der bildungsbürgerlichen Herkunft der Schreibenden, sondern eher darin, dass ihr Werk dieser Herkunft verhaftet bleibt, statt dagegen aufzubegehren.

Jakob Hayner, der direkt auf Stahl antwortet, macht bei diesem einen unhistorischen Realismusbegriff aus. Als ästhetisches Prinzip des Realismus sieht er »die freie Entfaltung der Sinnlichkeit [...] jenseits von Regelpoetiken«, womit die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts »für die ihm zugehörigen Künstler die Möglichkeit, sich frei zum Stoff zu verhalten«. Im 20. Jahrhundert habe sich das geändert: »[D]ie Bindung der Massen [war] zum Programm des Realismus geworden. Konservative und Nationalisten fassten den Realismus als Ausdruck des behaupteten jeweiligen Volkswesens auf. War Kunst nicht in diesem Sinne realistisch, galt sie als verkommen, gar als entartet.« Ein Vorgang, den Hayner – zumindest implizit – mit dem Übergang vom Wettbewerbs- zum Monopolkapitalismus in Verbindung bringt. Beruft man sich heute auf den Realismus, ist das für Hayner bestenfalls ein Missverständis. Stahl gegenüber trägt er sich allerdings gleich mit dem Verdacht, dass dessen Motiv »im Grunde die Missbilligung der literarischen Moderne« sei.

Es liegt auf der Hand, was an Hayners Argumentation nicht stimmt: Er ignoriert die Vieldeutigkeit des Realismusbegriffs. Ich sehe in Stahls Forderung nach Realismus jedenfalls keinen Aufruf, zur bürgerlichen Poetik des 19. oder zur Agitationsliteratur des frühen 20. Jahrhunderts zurückzukehren. Hayner meint trotzdem, ihn widerlegen zu können, indem er konstatiert: »Aufgrund der Funktionsweise der Gesellschaft ist der formale Realismus nicht in der Lage, die Realität der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.« An sich stimmt das natürlich. Kafka, nicht Fontane, drückt die Realität aus, in der wir leben. Nur hat Stahl in seinem Beitrag gar nicht den formalen Realismus im Sinn, sondern stellt interessanterweise die Frage nach phantastischen Geschichten, »die uns symbolisch dem Verständnis der Wirklichkeit näher brächten – und natürlich auch der Kritik an ihr«. Als Vorbilder für die Literatur, die er im Sinn hat, nennt Stahl die Wiener Gruppe, Helmut Heißenbüttel, Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt. Der Vorwurf, er missbillige die literarische Moderne, wirkt da reichlich gezwungen. Dennoch hat Hayners Beitrag als Aufforderung an Stahl, seinen Realismusbegriff zu präzisieren, einen gewissen Wert.

An Kessler kritisiert Hayner, er verwechsle Soziologie und Ästhetik, Genese und Geltung, wenn er eine kausale Verbindung zwischen der Klassenherkunft der Literati und ihrem Werk herstellt. Dem stimme ich teilweise zu, wie ja auch Stahl schon bemerkt hat, dass nicht die Klassenherkunft das Problem ist, sondern das Verhaftetsein in ihr. Allerdings irrt Hayner, wenn er meint, die Entstehungsbedingungen eines Werk seien vollständig abtrennbar von seiner ästhetischen Beurteilung. Das ›Bedeuten des Realen‹, das auch Hayner als Aufgabe der Literatur sieht, kann nur gelingen, wenn Literatur Erfahrungen zum Ausdruck bringt, bei denen es sich wiederum nur um die Erfahrungen der Menschen handeln kann, die Literatur produzieren und rezipieren. Alles andere wäre im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos – beziehungsweise würde nur wieder in dem Versuch enden, »lammfromm den hehren Kunstzielen [zu] dienen« (und damit das Bestehende zu affirmieren), den Stahl zu Recht kritisiert. 

Am Ende steht bei mir eine Frage: Was hat es bloß mit dem Terminus »deutsche Gegenwartsliteratur« auf sich, der lesehungrige Menschen unweigerlich dazu bringt, sich aufstöhnend von den so bezeichneten Büchern abzuwenden? Wäre ich Schriftsteller, so ein richtiger zudem, der sich nicht in Genre-Niederungen aufhält, ich würde jeden Morgen ein Bittgebet aufsagen, dass mich niemand der »deutschen Gegenwartsliteratur« kommensurieren möge. Vielleicht wäre die Distanznahme von diesem abscheulichen Begriff ja der erste Schritt zu einer spannungsreicheren, wagemutigeren Literatur in deutscher Sprache.

* Seltsamerweise behauptet Wikipedia, dass Schröder selber Literaturkritiker sei. Der vierte Unterpunkt, das müsste er sein. Wieder mal zeigt sich, wie notorisch unzuverlässig dieses Enzyklopädieprojekt ist.

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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.