Sonntag, 27. Oktober 2013

Asterix bei den Pikten

Nachdem ich mir gestern abend den neuen Asterix-Band zu Gemüte geführt habe, muss ich sagen: Euphorisiert bin ich nicht, aber ganz angetan. Als einschneidende Veränderung gegenüber den letzten von Albert Uderzo gezeichneten Bänden ist mir aufgefallen, dass in Asterix bei den Pikten eine Rückkehr zu den Anfängen versucht wird. Während die Reihe sich vorher weitgehend um sich selbst drehte und mit bemühten metafiktionalen Kapriolen aufwartete, gibt es hier ein klassisches Reiseabenteuer, das an Bände wie Asterix bei den Briten und Asterix in Spanien erinnert.

Ich gehöre nicht zu denjenigen, die am liebsten alles vergessen würden, was seit René Goscinnys frühem Tod 1977 von Uderzo im Alleingang getextet und gezeichnet wurde. Natürlich steht fest, dass keiner der seit Der große Graben erschienenen Bände an die Gemeinschaftswerke von Goscinny und Uderzo heranreicht. Noch der letzte von Goscinny geschriebene Band, Asterix bei den Belgiern, war eine Großtat. Danach wirkte alles, auch die gelungeneren Geschichten wie Die Odyssee und Asterix im Morgenland,* vergleichsweise fad, und das lag nicht nur daran, dass Uderzo nicht an Goscinnys Humor und sein Gespür für dynamische Plots herankam. Auch die Zeichnungen selbst sahen nicht mehr so brillant aus wie vorher. Es scheint, als habe Goscinny nicht nur sein eigenes einzigartiges Können wieder und wieder unter Beweis gestellt, sondern auch das Talent seines Partners Uderzo befeuert.

Dennoch gestehe ich den in den Achtzigern herausgekommenen Bänden zu, dass sie eher durchmischt als schlecht sind: Auf einen ziemlichen Reinfall folgte ein liebevoll gestaltetes Reiseabenteuer (unvergessen die Episode, in der Asterix und Obelix in der Wüste nacheinander den Kriegsscharen sämtlicher mesopotamischer Großreiche, von Sumer bis Medien, über den Weg laufen), auf eine durchwachsene Geschichte (in der sich platte Situationskomik sehr unvorteilhaft mit einem ödipalen Drama mischt, das man Uderzo in dieser Unverfrorenheit gar nicht zugetraut hätte) wiederum ein Reiseabenteuer, das mit seinen ernsten Untertönen und Andeutungen von Grausamkeit an den zwölf Jahre früher erschienenen Band Asterix bei den Schweizern erinnert.

In den Neunzigern erfolgte dann der totale Absturz. Uderzo verwandelte sich in den Peter Scholl-Latour des Comics, in ein mit hohlen Meinungen um sich werfendes Fossil, das zu allen Entwicklungen der Zeit etwas zu sagen hatte und dabei doch immer nur seine Vorgestrigkeit zur Schau stellte. Bände wie Asterix und Maestria und Gallien in Gefahr dienen nahezu ausschließlich der Verbreitung von Uderzos chauvinistischem Weltbild, hinter dem so etwas wie ein Plot nur in rudimentären Ansätzen zu erkennen ist. Auch da, wo stärker die Form der klassischen Bände aus den siebziger Jahren bewahrt bleibt (Abenteuer im Dorf – Abenteuer auf Reisen), wird es nicht besser, denn Uderzo reduziert die von Goscinny so liebevoll charakterisierten Figuren systematisch zu Klischees ihrer selbst. Was vorher lebendige, skurrile Eigenheiten waren, sind jetzt nur noch Aufhänger für schlechte Witze. Hinzu kam eine Entwicklung, die angetan war, der Reihe in ihrer deutschsprachigen Ausgabe den Todesstoß zu versetzen: War der anspielungsreiche Humor des Originals 29 Bände lang von Gudrun Penndorf kongenial ins Deutsche übertragen worden, gab es ab Obelix auf Kreuzfahrt nur noch hirnverbrannte Lautmalereien, bis es nicht mehr zu ertragen war. Die von Adolf Kabatek (Band XXX) und Michael Walz (Band XXX–XXXI) angefertigten Übersetzungen stellen einen Tiefpunkt dar, der die von Uderzo verzapften Peinlichkeiten noch einmal in den Schatten stellte.

Aber zurück zu Asterix bei den Pikten. Die Nachricht, dass Uderzo den Zeichenstift endlich weitergereicht hat, sorgte bei den Fans für ein erleichtertes Aufatmen, und mit Klaus Jöken ist schon seit Band XXXII ein Übersetzer am Start, der zumindest die gröbsten Ausrutscher von Kabatek und Walz zu vermeiden weiß. Das neue, aus Jean-Yves Ferri (Text) und Didier Conrad (Zeichnungen) bestehende Team gehört einer Generation an, die mit den frühen Asterix-Bänden aufgewachsen ist, und dementsprechend wirkt das neue Abenteuer wie ein Versuch, zu den Wurzeln der Reihe zurückzukehren. Dazu passt auch Ferris Ankündigung, das nächste Abenteuer im Dorf spielen zu lassen. Genauso hielt es Goscinny in den siebziger Jahren, als er Reise- und Dorfabenteuer im Wechsel aufeinander folgen ließ. Der Zeichenstil, in dem der piktische Krieger Mac Aphon gehalten ist, geht noch einige Jahrzehnte weiter zurück und erinnert an Uderzos Figuren aus den fünfziger Jahren. Überhaupt ist Conrad als Zeichner ein Glücksgriff. Er kommt zwar nicht ganz an Uderzos Glanzzeit heran (wer würde das auch erwarten), aber die zentralen Figuren beherrscht er nahezu mit Perfektion. Allein Idefix und Majestix’ Schildträger haben mich nicht zu 100% überzeugt. Eigenständige Phantasie beweist er bei der Darstellung der Piktinnen und Pikten – klar, da muss er sich ja auch nicht an Vorbildern messen.

Autor Ferri beweist, dass er eine Geschichte erzählen kann. Asterix und Obelix finden bei einem Winterspaziergang den leblosen Mac Aphon. Nach diversen Turbulenzen, die durch die Anwesenheit des schicken Jünglings in der Dorfgemeinschaft ausgelöst werden, wird deutlich, dass Mac Aphon sich nach seiner piktischen Heimat verzehrt. Asterix und Obelix machen sich mit ihm auf den Weg nach Schottland, wo eine politische Intrige tobt. Mac Abberh, Chef eines mit Mac Aphons Leuten verfeindeten Clans, will König werden und kollaboriert dazu mit Rom. Während die beiden gallischen Helden Mac Aphon tatkräftig unterstützen, um Mac Abberhs Plan zum Scheitern zu bringen, lernen sie allerhand Eigenheiten der piktischen Gesellschaft kennen. So erfahren sie, dass Mac Aphon in einem »Patchworkclan« lebt: »Mac Abyte ist der angeheiratete Onkel von Calluna, der Adoptivnichte von Mac Mamah, die wiederum die zweite Frau meines Schwiegerpapas Mac Pomm ist, dem Patenonkel von Erica, meiner Kusine zweiten Grades von Mac Ulaturs Seite her ...«**

Insbesondere die im Dorf spielenden Szenen haben es in sich. Von Uderzos Unart, eine Story-Idee endlos auszuwalzen und die entstehenden Leerstellen mit Blödeleien aufzufüllen, ist weit und breit nichts zu erkennen. Aber nicht jeder Scherz in Asterix bei den Pikten ist gelungen: Mac Aphon, der in einem Eisblock eingefroren am Strand von Armorica angetrieben wird, spricht nach seiner Wiederbelebung durch Miraculix in Liedzeilen und Songtiteln, bevor er die Sprache wiederfindet. Das erinnert unangenehm an den müden Witz der Durchhängezeit seit den neunziger Jahren. Außerdem wird als neue Nebenfigur der Beamte Publius Plusminus eingeführt, der im gallischen Dorf eine Volkszählung durchführen soll und stark den Eindruck macht, als sei er für künftige Bände bereits als Running Gag eingeplant. Nötig hätten Ferri und Conrad so etwas nicht.

An mehreren Stellen liegt deutlich wahrnehmbar Uderzos übermächtiger Schatten über Asterix bei den Pikten. Das betrifft Inhalt wie Form: So spielt im letzten Viertel der Handlung Mac Aphons Verlobte Camilla eine zentrale Rolle, eine typische Uderzo-Frauengestalt, die an Grienoline (Der große Graben), Orandschade (Asterix im Morgenland) und Falbala erinnert, wenn sie auch etwas selbständiger agiert. Und dem Vernehmen nach hat der Altmeister seinen Nachfolgern mit Argusaugen über die Schulter geschaut und sich vorbehalten, jedes einzelne Panel zur Freigabe zu begutachten. So scheint es, dass die beiden Neuen mit diesem Band erst mal Uderzos Erwartungen entsprechen mussten und nicht zu stark eigene Wege gehen konnten. Ihren Willen, sich angesichts der Verflachungstendenz der letzten 25 Jahre auf die Stärken der Reihe zu besinnen, haben sie trotzdem kundgetan. Ferri und Conrad ist Erfolg zu wünschen, damit sie als nächstes Asterix-Abenteuer ein stärker unter Eigenregie gestaltetes Werk vorlegen können. Dann wird man sehen, welches Potential in den gallischen Raufbolden noch steckt.

Asterix bei den Pikten von Jean-Yves Ferri und Didier Conrad wurde von Klaus Jöken übersetzt und ist 2013 bei Egmont Ehapa erschienen.

* Bekloppter deutscher Titel übrigens, der zudem die Anspielung des Originaltitels (Astérix chez Rahàzade) auf Tausendundeine Nacht ignoriert.
** Lässt sich das als zaghafter Abgrenzungsversuch von Uderzo verstehen, der keine Gelegenheit ausließ, den Leser_innen sein ultrakonservatives Familien- und Geschlechterrollenverständnis unter die Nase zu reiben? Die Story böte übrigens noch mehr Gelegenheiten, mit Geschlechterklischees zu brechen, die aber leider nicht genutzt werden.

Dienstag, 8. Oktober 2013

Neuzugänge

  • Gilbert Adair, Der Tod des Autors
  • Thomas Buchanan, Das Einhorn
  • Bernard Cornwell, Der Winterkönig
  • Barbara Frischmuth, Die Mystifikationen der Sophie Silber
  • Parke Godwin, Feuerkönig
  • Martin Millar, Die Elfen von New York
  • Barış Müstecaplıoğlu, Der Feigling und die Bestie
  • Stephan Reinhardt (Hg.), Lesebuch Weimarer Republik. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1918 bis 1933
  • Peter Straub, Schattenland
  • David Henry Wilson, Der Fluch der achten Fee

Montag, 7. Oktober 2013

Krabat

Autorenlesungen können schiefgehen. Schreiben und Sprechen sind zwei Fähigkeiten, die bei Schriftstellern nicht automatisch zusammenfallen.
Otfried Preußler bringt in seine Lesung von Krabat aber so viel Charakter und Eigenheit, dass seine (etwaige – ich weiß wenig über Preußlers Leben und Ausbildung) Unprofessionalität wenig ins Gewicht fällt. Ganz im Gegenteil, es vermittelt tatsächlich etwas von dem Gefühl, persönlich vorgelesen zu bekommen. Und da gehört es eben dazu dass Preußler wohl ein wenig kurzatmig war und immer mitten in Phrasen pausiert.

Zur Geschichte muss ich wohl nichts mehr sagen; nur, dass mir das Hörbuch gekürzt erschien. Auf der Hülle ist das leider nicht ausgewiesen. Aber es ist auch etwas her dass ich das Buch gelesen habe, und ich habe die Printausgabe nicht zur Hand um dem nachzugehen. Wie dem auch sei, die Fassung, die ich gehört habe, kann durchaus für sich stehen.

Otfried Preußler: Krabat. Gekürzte (?) autorisierte (!) Lesung, gesprochen vom Autor. Universal / Karusell.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Romance, Romantik und Fantasy (2. Teil)

Im ersten Teil dieses Blogposts habe ich – ausgehend von Christoph Hardebuschs und Markolf Hoffmanns Erwiderungen auf Frank Weinreichs These von der Geistesverwandtschaft zwischen Romantik und Fantasy – gezeigt, dass erhebliche Unklarheiten bezüglich des Problems bestehen, wie alt das Genre Fantasy ist, und ob man wirklich sagen kann, dass die Wurzeln der modernen Fantasy in der Epoche der Romantik liegen – scheint doch die Romantik irgendwie etwas sehr deutsches zu sein, während die Fantasy, wie sie von Tolkien und anderen geprägt wurde, ganz klar ein angloamerikanischer Import ist. Allem Anschein nach hat Weinreichs These eher Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Im zweiten Teil des Blogposts möchte ich sie mir deshalb genauer ansehen:
Die Romantik war eine Bewegung des Aufbruchs und des Ausbruchs aus einer zunehmend rational gewordenen, aufgeklärten Welt, zurück zum Spirituellen und zur Metaphysik, zurück zum Glauben daran, dass es mehr gibt als das, was wir mit unseren Sinnen erfassen können. [...] Und genau das [...] ist es, was auch die Fantasy ganz wesentlich auszeichnet. Darin folgt Fantasy der Romantik, darin ist sie ein Kind der Romantik, der sie im Auftreten so stark ähnelt, dass man sie beinahe auch als romantische Literatur bezeichnen könnte.
So Frank Weinreich in seinem Phantastik-Couch-Artikel »Äxte am Stamm der Moderne«, der Hardebuschs und Hoffmanns Repliken herausforderte. Ich bin der Ansicht, dass sich diese These Weinreichs vor allem aus seiner eigenen Theorie der Fantasy und aus einer bestimmten Auffassung der Romantik speist. Zunächst zu letzterer.

Weinreich bezieht sich in seinem Artikel fast exklusiv auf Rüdiger Safranskis Buch Romantik. Eine deutsche Affäre. Darin unterscheidet Safranski zwischen »der Romantik« als Epoche der Literaturgeschichte und »dem Romantischen« als einer zeitenübergreifenden Geisteshaltung, die erstmals in der Epoche der Romantik aufgetreten ist, sich seitdem aber in ganz unterschiedlichen historischen Situationen bemerkbar gemacht hat. Diese Geisteshaltung ist für Safranski ein Drang zum Absoluten, der im Denken seinen Ausgang nimmt, aber nicht auf Kunst und Kultur beschränkt bleiben, sondern die ganze Welt umfassen will. Safranski – kein Literaturwissenschaftler, sondern Philosoph – findet »das Romantische« bei Schopenhauer und Nietzsche, in der bündischen Jugend und im Expressionismus, in der Lebensreformbewegung und bei Heidegger, mit dem wir bei den Nazis angelangt sind. Und damit ist auch schon klar, wo das Problem mit dieser Konzeption liegt: Das »Romantische« ist einfach Safranskis Bezeichnung für die vielfältigen Erscheinungsformen des gegen die Moderne gerichteten deutschen Irrationalismus, für all jene Bewegungen und Denkrichtungen der deutschen Geschichte, die den Willen über die Vernunft gesetzt haben und den Rausch des Absoluten der bürgerlichen Nüchternheit vorziehen.

Jegliche Trennschärfe geht dabei verloren, und wenn man Safranskis Buch zuschlägt, weiß man eines garantiert nicht: Was hat das alles mit der romantischen Literatur zu tun? Um die Antwort zu finden, muss man das Buch noch mal ganz vorne aufblättern, bevor der Autor zu seiner Tour de force über die Holzwege des deutschen Geistes ansetzt. Die Romantik, so Safranski, hat eine Entdeckung gemacht, hinter die es kein Zurück gibt: Die Autonomie des Ästhetischen. Kunst lässt sich nicht von der Ratio zähmen und unterwirft sich keinen Nützlichkeitserwägungen. Sie spielt ausschließlich nach ihren eigenen Regeln und kennt keine Kompromisse. Es folgt jedoch ein großes Aber: Leider ist die Romantik nicht dabei geblieben, sich von der Kunst bezaubern zu lassen, sondern sie unternahm den utopischen Versuch, gleich die ganze Welt zu verzaubern. So entstand die Geisteshaltung des Romantischen, die sich nie damit abfinden konnte, dass überspannte, ästhetisierende Ideen im Alltag und vor allem in der Politik nichts zu suchen haben. Die Romantik selbst hat das in ihrer längst ernüchterten Spätphase schon begriffen. Das hielt aber nachfolgende Generationen nicht davon ab, immer wieder dem Rausch des Absoluten zu verfallen und gegen den Rationalisierungsimperativ der Moderne anzukämpfen.

So weit Safranski. Weinreichs These lässt sich nun umformulieren: Das Romantische findet sich auch in der Fantasy, somit ist die Fantasy mit der Romantik verwandt. Allerdings ist das Romantische in der Fantasy nicht so gefährlich utopisch, wie Safranski es zeichnet, sondern liegt gewissermaßen in depotenzierter Form vor:
Fantasy ist nur beinahe romantische Literatur, denn in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheidet sie sich von den geistigen Erzeugnissen der Romantik [...]. Die Dichter und Denker der Romantik glaubten, zumindest mehrheitlich und zu der Zeit als sie ihre Gedanken aufschrieben und publizierten, an die Überzeugungen, die sie ausdrückten. Und ihre Leser- und Zuhörerschaft folgte ihnen dabei: auch das Publikum glaubte an die Ideen der Romantik. [...] Dichter und Publikum waren sich einig darin, dass es sinnvoll ist, Novalis’ blaue Blume zu suchen. Dieser Glaube ist der Fantasy nicht mehr gegeben. 
Wenn man Weinreich Glauben schenkt, ist die Verwandtschaft zwischen Romantik und Fantasy eher weltanschaulicher als literarischer Natur. Sie liegt in geteilten Überzeugungen – allerdings ohne dass diese Überzeugungen in der Fantasy geglaubt würden. Spätestens jetzt muss man sich fragen, welchen Zweck es haben soll, anhand von Safranskis Begriffen eine Übereinstimmung zwischen Romantik und Fantasy zu behaupten. Das Romantische Safranskis ist das Dionysische Nietzsches, kombiniert mit ausuferndem Subjektivismus: Nicht nur Rausch und Unendlichkeit, sondern der Glaube, Rausch und Unendlichkeit willentlich herbeiführen zu können. Fehlt aber der Glaube, dann fehlt auch der Wille, und wenn der fehlt, dann bleibt von Safranskis Konzeption nichts übrig. Safranski sagt, das Romantische sei »Unbehagen an der Normalität« und »eine Ekstase der Hingabe«. In der Fantasy kann man so was haben, sagt Weinreich, ohne dass irgendwer – die Leserin, der Autor, das Werk selber – es für echt hält. Frage: Wie empfindet man unechtes Unbehagen und nicht geglaubte Ekstase?

Safranskis Theorie des Romantischen führt hier nicht weiter, weil Weinreich an Safranski vorbeiredet. Die romantische Geisteshaltung, wie Safranski sie definiert, ist keine literarische Kategorie und taugt deshalb nicht dafür, Gemeinsamkeiten zwischen Romantik und Fantasy als Literatur ausfindig zu machen. Es mag ja sein, dass diejenigen, die vom Romantischen à la Safranski erfüllt sind, auch heute noch den Baum der Moderne mit Axthieben traktieren (um Weinreichs Titel-Metapher aufzugreifen). Aber den durchschnittlichen Leser_innen von Fantasy fehlt nicht nur der Glaube ans Axtschwingen, sie halten auch gar keine Axt in der Hand, und deshalb macht ein Vergleich auf dieser Ebene keinen Sinn – jedenfalls dann nicht, wenn es darum gehen soll, Übereinstimmungen festzustellen.

Ich gehe zum nächsten Punkt über: Weinreichs Auffassung von Fantasy. Wie kommt es überhaupt, dass Weinreich im Zusammenhang mit Fantasy solche großen Worte wie Metaphysisches, Spirituelles, Glaube an mehr »als das, was wir mit unseren Sinnen erfassen können« einfallen?

Wie bereits angedeutet, hängt das vor allem mit der funktionalen Definition von Fantasy zusammen, die Weinreich in seinen Veröffentlichungen zum Genre vertritt. In »Äxte am Stamm der Moderne« sagt Weinreich bündig: »Fantasy, das sind nicht geglaubte Mythen.« Diese Aussage impliziert, dass Fantasyliteratur irgendetwas enthält, woran früher einmal geglaubt wurde, heute aber nicht mehr. Weinreich benutzt dafür eine ganze Reihe von Bezeichnungen, die zudem unterschiedlichen Wissensgebieten entnommen sind, z.B. der Philosophie (Metaphysik) und der Religion (Spiritualität, Glaube).* Insbesondere meint Weinreich, dass der Glaube, der der Fantasy abhanden gekommen sein soll, der Romantik noch weitgehend zu eigen war: »Die Romantik bediente sich des Mythos, des mythischen Denkens und der mythischen Überlieferungen und glaubte zumindest teilweise an ihre Wahrheit.«

Angesichts der terminologischen Unklarheiten ist nicht ganz einfach herauszufinden, was Weinreich an dieser Stelle eigentlich meint. Hier also mein Versuch, den Knoten aufzudröseln: Weinreich hat recht, wenn er sagt, dass die Romantik sehr am mythischen Denken interessiert war. In der Tat bestand einer der großen romantischen Beiträge zur Ästhetik darin, dass sie die schöpferischen Möglichkeiten der Einbildungskraft stark machte. Die menschliche Einbildungskraft (man könnte auch sagen: die Phantasie) ist in der Lage, sich rein imaginäre Dinge vorzustellen – magische Wesen, surreale Geschehnisse, auf dem Kopf stehende Welten. Vorstellungen dieser Art lassen sich durchaus als Mythen bezeichnen, im Sinne des griechischen Wortes μῦθος, das eine fiktive, sagenhafte oder unglaubwürdige Geschichte bezeichnet. Die Fähigkeit, solche Vorstellungen zu entwickeln macht das Schreiben von Fantasy zuallererst möglich, und es ist in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung, dass als erster der englische Romantiker Samuel Taylor Coleridge das Erfinden und Beschreiben des rein Imaginären zu einem zentralen Problem der Poetik gemacht hat. Auf Coleridge bezieht sich Tolkien in seinem Essay »On Fairy-Stories«, dem wohl wichtigsten Beitrag zu einer Theorie der Fantasy. Damit wäre eine erste Verbindung zwischen Romantik und Fantasy festgestellt: Die romantische Ästhetik hat wichtige theoretische Einsichten in die Bedingungen geliefert, die Fantasy als Literaturform möglich machen (mehr dazu im dritten Teil).

In diesem Sinne kann man sagen, dass die Romantik an die Wahrheit des mythischen Denkens glaubte. Präziser ausgedrückt glaubte die Romantik, dass Mythopoeia (wie Tolkien das Erfinden rein imaginärer Dinge bezeichnete) eine wichtige menschliche Fähigkeit und Voraussetzung aller Literatur ist. Etwas anderes wäre es, Weinreichs Aussage so zu lesen, als ob die Romantik daran glaubte, den Inhalten des mythischen Denkens käme auch außerliterarische Realität zu – als hätte E.T.A. Hoffmann z.B. an die wirkliche Existenz der Elementargeister, die er sich für seine Erzählung Der goldne Topf ausdachte, geglaubt. Allein die Annahme klingt ziemlich überspannt. Und doch: Wenn Weinreich sagt, Fantasy sei »nicht geglaubte Mythen«, dann ist das doch jedenfalls so zu verstehen, dass (vernünftigerweise) weder die Autorin noch der Leser eines beliebigen Werks der modernen Fantasy, in dem Elementargeister vorkommen, an die Existenz derselben glaubt. Als zentralen Unterschied zwischen Fantasy und Romantik sieht Weinreich aber, dass die letztere »zumindest teilweise« an die Wahrheit der Mythen glaubte. Was bei Weinreichs Formulierungen nicht ausreichend klar wird, ist, dass der »Glaube« der Romantik an das mythische Denken keineswegs das abergläubische Äquivalent zu den nicht geglaubten Mythen der heutigen Fantasy ist (auch dazu mehr im dritten Teil).

Im Hintergrund von Weinreichs Überlegungen steht die berühmte These von der Entzauberung der Welt, die der Soziologe Max Weber aufgestellt hat. Damit ist die tiefgreifende Veränderung gemeint, die die stetig zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von Technik und Wissenschaft mit sich bringt: Waren die Menschen früher überzeugt, dass die Natur sich durch Anwendung magischer Mittel beherrschen ließe, wird dieser Glaube zunehmend durch einen anderen ersetzt, nämlich die Beherrschung der Natur durch »technische Mittel und Berechnung«, wie Weber sagt. Oft wird diese These mit der Annahme verbunden, dass dem Menschen durch die Entzauberung etwas verloren ginge, denn Magie ist nicht nur ein Mittel zur Naturbeherrschung, sondern vermag (anders als die Technik) den Menschen auch emotional zu binden. Hier kommt Weinreich zufolge die Fantasy ins Spiel. Sie enthält jede Menge Magie, an die die Leser_innen natürlich nicht glauben – von der sie aber wenigstens für die Dauer der Lektüre träumen können. Die verzauberten fiktiven Welten der Fantasy kompensieren die Leser_innen zeitweilig für die entzauberte reale Welt. In diesem Kompensationsvorgang sieht Weinreich die Funktion der Fantasy in der gegenwärtigen Gesellschaft.

Das ist eine starke These, die einiges für sich hat. Sie greift das auf, was der Fantasy regelmäßig zum Vorwurf gemacht wird – dass sie eskapistisch sei –, und behauptet, gerade die temporären Fluchtangebote aus der entzauberten Welt seien es, die die Fantasy so nützlich machten. Fantasy ist gewissermaßen eine kleine Entschädigung für das große Verlustgefühl, das die Menschen in der entzauberten Welt erleben. Dabei sind die Fluchtangebote der Fantasy im Grunde harmlos, denn die Menschen fliehen ja nicht wirklich, sondern ziehen sich nur augenblicksweise zum Träumen zwischen zwei Buchdeckel zurück. Doch die Stärke von Weinreichs These ist gleichzeitig ihre Schwäche, denn es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob Fantasy für die Mehrzahl der Leser_innen wirklich die Funktion hat, sie durch Eskapismus für die Ödnis des Alltags zu entschädigen (und sie gerade durch diese vermeintliche Flucht zu integrieren, denn wer von einem besseren Leben nur in Büchern träumt, passt sich vielleicht umso besser in die bestehenden Verhältnisse ein). Das herauszufinden, wäre die Aufgabe einer gesellschaftskritischen Literatur- und Kultursoziologie, aber die hat sich jahrzehntelang darüber gestritten, ob die Lektüre von Märchen, Fantasy und Horrorgeschichten (oder andere Genres der sogenannten Unterhaltungsliteratur) die Menschen passiv oder widerständig macht, ohne dass sie zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen wäre.

Aber mal angenommen, Weinreich hätte recht mit seiner Beschreibung der Fantasy als Literatur, die für die Entzauberung der Welt kompensiert. Dafür hätte sie von Seiten der Romantik sicherlich einigen Widerspruch erhalten. Denn die romantische Bewegung war durch und durch antikompensatorisch eingestellt. Weinreich selbst bestätigt das: »[D]ie Romantik war auch eine Bewegung des Neuanfangs, geboren aus der Erfahrung der französischen Revolution. Denn der Sturz der absoluten französischen Monarchie war in gewisser Weise herbeigeschrieben worden; Dichter und Denker gehörten zu ihren Protagonisten. Damit war der Beweis erbracht, dass Denken und Schreiben die Welt verändern können.« So lässt sich in der Tat das Programm der deutschen Frühromantik und insbesondere ihres herausragenden Kopfes Friedrich Schlegel beschreiben. Das romantische Denken war nicht kompensatorisch, sondern synästhetisch: Was die Französische Revolution im politischen Bereich bedeutete, das war Schlegel zufolge die Subjektphilosophie Kants und Fichtes im Bereich der Wissenschaft. Zu diesen politischen und wissenschaftlichen Revolutionen musste es auch eine Entsprechung im Bereich der Kunst geben, eine Revolution der Poetik und der Phantasie. Diese dritte Revolution durchzuführen, sahen die romantischen Schriftsteller_innen als ihre Aufgabe an. Literatur war für sie keine Sonntagsbeschäftigung, sondern stand in einem radikalen Gegensatz zum bürgerlichen Kulturverständnis. Die programmatische Forderung der Romantik lässt sich insofern nicht nur als Aufruf zur Wiederverzauberung der Welt (den man durchaus kritisieren kann) verstehen, sondern auch als Versuch zur Befreiung der Phantasie von allen Fesseln, die ihr in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt werden.

Der zweite Teil meines Blogposts hat also zu folgenden Ergebnissen geführt: Rüdiger Safranskis Konzeption des Romantischen als Geisteshaltung ist nicht gerade hilfreich, wenn es um Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Romantik und Fantasy geht, weil er nur wenig mit Literatur zu tun hat. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass Frank Weinreichs auf Webers Theorem von der Entzauberung der Welt basierende Definition der Fantasy eher im Gegensatz zur Literaturkonzeption der deutschen Frühromantik steht. Aber vielleicht hätten die Romantiker_innen die Fantasy (die es um 1800 herum in ihrer heutigen Form natürlich noch nicht gab) gar nicht so gesehen, wie Weinreich das tut? Im dritten Teil soll es um die literaturgeschichtlichen Ursprünge der Fantasy im 18. und 19. Jahrhundert und ihre Beziehungen zur Romantik gehen, wie ich sie sehen würde.

* Dabei passiert es mitunter, dass ihm die Begriffe »transzendent« und »transzendental«, die sehr Unterschiedliches meinen, durcheinander geraten.

Literatur:
  • Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, München/Wien 2007.
  • Schlegel, Friedrich, Kritische und theoretische Schriften, Stuttgart 1978.
  • Tolkien, John Ronald Reuel, Tree and Leaf, London 2001.
  • Weber, Max, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 2013.
  • Weinreich, Frank, Fantasy. Einführung, Essen 2007.

Romance, Romantik und Fantasy (1. Teil)

Kürzlich hat in diesem Forum jemand auf Frank Weinreichs Ansichten über die Beziehung zwischen Fantasy und Romantik hingewiesen, was mich veranlasst hat, dort einige Repliken auf Weinreich zu verlinken. Irgendwie geht mir das Thema gerade nicht aus dem Kopf, weshalb ich versuchen möchte, selbst einige Gedanken dazu zu formulieren.

Frank Weinreich, bekannt als Tolkien-Forscher und Verfasser von Fantasy. Einführung, veröffentlichte zunächst einen »Äxte am Stamm der Moderne« betitelten Artikel auf den Seiten der Phantastik-Couch. Die Autoren Christoph Hardebusch und Markolf Hoffmann verfassten, ebenfalls für die Phantastik-Couch, Repliken auf Weinreichs Artikel, die man hier bzw. hier finden kann. Auf seiner Website veröffentlichte Weinreich daraufhin eine erweiterte Fassung seines Artikels unter dem Titel »Fantasy im Aufbegehren gegen die Moderne«, in der er auf Hardebuschs und Hoffmanns Kritik eingeht. Sehr lesenswerte Ausführungen zum Thema bietet auch eine auf Skalpell & Katzenklaue erschienene Reihe von Blogposts: »J.R.R. Tolkien und das Erbe der Englischen Romantik«.

Weinreich konstruiert eine Verbindung zwischen Romantik und Fantasy, die nicht primär literaturgeschichtlicher Natur ist, sondern eher auf der These beruht, dass Romantik und Fantasy die gleiche Geisteshaltung zugrunde liege. Die romantische Auffassung, dass hinter den Erscheinungen der Welt eine dem Menschen verloren gegangene, nichtsdestotrotz aber höchst erstrebenswerte All-Einheit – das berühmte Lied, das in allen Dingen schläft – verborgen liege, lässt sich Weinreich zufolge auch in der Fantasy finden. Allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Während die Romantiker_innen wirklich an ihre Weltanschauung glaubten, gehe die Fantasy mit dem romantischen Projekt der Wiederverzauberung der Welt sozusagen in unernster Weise um. Sie greife das romantische Projekt auf, ohne daran zu glauben.

Ich halte es für ein Missverständnis sowohl der Romantik als auch der Fantasy, beide auf diese Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Und ich glaube, dass dieses Missverständnis dadurch zustande kam, dass Weinreich eine bestimmte Auffassung der Romantik (die Rüdiger Safranskis) mit seiner eigenen Auffassung der Fantasy kombiniert.

Doch zunächst einige Worte zu den Repliken auf Weinreichs Artikel. Christoph Hardebusch geht nur flüchtig auf dessen Inhalt ein, u.a. indem er die »sehr enge Perspektive« kritisiert, die Romantik als »deutsches Phänomen« ansieht und ihr damit »in ihrer Nationalgrenzen überschreitenden Weitläufigkeit« nicht gerecht wird. Hardebuschs eigentlicher Punkt ist jedoch, was er als Motivation hinter Weinreichs Artikel vermutet:
Schon ein kurzer geschichtlicher Rückblick zeigt, dass Fantasy ein recht junges Genre ist. Benutzt man den Begriff im heutigen Sinne, kann man ihre Anfänge im angehenden 20. Jahrhundert verordnen [sic!]. Der Beginn von dem, was auch Weinreich „moderne Fantasy“ nennt, kann sehr grob mit dem Erscheinen der amerikanischen TB-Ausgabe von Der Herr der Ringe in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts veranschlagt werden, wobei hier nicht ältere Klassiker des Genres wie E.R. Eddison, Mervyn Peake oder auch Fritz Leiber und Robert E. Howard unterschlagen werden sollen.
Diesem jungen Genre wird eine Skepsis entgegen gebracht, die durchaus verständlich ist. [...] Im Zusammenhang mit dieser Skepsis ist Weinreichs Essay problematisch. Denn es hat den Anschein, als ob versucht wird, eine Blöße der Fantasy zu verdecken, und ihr das Mäntelchen der romantischen Legitimation umzuhängen. [...] Aber die Fantasy sollte sich nicht ihre eigene Deutungshoheit nehmen lassen und sollte nicht Idealen hinterher hecheln, die sie per definitionem nicht erreichen kann. Es gibt die China Miévilles, die R. Scott Bakkers, die Peter S. Beagles, die Tobias O. Meißners und viele mehr. Wenn diese Autoren der Fantasy nicht Anspruch geben, wird keine noch so eloquent herbei gewünschte Verbindung zur Romantik das tun.
Markolf Hoffmann geht ausführlicher als Hardebusch auf das Bild ein, das Weinreich von der Romantik zeichnet, und weist zudem auf die literaturgeschichtlichen Lücken in dessen Argumentation hin:
[D]ie literaturhistorischen Spuren, die sich zwischen Fantasy und deutscher Romantik erkennen lassen, sind ausgesprochen dünn. Die Fantasy entstammt der angloamerikanischen Phantastiktradition; allenfalls läßt sich eine Beeinflussung durch die sogenannte „Schwarze Romantik“ einer Mary Shelley oder eines Lord Byron auf Autoren wie Howards [sic!], Leiber, Tolkien oder Lord Dunsany belegen. Inwieweit aber ein Spätromantiker wie E.T.A. Hoffmann, dessen Werk häufig als Ursprung moderner Phantastik angesehen wird, auf die Fantasy einwirkte, sei dahingestellt. Die Fantasy nur als Spielart der Phantastik und damit als verlängerten Zweig der Romantik zu begreifen, hieße auch ihre Entwicklung in den letzten drei Jahrzehnten zu unterschätzen; vielmehr hat diese Gattung längst ihre eigenen Motive, Stereotypen und Traditionen entwickelt. Aus dem gleichen Grund halte ich auch wenig davon, den Terminus „Fantasy“ im deutschen Sprachraum durch „Phantastik“ zu ersetzen, da so die Eigenheiten der Gattung und ihre angloamerikanischen Wurzeln verleugnet werden. Wenn heute deutsche Autoren Fantasy schreiben, berufen sie sich eben nicht auf Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann oder Achim von Arnim, sondern auf englische und amerikanische Vorbilder – bewusst oder unbewusst. 
Ich stimme Hardebusch und Hoffmann in diesen Punkten zu, bin aber dennoch der Ansicht, dass etwas dran ist an der Verbindung zwischen Romantik und Fantasy. Hoffmann hat völlig recht, wenn er sagt, dass die heutige deutschsprachige Fantasy in unmittelbarer Kontinuität zur angloamerikanischen Fantasy steht, wie sie von den (in den beiden Zitaten genannten) Autoren Dunsany, Eddison, Howard, Tolkien, Peake und Leiber begründet wurde. Ein vergleichbarer Bezug zur Phantastiktradition der deutschen Romantik besteht dagegen nicht. Der Hinweis auf die Terminologie sagt alles: Wer in Deutschland von Fantasy spricht, meint eine Sache, und wer von Phantastik spricht, eine andere – das scheint instinktiv klar zu sein, auch wenn oft überhaupt nicht klar ist, wo genau denn der Unterschied liegen soll.

Andererseits ist es (so paradox es klingen mag) wiederum eine sehr deutsche Perspektive, das angloamerikanische Vorbild so stark zu machen, wie Hoffmann es tut. Denn die englischsprachige Literaturwissenschaft, die sich mit Fantasy auseinandersetzt, ist durchaus bereit, die Phantastik Ludwig Tiecks, E.T.A. Hoffmanns und anderer als Teil ihres Forschungsgebiets anzusehen. Der 2012 erschienene Cambridge Companion to Fantasy Literature führt in seiner Chronologie wichtiger Werke, die der Entwicklung der modernen Fantasy vorausgehen, Friedrich de la Motte Fouqués Undine, »Die Elfen« von Ludwig Tieck sowie Der goldne Topf, »Nußknacker und Mausekönig« und »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann an.* Gary K. Wolfe, der einen der literaturgeschichtlichen Artikel für dieses wichtige Handbuch beisteuerte, hebt außerdem die Bedeutung der Brüder Grimm hervor.** Damit ist natürlich weder Frank Weinreichs Sicht bestätigt, noch sind die Einwände Christoph Hardebuschs und Markolf Hoffmanns entkräftet. Aber Grund genug, die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Verhältnis von (deutscher) Romantik und Fantasy noch einmal zu stellen, ist doch vorhanden.

In der Tradition Tiecks und Hoffmanns, also des romantischen Kunstmärchens, steht auch der deutsche Märchenroman des 20. Jahrhunderts. Werke wie Die Zauberlaterne von Wolfheinrich von der Mülbe, die Romane Hans Bemmanns und Michael Endes, Der Blaue Kammerherr von Wolf von Niebelschütz oder Otfried Preußlers Krabat kann man durchaus als eine deutschsprachige Parallelentwicklung zur angloamerikanischen Fantasy ansehen. Allerdings handelt es sich um eine abgebrochene Entwicklung, die aufgrund des lange Zeit die deutsche Literatur beherrschenden Realismusdogmas zu einem vorzeitigen Ende kam, und deren Bekanntheitsgrad auch in ihrem Heimatland heute nicht einmal mehr ansatzweise an den von vergleichbaren englischsprachigen Autor_innen wie Tolkien, Lewis, Rowling oder Pullman herankommt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dieser Literaturtradition und der englischsprachigen Fantasy sind meines Wissens noch kaum erforscht – was möglicherweise damit zu tun hat, dass die Phantastikforschung in Deutschland und Österreich jahrzehntelang über Fantasy (sowohl der Tolkienschen als auch der Howard–Leiberschen Variante) naserümpfend hinwegsah. Als Beispiel mag eine 1981 von Kalju Kirde herausgegebene Anthologie genügen, die Beiträge von Jean Paul und Ludwig Tieck ebenso wie von Michael Ende enthält, und im Klappentext folgende hochmütig-chauvinistische Bemerkung fallen lässt: »Zweihundert Jahre deutscher phantastischer Literatur [....] das haben deutsche den angelsächsischen Fantasy-Autoren entgegenzusetzen.« Auf angelsächsischer Seite hat man weniger Berührungsängste. Als Neil Gaiman einmal in einem Interview gefragt wurde, welche deutschen Fantasywerke er schätze, nannte er ganz selbstverständlich die Brüder Grimm und Krabat.

Es lässt sich also der vorläufige Schluss ziehen, dass die Situation einigermaßen verworren ist. Frank Weinreich behauptet, zwischen (deutscher) Romantik und zeitgenössischer Fantasy bestünden weitreichende Übereinstimmungen. Zwei deutsche Fantasyautoren erwidern ganz zu recht, dass die heutige deutschsprachige Fantasy eindeutig auf angloamerikanische Vorbilder zurückgeht. Die akademische Forschung, die sich in Großbritannien und den USA mit Fantasy (sic!) befasst, ist aber durchaus bereit, den phantastischen Erzählungen der deutschen Romantik einen Platz in der (Vor-)Geschichte der Fantasy einzuräumen. Auf der anderen Seite gibt es hierzulande eine akademische Forschung, die sich mit Phantastik (sic!) befasst und lange Zeit nicht zugeben wollte, dass der Gegenstand ihres Interesses irgendetwas mit der als blutrünstig und reaktionär verschrienen Fantasy zu tun haben könnte – obwohl besagter Gegenstand die selben Erzählungen der deutschen Romantik umfasst, auf die sich auch die englischsprachige Forschung bezieht.

Die naheliegenden Fragen lauten an dieser Stelle: Was ist eigentlich Fantasy, und wann ist sie entstanden? Wieso verortet Christoph Hardebusch die Anfänge dieses Genres »im angehenden 20. Jahrhundert«, während Gary K. Wolfe in dem bereits erwähnten Handbuch sagen kann, die Ursprünge der Fantasy als Genre lägen im ausgehenden 18. Jahrhundert?*** Es ist offenbar völlig unklar, ob man überhaupt legitimerweise davon reden kann, dass es um 1800 herum (also in der Hochzeit der Romantik) etwas der heutigen Fantasy vergleichbares gegeben hat. Im nächsten Teil dieses Blogposts soll es deshalb darum gehen, ob Frank Weinreichs Vergleich zwischen Romantik und Fantasy etwas zur Lösung dieses Problems beisteuern kann.

* The Cambridge Companion to Fantasy Literature, hg. v. Edward James u. Farah Mendlesohn, S. XVf.
** A.a.O., S. 13.
*** A.a.O., S. 11.

Literatur:
  • James, Edward/Mendlesohn, Farah (Hgg.), The Cambridge Companion to Fantasy Literature, Cambridge/New York 2012.
  • Kirde, Kalju, In Laurins Blick. Das Buch deutscher Phantasten, Bern/München 1981.
  • Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, München/Wien 2007.
  • Weinreich, Frank, Fantasy. Einführung, Essen 2007.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.