Donnerstag, 28. März 2013

Eine Liste von 16 (+ 1) berühmten Tolkienfans

Über den Tolkienisten bin ich auf eine Liste von »Famous Tolkien and Lord of the Rings fans« gestoßen, die vor anderthalb Jahren von der Tolkien Library zusammengestellt wurde. Der Titel sagt es: Die Liste zählt einen Haufen Leute auf, die »Lord of the Rings fans« sind – soll heißen, sie mögen Peter Jacksons Filme, aber bei einigen von ihnen bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie den Namen Tolkien richtig schreiben können. Höchste Zeit also, mal einen etwas genaueren Blick auf diese Liste zu werfen und zu prüfen, wie fannish die berühmten Fans wirklich sind. Das Ergebnis, das sei gleich verraten, ist eher durchwachsen. Zum Schluss führe ich noch einen vermeintlichen Fan auf, der nicht auf der Liste der Tolkien Library zu finden ist, mir aus aktuellem Anlass aber erwähnenswert erscheint.

1. Barack Obama

Barack Obama sagte in einem Gespräch mit Schulkindern über seine Lesegewohnheiten in der Adoleszenz: »I think I was getting into the Lord of the Rings and the Hobbit and stuff like that.« So, so. Er glaubt also, er habe in seiner Jugend begonnen, sich für Tolkiens Bücher zu interessieren. Aber er ist sich offenbar nicht sicher. Hier scheint mir ein typischer Fall des Vergesslichkeitssyndroms vorzuliegen, wie es Funktionäre und Politikerinnen besonders häufig befällt: Sie können sich nicht erinnern, was sie gestern oder vor einem Jahr gesagt und getan haben. Diktatoren haben gewöhnlich ein hervorragendes Gedächtnis, da sie ein stets abrufbares Verzeichnis von Leuten, die ihnen gefährlich werden könnten, im Kopf haben müssen. Das Erinnerungsvermögen von Politikerinnen und hohen Staatsbeamten in den bourgeoisen Demokratien funktioniert dagegen oft sehr selektiv, beispielsweise wenn es um »jüdische Vermächtnisse«, NSU-Aktenschreddereien oder Einflussnahme auf öffentlich-rechtliche Medien geht. Da ist es vergleichsweise harmlos, wenn Obama sich nicht genau erinnert, ob und wann er denn Tolkien gelesen hat oder nicht. Überzeugt, dass er ein Tolkienfan ist, hat er mich damit aber nicht.

Fan-Faktor: Vergesslich.

2. Margrethe II. von Dänemark

Ich halte politisch entmachtete Monarchien ja für ein sehr amüsantes Spektakel. Während die Demokratie im Spätkapitalismus behauptet, jeder Mensch könne einem Staat vorstehen, diesen Anspruch in ihrer Praxis aber ständig konterkariert, so zeigt die repräsentative Monarchie doch zumindest eins: Jeder Depp kann einem Staat vorstehen. Auch Königin Margrethe fällt nicht immer nur durch schlaue Bemerkungen auf, neigt aber grundsätzlich dazu, die Deppenrolle ihrem Ehemann, dem Prinzgemahl Henrik, zu überlassen. Außerdem ist sie als Malerin und Kostümdesignerin tätig. Sie hat den Lord of the Rings illustriert und ist starke Raucherin. Vor allem letzteres spricht dafür, dass sie ein authentischer Tolkienfan ist.

Fan-Faktor: Authentisch.

3. Árpád Göncz

Göncz war von 1990 bis 2000 Präsident von Ungarn. Der liberale Politiker war am antistalinistischen Aufstand 1956 beteiligt, der (ähnlich wie der Arbeiter_innenaufstand in der DDR 1953 und der Prager Frühling 1968) durch sowjetische Truppen niedergeschlagen wurde. Er ist außerdem Berater der Victims of Communism Memorial Foundation, in der sich unsympathische Reaktionäre wie George W. Bush und Richard Pipes die Klinke in die Hand geben. Die ultrarechte Stiftung betreibt mit großem Eifer die Gleichsetzung von realsozialistischen und faschistischen Verbrechen und relativiert die historische Alleinstellung des Holocaust. Nachsehen kann man Göncz diesen schlechten Umgang höchstens, wenn man sich vor Augen führt, dass er (anders als antikommunistische Labersäcke wie Pipes) tatsächlich ein Opfer des Stalinismus ist. Göncz hat den Farmer Giles of Ham und den Lord of the Rings ins Ungarische übertragen und seiner Bewunderung für JRRT 1992 auf der Tolkien Centenary Conference in Oxford Ausdruck verliehen.

Fan-Faktor: Nicht zu leugnen.

4. Stephen Colbert

Stephen Colberts Witzeleien über GOP-Politik und rechte Meinungsmacher_innen in den US-Medien finde ich zwar nur mäßig unterhaltsam, aber man muss ihm zugestehen, dass er über mehr als nur oberflächliche Kenntnisse von Tolkiens Legendarium verfügt und schon einige Male in der Lage war, die anbiedernden LotR-Anspielungen republikanischer Politiker bloßzustellen – so geschehen mit Rick Santorum und mit John McCain.

Fan-Faktor: Vorhanden.

5. James Franco

Der ist wohl nur in dieser Liste gelandet, weil er im Colbert Report einmal mit Nr. 4 einen kurzen Disput über die Frage, wer von beiden der größere Kenner des Legendariums ist, ausgefochten hat. Franco hat sich schnell disqualifiziert, weil er vom Silmarillion offenkundig wenig Ahnung hat. Auf Colberts Fangfrage, warum Galadriel von Valinor nach Mittelerde gekommen sei, gibt er die nicht ganz unzutreffende, aber dennoch falsche Antwort, dass sie auserwählt worden sei, ein Mitglied des Weißen Rates zu werden. Nun gehörte Galadriel zwar im Dritten Zeitalter dem Weißen Rat an, aber von dem war während des Auszugs der Noldor aus dem Segensreich natürlich noch gar nicht die Rede.

Fan-Faktor: Netter Versuch.

6. Christopher Lee

Lees Ansehen als Tolkienfan muss ich nicht eigens unterstreichen. Erwähnenswert ist aber, dass er an Aufnahmen des Tolkien Ensembles beteiligt war (so singt er etwa »Treebeard’s Song«), dessen Albumcover gelegentlich von Illustrationen Margrethes von Dänemark geschmückt werden.

Fan-Faktor: Beeindruckend.

7. Nicolas Cage

Das von der Tolkien Library als Beweis angeführte Zitat überzeugt mich nicht. Wer eine Lieblingsstelle in Peter Jacksons Filmtrilogie nennen kann, ist deswegen noch lange kein Tolkienfan. Und der bloße Zufall, dass er mal für die Rolle von Aragorn im Gespräch war, trägt natürlich nichts zu seinem Fan-Faktor bei. Übrigens: Nix gegen Cage, aber einen guten Aragorn hätte er mit Sicherheit nicht abgegeben.

Fan-Faktor: Zweifelhaft.

8. Megan Fox

Fox hat laut der Tolkien Library »an extensive knowledge of J.R.R. Tolkien’s literary classics«. Beweisen soll das dieser Artikel, der Fox mit folgenden Worten über die Fans der Filmtrilogie zitiert: »[Fans] complain that Frodo is eating the Lembas bread outside of Mordor instead of the [sic!] in the Mines of Moria. And they get really mad. You cannot focus completely on pleasing them because you’ll never win. They’ll never be happy no matter what you do.« Tja, was soll man dazu sagen? Epic fail, sowohl auf Seiten Fox’ wie auch der Tolkien Library.

Fan-Faktor: Ein schlimmer Witz.

9.  James Cameron

Der Regisseur ist auf dieser Liste gelandet, weil er in einem Interview einmal seine Lieblingsszene aus der Filmtrilogie erwähnt hat. Wie bei Nr. 7 eine reichlich dünne Beweislage, um jemanden zum Fan zu erklären. Die Tolkien Library legt sich das so zurecht, dass Cameron sein Fansein halt nicht an die große Glocke hängen würde. Außerdem erwähnt sie ganz nebenbei, dass Cameron mit Avatar in Konkurrenz zu Tolkien, Star Wars und Star Trek treten will. Verrat! Der Kerl ist kein Fan, der muss mit allen Mitteln bekämpft werden!

Fan-Faktor: Ein trojanisches Pferd.

10. Ruud van Nistelrooy

Der ehemalige niederländische Nationalspieler soll Tolkienfan sein, weil er ein Kumpel von Dominic Monaghan ist und diesem ein Man-United-Trikot mit der Aufschrift »Hobbit« geschenkt hat. Das ist zwar nett, aber mein außerordentlich empfindlicher Geek-Stolz sagt: Es ist nicht genug.

Fan-Faktor: Oberflächlich.

11. Fernando Torres und Sergio Agüero

Der Chelsea-Spieler soll der bekannteste Tolkienfan im Profifußball sein. Sagt jedenfalls die Tolkien Library. Grund: Torres hat seinen Vornamen in Tengwar auf den Unterarm tätowiert. Ähnlich der Argentinier Agüero, der seinen Spitznamen »Kun Agüero« in Tengwar auf dem Unterarm trägt. Alles klar, mehr muss ich nicht wissen: Die zwei gehören zu jener nervigen Spezies, von der pro Tag einer in den Tolkienforen aufschlägt und einen Thread mit dem Titel »Tattoo-Frage: Wie schreibt man ›Fluffi, ich liebe dich‹ auf Elbisch?« eröffnet. Laut diesem Blogpost hat Torres übrigens, wenn man es genau nimmt, nicht »Fernando«, sondern »Frennado« auf dem Arm stehen.

Fan-Faktor: Zu zweit können sie vielleicht als ein ganzer Fan durchgehen, aber als einer von der nervigen Sorte.

12. Orson Scott Card

Wenn ich dieses Kartoffelgesicht schon sehe, könnte ich kotzen. Leider (und es ergrimmt mich außerordentlich) kann an seinem Fansein wenig Zweifel bestehen. Card hat Artikel zu verschiedenen Aufsatzbänden über Tolkiens Werk beigetragen. Möge es uns eine Mahnung sein und uns nicht vergessen lassen, dass auch schlechte Menschen Tolkien lesen und studieren. Card nennt The Lord of the Rings als seinen Lieblingsroman. Sein Lieblingssachbuch ist Jared Diamonds Guns, Germs and Steel, in dem der US-amerikanische Geograph und Biologe die Überlegenheit der westlichen Zivilisation  beweisen will. Ich sagte es bereits: Ich könnte kotzen ...

Fan-Faktor: Zum Kotzen.

13. Isaac Asimov

Tolkien nennt Asimov in seinen Briefen als einen von zwei SF-Autoren, deren Werk ihm gefalle (der andere ist John Christopher). Asimov wiederum hat in Interviews und zu anderen Gelegenheiten bekannt, wie sehr er Tolkiens Werk schätzt. Dass der katholische Engländer und der jüdische Atheist sich in der Liebe zum Werk des jeweils anderen begegneten, ist eine der schönen, seltsamen Begebenheiten der Literaturgeschichte. Ich frage mich, ob Tolkien auch Asimovs Geschichten über den Dämon Azazel gemocht hätte?

Fan-Faktor: Unerwartet.

14. The Beatles

Die Jungs aus Liverpool stehen auf dieser Liste, weil John Lennon sich anscheinend mit dem Gedanken trug, The Lord of the Rings mit den Bandmitgliedern in den Hauptrollen zu verfilmen. Es ist natürlich schwer zu sagen, wie viel an dieser Geschichte dran ist. Angeblich soll Lennon Stanley Kubrick als Regisseur angefragt und sogar schon Rollen verteilt haben: Paul als Frodo, Ringo als Sam und George als Gandalf. Selber wollte er Gollum spielen. Von den Persönlichkeiten her hätte das sogar gepasst (vorausgesetzt, man hält Frodo für einen wichtigtuerischen Schönling), dennoch bin ich mir sicher: Dieser Film wäre schrecklich geworden. Einzig Lennons Gollum hätte ich doch gerne auf Zelluloid gesehen ... Da nicht ganz klar ist, ob auch die anderen Beatles als echte Tolkienfans gelten können (und ob sie Johns Enthusiasmus für eine LotR-Verfilmung teilten), zähle ich sie als insgesamt einen Fan.

Fan-Faktor: Übersprudelnd.

15. Led Zeppelin

Led Zeppelin wirken in dieser Liste etwas austauschbar, da sie ihre Aufnahme wohl der Tatsache verdanken, dass zahlreiche Prog-Rock-Acts der siebziger Jahre mehr oder minder stark von Tolkien inspiriert sind. Das reicht von Bandnamen (Marillion) über Anspielungen in Songtexten (Led Zeppelin) bis hin zu kompletten Alben wie Bo Hanssons Music Inspired by Lord of the Rings. Da liegt die Vermutung nahe, dass Led Zeppelin quasi stellvertretend für die Tolkien-Mode im Seventies-Rock genannt werden. Schaut man aber etwas genauer hin, schlägt mitunter die Geek-Hermeneutik des Verdachts Alarm. In »Ramble On« etwa finden sich die Textzeilen: »T’was in the darkest depths of Mordor, I met a girl so fair / But Gollum and the evil one crept up and slipped away with her«. So was nenne ich schlechte Fan-Fiction! Die Lyrics von »Misty Mountain Hop« können dagegen als interessantes Zeugnis für die Bedeutung Tolkiens in der Vorstellungswelt der Hippies gelten: Das lyrische Ich des Textes beschreibt, wie sich im Stadtpark treffende Hippies von der Polizei auseinandergescheucht werden, und beschließt daraufhin, sein »Gepäck für die Nebelberge« zu packen, denn diese seien der Ort, an den es die Geister zieht.

Fan-Faktor: Austauschbar, aber repräsentativ.

16. Edmund Hillary

Tja, was soll man dazu sagen? Was dem einen sein Samweis Gamdschie, ist dem anderen sein Sherpa Tenzing: Ein Gepäckträger für den Master. Und dann ist Hillarys Begeisterung für Peter Jacksons Filmtrilogie auch noch patriotisch motiviert: In Jacksons Filmbusiness liege Neuseelands Zukunft, soll der Bergsteiger gesagt haben. Der Cartoonist Tom Scott, ein Freund Hillarys, versichert jedoch, dieser sei auch zuvor schon von Tolkiens Büchern begeistert gewesen.

Fan-Faktor: Imperial.

17. Papst Franziskus

Wird ein neuer Papst gewählt, muss sich anscheinend alle Welt irgendwie mit ihm identifizieren können. Vor acht Jahren führte das in Deutschland zu in grammatikalischer und ideologischer Hinsicht besonders peinlichen Exklamationen. Gegenwärtig läuft im Fandom die Nachricht um, der neue Papst habe sich, als er noch Erzbischof Bergoglio von Buenos Aires war, mindestens an einer Stelle positiv auf Tolkien bezogen. Bergoglio steht natürlich nicht auf der 2011 zusammengestellten Liste, aber ich ergänze ihn einfach mal, denn würde die Liste heute erstellt, wäre er garantiert darauf. Denn tatsächlich findet sich in einer an argentinische Lehrer_innen gerichteten Osterbotschaft Bergoglios aus dem Jahre 2008 folgender Passus:
La humanidad siempre concibió la vida como un camino; al hombre como un caminante que, cuando nace se pone en marcha y, a lo largo de su existencia, se encuentra con personas o situaciones que lo vuelven a poner en camino (a veces con una misión, otras con una crisis). En la Biblia esta realidad es constante: Abraham es llamado a permanecer en el camino “sin saber adonde iba”; el pueblo de Dios se pone en camino para liberarse de los egipcios. Así también en la historia o la mitología de otros pueblos: Eneas, ante la destrucción de Troya, supera la tentación de quedarse a reconstruir la ciudad y, tomando a su padre a babuchas, emprende la subida al monte cuyo fin será la fundación de Roma. Otros relatos mitológicos muestran el camino humano como el retorno al hogar, a la pertenencia primigenia. Así el caso de Ulises o lo expresado tan poéticamente por Hölderlin en su Oda sobre el retorno al hogar. Tolkien, en la literatura contemporánea, retoma en Bilbo y en Frodo la imagen del hombre que es llamado a caminar y sus héroes conocen y actúan, caminando, el drama que se libra entre el bien y el mal. En toda historia y mitología humana se subraya el hecho de que el hombre no es un ser quieto, estancado, sino “en camino”, llamado, “vocado” -de aquí el término vocación- y cuando no entra en esta dinámica entonces se anula como persona o se corrompe. Más aún, el ponerse en camino se enraiza en una inquietud interior que impulsa al hombre a “salir de sí”, a experimentar el “éxodo de sí mismo”. Hay algo fuera de y en nosotros que nos llama a realizar el camino. Salir, andar, llevar a cabo, aceptar la intemperie y renunciar al cobijo… éste es el camino.
Das heißt übersetzt in etwa:
Die Menschheit hat das Leben schon immer als einen Weg aufgefasst; den Menschen als einen Wanderer, der sich im Moment seiner Geburt auf den Weg macht und im Laufe seines Lebens auf Personen und Situationen trifft, die ihn erneut zum Aufbruch veranlassen (manchmal mit einer Mission, manchmal aus einer Krise). In der Bibel begegnen wir dieser Wahrheit ständig: Abraham ist berufen, sich auf den Weg zu machen, ohne das Ziel seiner Reise zu kennen; das Volk Gottes macht sich auf den Weg, um sich von den Ägyptern zu befreien. So auch in der Geschichte und den Mythologien anderer Völker: Äneas überwindet angesichts der Zerstörung Trojas die Versuchung, zu bleiben und die Stadt wiederaufzubauen, und unternimmt mit seinem Vater auf den Schultern die Reise, die in der Gründung Roms gipfelt. Andere mythologische Erzählungen beschreiben den Weg des Menschen als Rückkehr in die Heimat, zur ursprünglichen Zugehörigkeit. So ist es im Falle des Odysseus, so hat Hölderlin es in höchst poetischer Weise in seiner Ode über die Rückkehr in die Heimat zum Ausdruck gebracht. In der Literatur der Gegenwart greift Tolkien mit Bilbo und Frodo das Bild des Menschen auf, der berufen ist, sich auf den Weg zu machen, und wandernd fechten seine Helden das Drama aus, das sich zwischen Gut und Böse abspielt. Überall in der menschlichen Geschichte und Mythologie wird bekräftigt, dass der Mensch kein still in sich ruhendes, stagnierendes Wesen ist, sondern »auf dem Weg« ist, dem Ruf folgt, »berufen« ist (daher der Ausdruck Berufung), und wenn er nicht in diese Dynamik eintritt, aufhört, Person zu sein, oder sich korrumpiert. Mehr noch, das sich Aufmachen auf den Weg hat seine Wurzeln in einer inneren Unruhe, die den Menschen dazu treibt, »aus sich heraus zu treten«, es mit dem »Auszug aus dem Selbst« zu versuchen. Es gibt etwas in uns und außerhalb von uns, das uns aufruft, den Weg zu beschreiten. Hinausgehen, wandern, Pläne verwirklichen, die Ungewissheit bejahen und den Schutz des Hauses verlassen ... das ist der Weg.
Wie man sieht, geht es Bergoglio nicht in erster Linie um Tolkien, sondern er gebraucht (neben der Bibel, Homer, Vergil und Hölderlin) Tolkiens Questehelden als Veranschaulichung für das anthropologische Epithet des Homo viator, des reisenden Menschen, wie der christliche Existenzphilosoph Gabriel Marcel es aufgestellt hat. Eine Lektüre von Marcels Buch Homo viator. Philosophie der Hoffnung (Düsseldorf 1949) könnte sich also als nützlich erweisen, wenn man herausfinden möchte, ob Bergoglio sich hier zu Recht auf Tolkien beruft.

Fest steht jedenfalls, dass dieses Zitat allein den Papst nicht zum Tolkienfan macht. Was kein Grund zur Beunruhigung ist, im Gegenteil. Bergoglio ist mir als Tolkienfan ungefähr so willkommen wie Orson Scott Card. In der Tat würden sich beide wohl prächtig verstehen, mormonische Häresie hin oder her, denn während Card sich schon länger dafür ausspricht, Homosexuellen die Bürgerrechte abzuerkennen, erblickte Bergoglio 2010 in einer Gesetzesnovelle, die die gleichgeschlechtliche Ehe in Argentinien legalisierte, einen finsteren Plan des »Vaters der Lüge«, also des Teufels persönlich. Folgerichtig rief er zu einem »göttlichen Krieg« gegen den Gesetzesvorschlag auf, der nichtsdestotrotz vom argentinischen Parlament verabschiedet wurde. Anstelle des Weges, von dem Bergoglio vor fünf Jahren in seiner Osterbotschaft so salbungsvoll sprach, beschreiten die Menschen halt gern mal Pfade zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit.

Fan-Faktor: Danke, lieber nicht.

Donnerstag, 21. März 2013

Neuzugänge

  • Carol Berg, Transformation
  • Johanna und Günter Braun, Der x-mal vervielfachte Held. Phantastische Erzählungen
  • Alan Dean Foster, Flinx’ Abenteuer. Vier Romane in einem Band
  • Alexander Grin, Der Rattenfänger. Phantastische Erzählungen
  • Marianne Gruber, Die gläserne Kugel
  • Cyril M. Kornbluth, Der Gedankenwurm. Phantastische Geschichten
  • Bruno Schulz, Die Zimtläden. Mit einem Essay von David Grossman
  • Thomas von Steinaecker, Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen

Mittwoch, 13. März 2013

Wir sind Kino

Raskolnik hat auf seinem Blog Skalpell & Katzenklaue einen Beitrag über »Teaser, Leaks und Langeweile« geschrieben – und sogleich harte Worte für sein eigenes Vorgehen gefunden: »Ich weiß, meine Reaktion ist unfair und irrational. Vielleicht auch ein bisschen versnobt. Aber ich kann nun mal nicht aus meiner Haut.« Ich dagegen finde Raskolniks Post gar nicht so irrational. Das Phänomen des viralen Marketings von Blockbustern ist nämlich auch in meinen Augen eine eigenartige, irritierende Sache. Meiner Vermutung nach kommt die Irritation daher, dass virales Marketing à la Hollywood eine nahezu perfekt funktionierende Ideologie ist.

Die meisten Ideologien sind so scheiße, dass die Menschen, würden sie sich diesen Ideologien wirklich unterwerfen, wahre Monster sein müssten. Alltagserfahrungen zeigen in der Regel aber eher, dass die meisten Menschen zwar kein besonders großes Interesse dafür aufbringen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, dies aber weniger mit der ideologischen Überzeugung, in der besten aller Gesellschaften zu leben, zusammenhängt, sondern eher damit, dass Menschen in westlichen Industriegesellschaften ausgelastet (bzw. überlastet) sind durch Stress in Haushalt oder Beruf, Angst vor dem Verlust von Privilegien und andere Dinge, die das Leben im Kapitalismus ungemütlich machen. Darüber hinaus vertreten sie meist ein ganzes Bündel von Überzeugungen, die zwar überwiegend ideologischer Natur sind, zugleich aber so widersprüchlich, dass sie eher mit einer gewissen lahmen Beiläufigkeit vertreten werden als mit Vehemenz und Überzeugung. Wenn ein Bundesminister sagt, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt werden müsse, handelt es sich um eine ideologische Aussage par excellence. Gegen solche Aussagen regt sich meistens nur punktuell Widerstand, während die meisten Leute geneigt sind, sie achselzuckend hinzunehmen oder halbherzig zu vertreten. Auffällig ist jedenfalls, dass eine solche Aussage nicht die unmittelbare Wirkung hat, die manche Ideologiekritiker_innen ihr vielleicht zuschreiben würden: So sehr die zum Handeln anleitende Funktion von Ideologien betont wird, so offenkundig ist doch, dass die Deutschen nach Peter Strucks Aussage nicht gerade in Scharen in die Rekrutierungsbüros der Bundeswehr geströmt sind. Sie hörten, aber sie fühlten sich offenbar nicht zum Handeln aufgefordert. Der Apparat funktioniert auch so, die Begeisterung der Massen braucht er nicht.*

Ganz anders stellen sich die Dinge dar, wenn man das virale Marketing von Filmen als ideologischen Apparat ansieht. Virales Marketing ist eine Ideologie, die ganz klar zum Handeln anleiten will: Die Menschen sollen ins Kino gehen, sich den beworbenen Film später womöglich noch als DVD oder Blu-ray zulegen. Und die Wirkung der Ideologie ist in diesem Fall enorm. Jeder mickrige Teaser löst im Internet begeisterte Diskussionen aus, geleakte Gerüchte werden mit Ehrfurcht und Dankbarkeit aufgenommen. In hitzigen Auseinandersetzungen werden Meinungen über Filme ausgetauscht, die noch niemand gesehen hat (ob auf der Leinwand oder als Raubkopie), weil es bis zu ihrer Fertigstellung noch Monate dauert, um von der Veröffentlichung ganz zu schweigen. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, dass mitunter die Meinungsäußerungen vor dem Kinostart lebhafter sind als danach. Leute verkünden mit gewichtiger Miene, wie ein Trailer sie überzeugt habe, sich den Film anzusehen – schließlich sei der Trailer »gut gemacht«. Man muss nur mal versuchen, diese Art des Konsumverhaltens auf andere Branchen zu übertragen, um zu merken, wie absurd das ist: Stellt euch eine Person vor, die ein Autohaus betritt und sagt, sie wolle das Modell xy kaufen, weil die hohe Qualität der Werbung sie überzeugt habe. Was bei jedem anderen Produkt als bescheuert oder naiv angesehen würde, gilt bei Filmen als völlig normal. Wer in Gesellschaft verkündet, ein Buch wegen des Covers oder des Klappentextes zu mögen, wird schräg angesehen. Wer Vergleichbares über einen Film sagt, wird wahrscheinlich als Initiator_in einer angeregten Diskussion höchst willkommen sein.

Man könnte jetzt sagen, dass die Menschen halt verarscht werden, von Bewusstseinsindustrie sprechen und anklagend auf den kommerziellen Charakter des Blockbuster-Kinos verweisen. Das ist jedoch nicht der Punkt. Einerseits kann jedes Kunstwerk zur Ware werden, auch dann, wenn seine Form der Kommodifizierung entgegenstehen mag. Und andererseits kann von Verarschung keine Rede sein. Es ist kein Geheimnis, dass die meisten Blockbuster im Grunde aufgeblasene, prätentiöse B-Movies sind, die die Ehrlichkeit und den Charme, der viele echte B-Movies auszeichnet, vermissen lassen.** Blockbuster sollen so viele unterschiedliche Publikumssegmente bedienen, dass sie in den seltensten Fällen die ästhetischen Erwartungen auch nur eines dieser Segmente in wirklich überzeugender Weise aufzugreifen vermögen. Leute sagen, dass sie sich von einem mit Hochspannung entgegengesehenen Film »einfach nur gutes Popcorn-Kino« erwarten, und meinen damit, dass sie bereits wissen, was der Film nicht sein wird: anspruchsvoll, mit Erwartungen spielend, auf existentielle Weise berührend. Keine Verarschung also. Die Leute bekommen, was sie wollen, ohne große Überraschungen. Woher dann die gespannte Erwartung? Darauf gibt es meines Erachtens (man korrigiere mich, wenn ich falsch liege) nur eine mögliche Antwort: Die Ideologie des viralen Marketings funktioniert. Die Leute freuen sich über Filme, weil die Werbung sie auffordert, sich darüber zu freuen.

Wie stark der Einfluss von Werbung im Einzelnen ist, lässt sich schwer sagen. Selten wird der Autokauf oder die Lektüreauswahl anders als mit einem Nutzenkalkül begründet bzw. damit, dass man halt einen guten Geschmack habe. Überdies sind dem Wunsch, der Werbung nachzugeben, enge Grenzen gesetzt. Der dicke Benz ist für den Chef, nicht für die Leiharbeiterin. Letztere kann sich so viel Autowerbung ansehen, wie sie will, den Benz wird sie sich nie leisten können. Vielleicht liegt darin die einzige wirkliche Täuschung, die von der Ideologie des viralen Marketings und des Blockbuster-Kinos ausgeht: Sie gibt allen, die wollen, ein Gefühl von »Ich kann es mir leisten, der Werbung nachzugeben, ich kann mitreden« – sogar denen, die das Geld für die Kinokarte sparen wollen und sich das Ding als billigen DVD-Rip ansehen. Müsste man nicht sogar ein wenig erleichtert sein, wenn heutzutage der Kult des Blockbusters auf imaginäre Weise Gemeinschaft stiftet und nicht mehr so sehr der Kult der Nation, der Rasse oder des Staates? Oder man macht sich Gedanken darüber, wie reibungslos die Maschinerie des sich selbst verwertenden Werts, die unsere Gesellschaft antreibt, funktionieren muss, wenn aufwändige Ideologieproduktion nur noch zum Zweck der Vermarktung von Unterhaltungsfilmen betrieben wird und sich in anderen Bereichen überflüssig gemacht hat.

Wie dem auch sei, irritierend bleibt es allemal. Auch und gerade in dem Bewusstsein, dass ich mitunter selbst zum akribischen Sammler werde, wenn es darum geht, Gerüchte und Informationsschnipsel über kommende Filme aus dem Internet zu schütteln, sind gemeinschaftsstiftende Rituale mir doch zutiefst suspekt.

* Damit will ich nicht leugnen, dass manche Ideologien eine enorme Wirkung entfalten können. Es handelt sich dabei aber meines Erachtens vor allem um solche, die als soziale Platzanweiser funktionieren, die weniger zum Handeln anleiten als vielmehr zum Unterlassen von Regelbrüchen, nach dem Motto »Schuster, bleib bei deinen Leisten«. Das gesamte deutsche Schulsystem ist darauf angelegt, eine solche Wirkung zu erzielen.
** In der Tat geht der gegenwärtige Blockbuster auf die erstmals in Filmen wie Jaws und Star Wars angewandte Technik zurück, Elemente aus als zweitrangig angesehenen Genres und Gattungen wie dem Monsterfilm, dem Serial und der trivialen Abenteuer-SF in große Mainstream-Produktionen aufzunehmen. 

Samstag, 9. März 2013

Neuzugänge

  • Italo Calvino, Abenteuer eines Reisenden
  • E.T.A. Hoffmann, Nachtstücke
  • Viola Roggenkamp, Familienleben
  • Philip Roth, The Plot Against America
  • Rudy Rucker, Herr über Raum und Zeit
  • Salman Rushdie, Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991 
  • Norman Spinrad, Das tropische Millennium
  • Ludwig Tieck, William Lovell
  • Guillermo del Toro, La invención de Cronos (mexikanische Ausgabe des Drehbuchs von del Toros erstem abendfüllenden Film)

Dienstag, 5. März 2013

Drachen und Giganten

Ich habe zu sogenannter Fantasy-Art ein eher gespaltenes Verhältnis. Die Klassiker, Frank Frazetta und Boris Vallejo, entlocken mir jedenfalls keine Jubelschreie, Coverillustratoren der Gegenwart wie Michael Whelan meist ebensowenig. Und was diejenigen betrifft, die sich an Tolkiens Legendarium versuchen: Die Brüder Hildebrandt finde ich zum Davonlaufen. John Howe, Alan Lee und Ted Nasmith machen dagegen in meinen Augen ganz gute Arbeit, obwohl ich auch hier zugeben muss, dass ihr Werk mich eher selten wirklich anspricht.*

Unter anderem aus diesem Grund freute ich mich sehr, als ich hörte, dass Guillermo del Toro sich bei seiner gescheiterten Hobbit-Verfilmung an Märchenillustratoren wie Arthur Rackham** orientieren wollte und auch in den Bildern, die der Meister selbst seinem Buch beigegeben hatte, Inspiration suchte. Der Film hat leider nicht sein sollen, wie wir allerspätestens seit letztem Dezember wissen, aber er hat ein paar flüchtige Spuren hinterlassen. Eine davon ist John Howes Buch Forging Dragons, zu dem del Toro ein Vorwort verfasste. Darin enthüllt der mexikanische Regisseur, dass er in El laberinto del fauno einen Drachen vorkommen lassen wollte – genauer gesagt, in dem Märchen, das Ofelia ihrem ungeborenen Bruder erzählt:
[E]in schwarzer Drache mit Hörnern, mit einem Flintstein-Berg verschmolzen und von Dornengestrüpp umgeben. Und auf dem Gipfel des Berges eine zarte blaue Rose, die dem, der sie zu pflücken wagt, Unsterblichkeit verleiht. Aber der Drache (ich nannte ihn Varanium Silex) war so grimmig, dass die Menschen lieber den Schmerz mieden, als zum ewigen Leben zu gelangen. Die Fabel war für den Kern der Botschaft des Films wichtig, aber der Drache musste trotzdem aus der Sequenz fliegen. Geld-, Ressourcen- und Zeitmangel besiegelten sein Schicksal. Doch vermisse ich ihn bis heute – denn wie die Rose ist der Drachen [sic!] ein polyvalentes Symbol. Eines, das sich je nach Mythologie wandelt, aber dennoch seine universelle Macht nicht einbüßt.
Howe hat für das Vorwort zu seinem Buch eine Bleistiftzeichnung von Varanium Silex angefertigt, die wahrscheinlich alles ist, was wir von diesem Drachen jemals sehen werden. Auch hier bleibt also nur eine flüchtige Spur, die Größeres erahnen lässt. Del Toros Worte sind ganz im Sinne Tolkiens, für den Drachen ein Objekt des Verlangens, der Sehnsucht waren. Die Sehnsucht nach Varanium Silex kann ich gut verstehen.

Leider ist das Vorwort auch schon das interessanteste an diesem Buch, das in der deutschen Ausgabe aus unerfindlichen Gründen Drachen und Giganten heißt, obwohl letztere in ihm nicht vorkommen. Der den Bildern beigegebene Text besteht zum größten Teil aus langweiligen mythologischen Erläuterungen, die ich etwa ab der Hälfte der Seiten zu überblättern begonnen habe. Lesenswert sind dagegen Howes Kommentare zu den einzelnen Bildern und Skizzen, die ein lebendiges Bild von der Arbeitsweise des kanadischen Malers geben. Howe spart in seinen Anmerkungen nicht an Selbstkritik und deutet manchmal an, was er an dem gleichen Bild, hätte er es noch einmal zu malen, im zweiten Versuch anders machen würde. Das hinterlässt einen sehr ehrlichen und sympathischen Eindruck.

Der erste Teil des Buches widmet sich mythischen Ungeheuern wie Tiamat, Ouroboros und Nidhöggr. Im zweiten Teil werden die Drachen der Sage behandelt, von Fafnir bis Melusine. Im dritten Teil geht es unter dem Titel »Drachen anderer Welten« um verschiedene Werke der Fantasy, in denen Drachen eine zentrale Rolle spielen: Anne McCaffreys Pern, Robin Hobbs Liveship Traders, Ursula K. Le Guins Erdsee und natürlich Tolkiens Legendarium.*** Zu diesem Teil haben Hobb und McCaffrey kurze Geleittexte beigesteuert. Aufgefallen ist mir, dass die Übersetzerinnen scheinbar keine Ahnung von Tolkien haben, so ist in der deutschen Ausgabe von einer »Schlacht von Valar« und einem »Schwarzen Turm« die Rede. Das Buch ist außerdem mit einem Index versehen, in dem einige der Stichwörter seltsamerweise nicht übersetzt wurden.

Drachen und Giganten von John Howe ist 2009 in der Edition Michael Fischer erschienen. Die Übersetzung besorgten Heike Rosbach und Hanne Henninger.

* Nasmith’ Illustrationen zu A Song of Ice and Fire gefallen mir dagegen fast uneingeschränkt.
** Del Toro erwähnte in diesem Zusammenhang den Einfluss, den Rackhams Stil auf die 1977er Verfilmung des Hobbit hatte – meines Erachtens die gelungenste unter den Zeichentrickadaptionen von Tolkiens Werk.
*** Mehr am Rande kommen auch Illustrationen zu Werken von Robert E. Howard und Barbara Hambly vor.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.