Mittwoch, 30. Januar 2013

Fantastik-Spezial

Die aktuelle Ausgabe des Literaturmagazins Bücher (heute erschienen) wartet mit einem »Fantastik-Spezial« (jep, in dieser Schreibweise) auf. Interessanterweise deckt sich der Begriff von »Fantastik«, den die Bücher-Redaktion verwendet, fast durchgängig mit dem, was im deutschen Sprachraum gewöhnlich unter Fantasy verstanden wird. Eine bemerkenswerte Entwicklung, wenn man bedenkt, dass die deutschsprachige Literaturwissenschaft sich jahrzehntelang größte Mühe gegeben hat, eine Position zu besetzen, derzufolge Fantasy nichts und Science Fiction höchstens ein bisschen was mit phantastischer Literatur zu tun hat. Bücher interessiert sich allem Anschein nach wenig für die akademische Phantastikdefinitionsdebatte vergangener Jahre – den Geisteswissenschaftler_innen unter uns könnte das eine Idee von der Wirkmächtigkeit unserer Kategorien und Konzepte vermitteln. Mir gefällt die Art und Weise, wie Bücher von »Fantastik« redet, ja ganz gut, weil ich finde, dass der Phantastikbegriff damit wieder dort ankommt, wo er in meinen Augen hingehört: In jenem weiten Raum der Literatur, der im englischen Sprachgebrauch – ja, genau – gemeinhin als Fantasy bezeichnet wird und längst nicht nur die epische Fantasy der Post-Tolkien-Ära umfasst. Witzig ist die Sache auch deshalb, weil Bücher vor exakt vier Jahren ein (wie es damals noch hieß) »Fantasy-Special« brachte.*

Darüber hinaus bietet das Fantastik-Spezial für mich als Genrefan allerdings wenig Neues. Es gibt Feld-, Wald- und Wiesendefinitionen von Urban Fantasy und anderen Subgenres, dazu einige Bemerkungen zu als repräsentativ angesehen Titeln, Rezensionen und drei Interviews, von denen die mit Benjamin Lacombe und Zoran Drvenkar zu den interessantesten Inhalten zählen. Zielgruppe dürfte ein Mainstream-Publikum sein, das eher sporadisch zu Fantasy und verwandter Lektüre greift und dem  man beibringen möchte, dass es mehr gibt als nur Tolkien-Epigonen und Glitzervampire.

* Wobei ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen würde, dass es sich damals tatsächlich noch um ein Special handelte und nicht wie heute um ein eingedeutschtes Spezial. Verbürgt ist aber, dass in der Ausgabe 2/2009 das Wort der Wahl Fantasy und nicht Fantastik war.

Mittwoch, 23. Januar 2013

Links vom Gutmenschen

Trigger-Warnung: Die mit Kreuzchen versehenen Links führen zu einem Diskussionsthread, in dem rassistische Sprache verwendet wird.

Der Tiefstpunkt einer Debatte, die an sich schon einen Tiefpunkt darstellt, ist für mich Jan Fleischhauers Kolumne »Auf dem Weg zur Trottelsprache«.* Natürlich meint der Titel nicht, dass der Kolumnist selber mit starr nach vorne gerichteten Blick auf diesem Weg marschiert. Tut er zwar (sofern ich mein Verständnis, was ein Trottel ist, zugrundelege), aber natürlich ist die Verschwörung linker Gutmenschen gemeint, die uns alle mit Hilfe ihrer Sprachpolitik gefügig machen wollen. Dennoch lässt sich der Titel im Sinne einer Freudschen Fehlleistung lesen, denn Fleischhauers Text, der eigentlich so richtig von oben herab formuliert sein wollte, ist vom ersten bis zum letzten Satz eine weinerliche Tirade. Um seinem Klientel entgegenzukommen, nimmt Fleischhauer die Perspektive des verängstigten Kleinbürgers ein, der von der Komplexität der Welt heillos überfordert ist: Sprache verändert sich? Eine Zumutung! Und nicht mal im Ausland ist man vor Veränderungen sicher, denn auch in anderen Ländern verändert sich Sprache, und manchmal (Schock!) bevorzugen die Menschen dort andere Wörter. Fleischhauers Fazit: »Man kommt schnell in Untiefen, wenn man sich auch sprachpolitisch als Kosmopolit erweisen will.« Tja, kleiner Jan, da hilft nur eins: Zuhause bleiben und die Fresse halten.

Aber Spaß beiseite: Diese Perspektive ist eine nur Rolle, in die Fleischhauer schlüpft. Er würde sich nicht in ähnlicher Weise überfordert geben, wenn es darum ginge, dass man heute Radio (und nicht mehr Rundfunkempfänger) oder Club (und nicht mehr Tanzlokal) sagt. Hier gilt, was sich auch von der Debatte insgesamt sagen lässt: Das empörte Geschrei gegen die Überarbeitung eines Kinderbuchs wird von Weißen erhoben, die sich den Gebrauch ganz bestimmter Wörter nicht nehmen lassen wollen – nämlich rassistischer. Deutlich wird dies, wenn man sich die (allen Beteuerungen zum Trotz, dass es doch einzig und allein um die Integrität literarischer Texte gehe) inflationäre Verwendung des N-Wortes in Schlagzeilen, Foren und Social Networks vor Augen führt. Die Debatte wird genüßlich ausgenutzt, um sich in genau der Terminologie zu ergehen, deren Gebrauch die übermächtige Gutmenschen-Partei doch angeblich unter Strafe gestellt hat. So lautet nämlich der Vorwurf†: Die Gutmenschen übertünchen mit ihrer Sprachpolitik den eigenen Rassismus. Rassistisch? Ich? Nein! Die Gutmenschen, die mit ihrem PC-Wahn, die sind viel schlimmer als ich.

Vermutlich zählt auch Anubis zu den Gutmenschen, also zu jenen, die in paternalistischer Manier anderen sagen wollen, wo’s langgeht, um ihre eigene Macht auszubauen. Schließlich vertrete ich solche Positionen. Ich könnte den Standpunkt einnehmen, dass eine Debatte, in der ausgerechnet diejenigen sich als vorbildliche Antirassist_innen gerieren, die ihren Gebrauch rassistischer Sprache als ein »die Dinge offen und ehrlich beim Namen nennen« (wie derlei Plattitüden eben lauten) verharmlosen, sich ohnehin nur noch im Strudel ihrer eigenen Absurdität dreht. Aber das wäre zu einfach. Ich bin weiß und deshalb nicht vor Rassismus gefeit. Eine Forumsdiskussion zum Thema endete mit der nachahmenswerten Empfehlung†: »Mein Rat: Taucht ein in die Szene der Betroffenen und nehmt auch mal an der einen oder anderen Demo teil. Es wird euch wie Schuppen von den Augen fallen (hoffe ich jedenfalls).« Ein erster Schritt wäre, die Äußerungen von Schwarzen und People of Colour zu dieser Debatte aufmerksam zu lesen. Die blieben bislang ziemlich unbeachtet – bezeichnenderweise, wenn man an die stürmische Begeisterung denkt, die Jan Fleischhauer auf Spiegel Online und Ulrich Greiner in der Zeit entgegenschlug. Aber es gibt sie, und wer sie nicht wahrnehmen will, ist schlicht uninformiert:
  • Der Thienemann-Verlag wurde zu den Änderungen an der Kleinen Hexe bewegt, nachdem Mekonnen Mesghena seiner Tochter aus dem Buch vorgelesen und anschließend dem Verlag einen Brief schrieb, in dem er auf rassistische und ausschließende Begriffe in Otfried Preußlers Buch hinwies. Die Zusammenhänge werden in diesem Artikel geschildert, den ich bereits in meinem vorherigen Blogpost zum Thema verlinkt habe. Mittlerweile hat Mekonnen Mesghena einen offenen Brief an Spiegel Online verfasst, in dem er klarstellt, dass Fleischhauers Kolumne nicht nur eklig, sondern auch unaufrichtig ist: »Um der Sache eine andere politische Dimension zu verleihen, verdreht Jan Fleischhauer kurzerhand die Tatsachen, in dem er behauptet, eine Institution stünde hinter der Initiative. [...] Wenn er schreibt, so sei es der ›aktuellen Zeit (zu) entnehmen‹, dann ist dies schlichtweg gelogen.«
  • Nadia Shehadeh schreibt: »Wenn man als Kind in einem Buch liest, und versteht, dass dort die eigene ›Minderwertigkeit‹ beschrieben wird, die man selber an sich nicht sieht, die man nun aber in der Fremdwahrnehmung anderer erkennt, unwiderruflich auf Papier gedruckt und damit noch mächtiger, dann setzt mit zum ersten Mal das Ohnmachtsgefühl ein, das einem noch so oft im Leben begegnen wird.«
  • Simone Dede Ayivi äußert sich im Tagesspiegel über die ach so guten Gründe, an rassistischem Vokabular festzuhalten: »Angeblich brauche man es, um Rassismus zu thematisieren. Da wurde mit dem Ausstellen von Rassismus argumentiert und damit, dass man der Gesellschaft den Spiegel vorhalten wolle. Mit Gesellschaft ist dabei die weiße Mehrheitsgesellschaft gemeint. Eine Gruppe von Leuten, die sich gegenseitig irgendwelche Spiegel vorhalten wollen. [...] Diese Gruppe bleibt unter sich und definiert für sich allein, was rassistisch ist und was nicht.«
  • Sabine Mohamed von der Mädchenmannschaft knüpft sich »Fleischhauers Trottelargumentation« vor: »Da findet analoges Denken auf Level Minus 100 statt. Jedenfalls wird bei Fleischhauer diskriminierende Sprache noch groß geschrieben, ist so herrlich unkompliziert.«
  • Publikative.org dokumentiert einen Leserinnenbrief, den die neunjährige Ishema Kane an die Zeit geschrieben hat, und lässt auch Ishemas Mutter zu Wort kommen: »Ich sehe es nicht ein, dass mir als Mutter jetzt quasi diktiert wird, ich solle meiner Tochter ›erklären‹, dass solche Wörter früher ›normal‹ waren – und sie sich bitte schön nicht verletzt fühlen soll.«
  • Der Schwarze Blog sagt: 
    Zur Beruhigung und Erinnerung: das Recht, Menschen rassistisch zu bezeichnen, besteht weiterhin. Es ist durch eine vernünftige Verlagsentscheidung nicht in Gefahr. [...] Was neuerdings wegfällt, und für viele Rassisten anscheinend schon unerträglich ist, ist lediglich das Recht, sich als Rassist bei 100% der Mehrheitsbevölkerung beliebt zu machen. Es sind jetzt ein paar Prozent weniger. Ebenso mausetot: das Recht, auf rassistische Handlungen keine Widerrede zu bekommen. Gut, dass sich Sprache ändert. Sprache ist ein Spiegel der Gesellschaft. Das Wort, um das es geht, war natürlich noch nie wertfrei, Arier. Kommt drüber weg, Versager (sei doch nicht so empfindlich). Und herzlich willkommen in unserem Land, liebe neue Generation mit weniger ungefragter frühkindlicher – also tiefsitzender – rassistischer Konditionierung via Kinderbuch. Vielleicht können sich unsere Kids eines Tages auf Augenhöhe begegnen, das wäre doch mal ein wirklich schönes neues Konzept.
    Im gleichen Beitrag findet sich auch eine beachtenswerte Liste mit Wortmeldungen, »die sich nicht aus Angst, Hass, Rassismus und einer Fehldeutung des Begriffs ›Zensur‹ speisen«.
  • Mel Evil M schreibt: »Wenn Worte belanglos wären, dann könnte sich ja keine_r derer, die jetzt von Sprachpolizei rumeumeln, darüber aufregen, daß sie dafür Rassist_innen genannt werden.«
  • Ein Interview, das die taz mit der Journalistin Hadija Haruna führte, zeigt, dass es geht: Man kann Rassismus thematisieren, ohne ständig in stupider Weise das N-Wort auf den Lippen zu führen.
Eine andere Perspektive, die aus der Debatte weitgehend ausgeblendet wurde (und die man ebenfalls eine der »Betroffenheit« nennen könnte), ist die von Eltern, insbesondere Müttern, die laut Zweifel an dem wohlfeilen Ratschlag äußern, man könne Kindern beim Vorlesen doch einfach erklären, was Rassismus ist und was es mit manchen Wörtern auf sich hat.
  • Dr. Mutti schreibt in einem schon etwas älteren Beitrag: »Man sieht die Szene direkt vor sich: Gemütlich sitzen da Kind und Eltern beisammen, das aufgeschlagene Buch vor sich, sie reden über Alltagsrassismus, das Kind lauscht aufmerksam den Ausführungen der Eltern mit ihren kultur- und sozialwissenschaftlichen Studienabschlüssen. Schließlich hat das Kind verstanden, es steht dem unterschwelligen Rassismus des Textes jetzt kritisch gegenüber, nun greift es wieder zum Buch und liest genussvoll weiter. Die Eltern trinken zufrieden ihren Tee und knabbern noch ein Stück fair gehandelte Schokolade. Was, unrealistisch? So geht es bei Ihnen zu Hause NICHT zu?«
  • Das Fuckermothers-Blog weist darauf hin, dass man erst mal klar haben sollte, was Rassismus ist – und vor allem, wie antirassistische Weiße dagegen vorgehen können: »Eine antirassistische Haltung bedeutet nicht, eine Kerze auf einer Lichterkette anzuzünden um ›ein Zeichen zu setzen‹ und sich dabei gut zu fühlen. Sie bedeutet, eigene Weltbilder und Gewohnheiten zu hinterfragen und gegebenenfalls auf Zeichen zu verzichten. Auch wenn es weh tut.«
Das Hinterfragen von eigenen Weltbildern und Gewohnheiten bleibt in weiten Teilen der Debatte um die Preußler-Neuausgabe leider aus. Es ist eine Debatte, die größtenteils von Weißen unter sich – unter uns – geführt wird, oft verbunden mit der Weigerung, auf kritisches Wissen und effektive Strategien im Umgang mit Rassismus zurückzugreifen. Sabine Mohamed beschreibt diese Art von Diskussionskultur (in einem anderen Zusammenhang, der sich aber sehr gut auf den gegenwärtigen übertragen lässt) folgendermaßen:
Was sich wie von selbst versteht, ihr selbst seid keine Rassist_innen. Werdet ihr ungebeten trotzdem so genannt, gibt es Ärger. Denn dann solidarisiert ihr Euch mit anderen Weißen. Gegenseitig schrubbt ihr Euch wieder rein und negiert Rassismus in den eigenen Reihen. Besonders perfide wird es, wenn ihr plötzlich Eure guten schwarzen Freundinnen oder Freunde aus der Schublade hervorzaubert, die das auch nicht so eng sehen. Ja, solche Zufälle soll es geben. Manchmal sagt ihr rassistische Wörter einfach aus didaktischen Gründen quasi um zu zeigen, wie es nicht gemacht werden soll. Antirassismus für Dummies. Wer es nicht versteht, ist selbst schuld. [...] Bei rassistischen Morden seid ihr schon schockiert und manchmal gibt es eine Schweigeminute oder, wie kürzlich, eine nette Feier, zu der auch die Betroffenen der NSU-Morde eingeladen werden und auf Eure Anweisung hin reden dürfen. Aber dass es schon bei Worten beginnt, das wollt ihr nicht sehen. Dass Worte Lebensrealitäten schaffen, sie uns entmenschlichen oder einfach überflüssig machen, das geht nicht in Eure weißen Köpfe. Vielleicht interessiert es Euch einfach nicht.
Der Beitrag des Schwarzen Blogs endet mit einer Aufforderung: »Für Menschen ohne Rassismuserfahrungen: das ist vor allem Ihre Debatte. Es wird sich sicherlich lohnen, Ihre Stimme zu nutzen.« Endlich einmal denjenigen zuzuhören, die es am eigenen Leib erfahren haben, ist ein Schritt. Erkennen, dass es bei dieser Debatte um den Mist in unserem eigenen Stall geht, der notwendige nächste.

* Auf dem zweiten Platz dichtauf liegt Burkard Müller-Ullrich, dessen strunzdummen und hetzerischen Deutschlandfunk-Kommentar Anatol Stefanowitsch in diesem Podcast analysiert.

Dienstag, 22. Januar 2013

Neuzugänge

  • Martin Beheim-Schwarzbach, Die Goldmacher
  • Ambrose Bierce, Das Spukhaus
  • Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
  • Roald Dahl, Charlie und die Schokoladenfabrik
  • Michael Ende, Die unendliche Geschichte
  • Susanne Gerdom, Projekt Armageddon
  • William Golding, Der Sonderbotschafter
  • Elizabeth Hand, 12 Monkeys
    Nach dem Drehbuch zum Film verfasster Roman. Normalerweise is so was ja nix, aber Elizabeth Hand lese ich halt ganz gern.
  • William Hope Hodgson, Stimme in der Nacht. Unheimliche Seegeschichten
  • Zadie Smith, White Teeth
    Smiths Erstling habe ich bereits in der deutschen Übersetzung gelesen. Bin neugierig, ob das Original tatsächlich so eine sprachliche Herausforderung ist, wie man mir beim Kauf versichert hat.

Freitag, 18. Januar 2013

Jakob Arjouni (1964–2013)

Soeben habe ich auf Klaus N. Fricks Blog gelesen, dass Jakob Arjouni in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar gestorben ist. Was für ein Verlust! Arjounis letzter Roman ist ein in jeder Hinsicht packendes Buch, das ich in einer von Thomas Ebermann hervorragend inszenierten szenischen Lesung kennenlernen durfte: Cherryman jagt Mr. White ist teils Hommage an den Comic, teils Splatterparodie, vor allem aber eine ungehört verhallte Warnung vor dem Nazi-Terrorismus. Jakob Arjouni hat damit ein eindringliches Vermächtnis hinterlassen, dessen Gehalt noch längst nicht eingeholt wurde. Wie auch, könnte man angesichts der deutschen Zustände fragen. Arjouni wird fehlen.

Sonntag, 13. Januar 2013

Neue Medien

Holger M. Pohl hat seiner jüngsten Kolumne auf Fantasyguide.de die Aussage »Das gedruckte Buch ist tot!« vorangestellt, in einer ganz ähnlichen Weise, wie ich vor zweieinhalb Monaten vom »Ende der Buchblogs« gesprochen habe. Pohls Ausgangspunkt:
Es gibt so viele Dinge, die man gerne tot sagt. Oder tot redet. Doch sie erfreuen sich nach wie vor eines sehr umtriebigen Lebens und führen alles andere als ein Nischendasein, wie gerne mal kolportiert wird. Das Buch gehört dazu. 
Dem stimme ich zu. Ich fühle mich erinnert an Umberto Eco, der in Glossen und Interviews gerne die Anekdote erzählt, wie er mitten in der weitläufigen, geschäftigen Ausstellungshalle einer Buchmesse von einem Journalisten gefragt worden sei, was er zum Ende des Buches zu sagen habe. Das Buch, so Eco, sei eine Erfindung, die nicht weiter perfektioniert werden könne. Also gibt es auch nichts, was das Buch in seiner Bedeutung ersetzen kann. Mittlerweile ist man bei der Erkenntnis angelangt, dass Lesen am Computerbildschirm die Augen rötet und das Buch trotz reichlich vorhandener digitaler Texte seine Existenzberechtigung nicht verloren hat. Die Klage, dass die heutige Jugend ja nur noch vor dem Fernseher oder im Internet herumhänge, während sie früher (als alles besser war™) ihre Zeit mit der Lektüre von Schiller und Fontante verbracht habe, ist auch schon ziemlich abgestanden. So einfältig wie in Ecos Anekdote wird das Schicksal des Buches heute nur noch selten beschworen.

Aber wie die Geschichte, die von der Tragödie zur Farce übergeht, verlaufen auch kulturkritische Debatten: Sobald der elegische Ton der Verfallstheorie seine Wirkungslosigkeit offenbart, werden die Hemmungen abgelegt und der Vulgärdarwinismus tritt in den Diskurs ein. Es heißt nun nicht mehr, das Buch sei tot, sondern verschiedene Buchformate machten sich in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf gegenseitig das Leben unsicher. Buchreport.de läutete kürzlich die »Totenglocken für das Taschenbuch«, wenn auch nur in Form eines Fragesatzes. E-Books und Paperbacks knabberten am Taschenbuchmarkt, so der Artikel in einer Zwischenüberschrift, obwohl gleich darauf zahlreiche Verlagsmenschen betonen, dass die Sache so wild gar nicht ist. Es wäre ja auch ziemlich respektlos, die Glocken bereits vor dem endgültigen Ableben zu läuten. Beziehungsweise, falls das Taschenbuch doch schon tot sein sollte, kann ich dazu nur sagen: Es schadet eventuell (sofern man kein Ghul oder Zombie ist) der eigenen Gesundheit, an einer Leiche zu knabbern.

Wie immer sich das Verhältnis zwischen Paperbacks und Taschenbüchern in Zukunft auch gestalten wird, die meisten Leser_innen wird es wahrscheinlich ohnehin nicht berühren, da den wenigsten unter ihnen der Unterschied, den der Buchmarkt zwischen PBs und TBs trifft, überhaupt bewusst sein dürfte. Bei E-Books sieht die Sache schon anders aus. Die haben immerhin eine sinnliche Qualität, die sie von gedruckten Büchern unterscheidet.

Die Ausbreitung des E-Books legt deshalb Vergleiche mit der Entwicklung anderer Kunstformen und ihrer Speichermedien nahe. Pohl geht in seiner Kolumne auf solche Vergleiche ein und nennt als Beispiel u.a. die Ablösung der Schallplatte durch die CD. Diese mit dem zwischen gedruckten Büchern und E-Books herrschenden Verhältnis gleichzusetzen, sieht er als Irrtum an. Bei Vinyl und CD überwögen die Gemeinsamkeiten, bei Büchern aus Papier und E-Books die Unterschiede. Fazit:
E-Books werden das gedruckte Buch weder verdrängen noch beerdigen. Weil sie nicht miteinander zu vergleichen sind. Hätten manche nur gerne. Aber die vergleichen auch gerne Äpfel mit Birnen. Beides ist Obst. Die einen mögen das eine, die anderen das andere, manche mögen beides.
Auch hier stimme ich zu. Allerdings sehe ich den Schallplatte-CD-Vergleich mit etwas anderen Augen. Die CD hat die Schallplatte nämlich gar nicht abgelöst, zumindest nicht wirklich. Die Verbreitung der CD hat eher die besondere Schönheit der Schallplatte zur Geltung gebracht. Schallplattencover sehen wegen ihrer Größe toll aus. Die Schwere des Vinyls fühlt sich gut an, es macht Spaß, die Scheibe auf den Plattenspieler zu legen. Viele Menschen bevorzugen auch den Klang von Schallplatten gegenüber CDs. Kurz, Vinyl ist durch die Einführung der CD nicht ausgestorben, sondern eher zum geschätzten Sammelobjekt für Nerds und Aficionad@s geworden. Das Problem ist hier eher, dass man sich solche teuren Späße erst mal leisten können muss. Ebenso ist es mit schön gestalteten Buchausgaben.

Es gibt auch handfestere Gründe, warum manche Medien nicht aussterben, sondern in bestimmten Nischen überleben. Das Radio ist vom Fernsehen nicht völlig verdrängt worden, weil man bei manchen Tätigkeiten das Radio laufen lassen kann, aber nicht den Fernseher. Das betrifft vor allem bestimmte Formen der Lohnarbeit, die ohne Radioberieselung unerträglich langweilig wären.

Natürlich verhält es sich nicht bei allen Speichermedien so. Manche von ihnen sterben tatsächlich aus, weil sie einfach nicht mehr gebraucht werden. MCs waren nur so lange praktisch, wie man noch keine CDs brennen oder Musikdateien kopieren konnte. Man brauchte sie in der Vinylära, um unterwegs Musik hören zu können, mit dem Walkman. Später wurde das unnötig, denn man konnte erst mit einem Discman* und dann mit einem MP3-Player Musik auf der Straße und zuhause im gleichen Format hören. Ähnlich verhält es sich mit Videokassetten und DVDs. Durch letztere erspart man sich das nervige Vor- und Zurückspulen, und die Bildqualität ist viel besser. Ich sehe das nicht als eine Form von »Leistungsoptimierung« oder ähnlichem Unsinn, sondern als Hedonismus. Es mag Menschen geben, die ihren (für mich lebenswichtigen) Hedonismus irgendwo zwischen mittäglichem Stau in der Innenstadt und spätabendlichen E-Mail-Konversationen mit dem Chef verloren haben, aber das ändert nichts an dem größeren Genuss, den Speichermedien wie DVDs gegenüber den vorher vorhandenen bieten. MCs und Videokassetten werden schlichtweg nicht mehr gebraucht. Manchmal werden ihre Einzelbestandteile neuen unterhaltsamen Zwecken zugeführt. In der sogenannten Dritten Welt spannen Kinder gern die in der Sonne glitzernden Bänder alter Kassetten quer über die Straße, um weiße Tourist_innen zu erschrecken, die glauben, sie rasten mit dem Auto auf einen Stahldraht zu und ihr letztes Stündlein habe geschlagen.

Ich glaube, dass E-Books und gedruckte Bücher auf ganz ähnliche Weise nebeneinander bestehen können wie Schallplatten und CDs. Wenn dieser Vergleich hinkt, dann eher dahingehend, dass ich keine Anzeichen dafür entdecken kann, dass in absehbarer Zeit das gedruckte Buch wie das Vinyl nur noch in überschaubaren Gruppen von Liebhaber_innen Verbreitung finden wird. Im Gegenteil, das Verlangen nach papiernen Büchern scheint nach wir vor einer der verbreitetsten Fetische überhaupt zu sein.

* Ich finde es übrigens belustigend, dass kleine Geräte, die auf Knopfdruck funktionieren, als »Männer« bezeichnet wurden.

Freitag, 11. Januar 2013

Newspeak II

Trigger-Warnung: Einige der in diesem Blogpost verlinkten Texte enthalten rassistische Ausdrücke.

Der Thienemann-Verlag, der die Kinderbuch-Klassiker Otfried Preußlers herausgibt, hat kürzlich angekündigt, in einer für Sommer 2013 geplanten Ausgabe von Die kleine Hexe das N-Wort durch einen neutralen Begriff zu ersetzen, und auch sein sonstiges Verlagsprogramm auf diskriminierende Sprache zu überprüfen. Daniel Bax schildert den Hintergrund in einem taz-Artikel von letzter Woche. Bax’ sieben knappe Absätze haben 150 Kommentare hervorgerufen, in denen sich die Wutbürgerfront vor Empörung über den Verlag schier überschlägt. Ein solches Vorgehen sei typisch für »totalitäre Regime«, heißt es da, und es wird sogar gemutmaßt, Otfried Preußler sei unter Androhung von Gewalt dazu gezwungen worden, der Textänderung zuzustimmen. Bücherverbrennungen seien der unausweichliche nächste Schritt.

Nun neige ich ja zu der Ansicht, dass in den Kommentarspalten der Tageszeitungen sichtbar wird, wie der deutsche Stammtisch sein kollektives Delirium in Worte zu fassen versucht. Das wird auch vor Einführung dieser Kommentarspalten nicht anders gewesen sein, nur hat man es nicht in so geballter Form mitbekommen. Solche Leute verbrachten ihre Zeit früher, als Tageszeitungen noch ausschließlich Printmedien waren, mit dem Schreiben von Briefen an die Redaktion, nur werden die meisten davon nicht veröffentlicht, sondern von den zuständigen Redakteur_innen in den Papierkorb befördert worden sein. Liest man heute Zeitungen im Internet, ist man dagegen unter fast jedem Artikel mit einem stetig wachsenden geistigen Fäkalienhaufen konfrontiert.

Ein wenig erinnern mich die Reaktionen auf die Ankündigung des Verlags an den kollektiven Aufschrei, den der Abdruck einiger Bemerkungen Jakob Augsteins in einer Liste des Simon Wiesenthal Centers hervorgerufen hat. Da heißt es allerorten, Augstein sei unter die Top Ten der »schlimmsten Antisemiten der Welt« aufgenommen worden, und es wird so, wie es nur Deutsche können, gejammert und gegreint, dass man ja gleich als Antisemit gelte, wenn man nur ein bisschen Israel kritisiere. Andere seien doch viel schlimmer. Die dem Vorgang zugrunde liegende Denke lässt sich so zusammenfassen: Ausschließlich Nazis sind Antisemiten. Deshalb ist es ganz und gar inakzeptabel und verwerflich, jemandem, der anerkanntermaßen kein Nazi ist, Antisemitismus vorzuwerfen. Augstein ist aber kein Nazi, sondern ein blasses, allwöchentlich durch die Polit-Talkshows gereichtes Publizistensöhnchen, das es aus irgendwelchen Gründen geschafft hat, als Vordenker des linksliberalen Medienschaffens zu gelten. Antisemitisch sind also (wenn überhaupt) nur die anderen, aber keinesfalls wir guten Deutschen, die wir lediglich in rechtschaffener Manier Israel kritisieren. Einen von uns als Antisemiten zu bezeichnen, ist ein unerträglicher Tort, den man den Juden nicht verzeihen wird.

So etwas kann nur funktionieren, wenn man vor dem wirklichen Sachverhalt bewusst die Augen verschließt. Denn das Simon Wiesenthal Center hat Augstein keineswegs zu einem der schlimmsten Antisemiten der Welt erklärt (es wäre auch reichlich sinnlos, einen für schlimmer als den Rest der Bande zu erklären). Die vielbeschrieene Liste trägt nämlich den selten gelesenen Titel »2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs«, also: »Top Ten der antisemitischen/anti-israelischen Verunglimpfungen 2012«. Es handelt sich um eine Liste von Äußerungen, nicht um eine Liste von Personen. Das SWC hat sogar ausdrücklich erklärt, dass man mit der Aufnahme in die Liste lediglich ein Urteil über die abgedruckten Äußerungen abgebe, nicht über die Personen, die die Äußerungen getätigt haben. Es ist ja immerhin möglich, dass jemand antisemitische Bemerkungen von sich gibt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch gibt das SWC seine Kriterien für diese Liste bekannt, nämlich die »drei D« Doppelmoral, Dämonisierung und Delegitimierung. Außerdem hat es angegeben, auf welche Quelle es sich bei der Einschätzung von Augsteins Äußerungen beruft.

Das alles wird in der deutschen Debatte über die Liste weitgehend ignoriert, denn würde man darauf eingehen, müsste man sich einer offenen Auseinandersetzung mit der Frage, woran man Antisemitismus eigentlich erkennen kann, stellen. Man könnte auch darüber diskutieren, ob oder in welchem Maße Augsteins Äußerungen die Kriterien der »drei D« erfüllen. Eine solche Diskussion findet aber nicht statt, denn es muss von vornherein feststehen, dass es Antisemitismus nur bei Nazis, aber nicht in unseren wohlanständigen Kreisen geben kann. Doch genug davon. Andrej Reisin hat die Lage, die ich hier nur knapp anreißen kann, auf sehr informative Weise zusammengefasst. Ich bin auf die Causa Augstein vor allem deshalb zu sprechen gekommen, weil in den Reaktionen auf den Thienemann-Verlag eine ganz ähnliche Entwicklung stattfindet: eine offene Diskussion über das, worum es eigentlich geht, muss um jeden Preis, mit jeder noch so blödsinnigen Rhetorik vermieden werden.

Es sind nicht nur die üblichen, sich in den Zeitungskommentarspalten austobenden Deppen, die in dieser Sache das Wort ergreifen. Unter dem Gaga-Titel »Onanierende Schuhe« hat Joachim Körber, der Chef der Edition Phantasia,  auf  Facebook eine Meinungsäußerung zu den Plänen des Hauses Thienemann abgegeben. Argumente finden sich darin nur ansatzweise, vor allem aber wird laut geschrien, der Kinderbuchverlag betreibe Zensur: »Diese Form von Zensur sollte man lassen. Und es IST Zensur, ganz gleich, welche verschleiernden Euphemismen man dafür verwendet.« Aha, es IST also Zensur, Ende der Debatte. Dabei wird die Diskussion in aller Regel dann erst interessant, wenn jemand behauptet, etwas verstehe sich von selbst oder dürfe nicht hinterfragt werden. Ein solches Hinterfragen, das man auch Ideologiekritik nennen könnte, ist hier offenbar nicht vorgesehen. Offen bleibt auch, ob eine andere »Form von Zensur« für Körber denn akzeptabel wäre, oder wo eigentlich die Grenzen seines Zensurbegriffs liegen.

Zensur bedeutet laut Duden die von staatlichen Institutionen vorgenommene Überprüfung von Medien, »besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität«. Es handelt sich dabei also um einen staatlichen Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit. Diese Definition entspricht meines Wissens mehr oder weniger der in der Politikwissenschaft geläufigen Auffassung von Zensur.

Nicht so bei Körber. Legte man dessen Verwendung des Wortes Zensur zugrunde, dann wäre jeder Verlag, der übersetzte, sprachlich modernisierte oder gar gekürzte Klassikerausgaben herausgibt, eine finstere Zensurbehörde. Auch die Edition Phantasia müsste sich konsequenterweise diesen Vorwurf gefallen lassen. Denn letztlich ist das Vorgehen von Thienemann eine völlig alltägliche Praxis. Buchklassiker werden ständig in überarbeiteter Form herausgebracht, in mal mehr, oft weniger gelungener Art und Weise. In der Regel interessiert sich niemand dafür. Die übertriebene Aufregung, die dem Thienemann-Verlag entgegenschlägt, erklärt sich allein daraus, dass man sich die ganz spezielle Befriedigung, die in rassistischem Sprachgebrauch liegt, nicht nehmen lassen will.

Das ist zwar so, aber man hat doch eine dumpfe Ahnung davon, wie unappetitlich dieses Bedürfnis ist. Es wird deshalb eher selten ausgesprochen. Auch nicht in Körbers Facebook-Post; das übernimmt statt dessen ein gewisser Klaus Block, der Körbers Eintrag kommentiert hat und auf seiner rassistischen Sprache beharrt, weil er nicht wisse, »was daran falsch oder beleidigend sein soll«. Wohlgemerkt: Er redet von seinem eigenen Sprachgebrauch, nicht etwa von dem in alten Büchern. Blocks Bemerkung steht bislang unwidersprochen unter Körbers Post. Eine solche Haltung, die auf die legitimierende Kraft von Ignoranz vertraut, ist alles andere als selten. Man wisse nicht, was daran falsch sein soll. Man sei halt noch nie jemandem begegnet, der sich etwa vom N-Wort beleidigt fühle. Kommen solche Aussagen von Menschen, die mit dem Gebrauch des Internets vertraut sind und insofern an der medial vermittelten Öffentlichkeit teilhaben, kann man davon ausgehen, dass es sich nicht um genuine Unwissenheit handelt, sondern um eine Schutzbehauptung: Man möchte eben gerne diskriminieren. Um nicht ganz so durchsichtig dazustehen, nimmt die Schutzbehauptung gern auch mal die Form einer kleinen Geschichte ein, etwa so: Mein eigener Schwiegersohn stammt doch aus Afrika, der hat mir selber versichert, dass er nichts dagegen hat, wenn ich ihn so nenne. So etwas ist unabhängig davon, ob es tatsächlich vorgekommen sein sollte, nicht nur dumm, sondern auch dreist. Es ist, als würden Autofahrer_innen aus der Tatsache, dass manche Menschen sich in suizidaler Absicht vor Autos stürzen, das Recht ableiten, alle die Straße überquerenden Menschen zu überfahren. Es gibt zahlreiche schwarze Menschen, die sich durch den Gebrauch des N-Worts von Seiten weißer Menschen beleidigt fühlen, und dies auch kundtun. So etwas weiß man, und falls man in dieser Hinsicht vergesslich ist, wird es aus bitterer Notwendigkeit oft genug wiederholt. Wer es immer noch nicht glauben will, muss nur einmal den oben verlinkten Artikel von Daniel Bax lesen.

In Körbers Post herrscht jedoch ein anderer Diskurs. Darin heißt es:
Eher simpel gestrickte Leute [...] scheinen ja offenbar zu glauben, dass Probleme wie Rassismus ganz von selbst verschwinden, wenn man vermeintlich rassistische Begriffe verbietet. Wohl eher nicht. [...]
Gegen Missstände und Probleme wie Rechtsradikalismus, Rassismus, Schwulen/Lesbenhass, Engstirnigkeit usw. muss man aktiv und mit allem Nachdruck vorgehen, und darum ist es umso wichtiger, dass Schriftsteller und Künstler die Dinge beim Namen nennen, Salz in offene Wunden streuen dürfen – und KÖNNEN, und nicht, dass man ihnen zu einem vermeintlich guten Zweck das Maul verbietet.
Menschen, die gegen diskriminierenden Sprachgebrauch vorgehen, sind demnach blauäugig und verschließen die Augen vor der Wirklichkeit. Wer »vermeintlich rassistische Begriffe« wie das N-Wort so wie der Autor des Posts gebraucht, ist dagegen ein standhafter Antirassist, der üble Dinge beim Namen nennt, um desto besser gegen sie vorgehen zu können. Um dies zu untermauern, bedient Körber sich eines Vergleichs:
Gewalt gegen Frauen hört nicht auf, wenn wir das Wort »Vergewaltigung« aus dem Duden streichen oder uns ein beschönigendes Synonym dafür ausdenken. Und das Morden in Kriegen wird nicht dadurch besser, dass man es »staatlich sanktionierte politische Maßnahmen unter Zuhilfenahme potenziell gefährlicher Handfeuerwaffen mit möglicherweise letalen Folgen« nennt.
Auch abgesehen davon, dass die Gleichsetzung von Vergewaltigung und Töten im Krieg problematisch ist, handelt es sich hier um einen völlig unangemessenen rhetorischen Trick, der nur oberflächlich wie eine Begründung von Körbers Haltung wirkt. Eine Vergewaltigung reißt zwar oft auch seelische Wunden, aber in erster Linie stellt sie einen Akt körperlicher Gewalt dar. Den schafft man natürlich nicht aus der Welt, wenn man ihn bei einem anderen, möglicherweise verharmlosenden Namen nennt. Wenn Weiße das N-Wort verwenden, handelt es sich jedoch um eine Beleidigung, und eine solche ist sehr wohl aus der Welt zu schaffen, indem man sich keiner beleidigenden Ausdrücke (ob sprachlich oder sonstwie beschaffen) bedient.

Aber Körber zufolge geht es ja um etwas anderes. Er unterstellt, wer zum Verzicht auf diskriminierende Sprache aufruft, wolle dadurch Rassismus »verschwinden« lassen. Eine solche Annahme wäre in der Tat »simpel gestrickt«. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, dass sich nicht nur auf sprachlicher Ebene äußert. Körber fordert denn auch: »Man sorge dafür, dass hässliche gesellschaftliche Wunden wie Rassismus usw. verschwinden, indem man deren Ursachen bekämpft – durch Aufklärung, Bildung, was auch immer.« Was auch immer. Konkreter wird Körber in seinen Vorschlägen zur Überwindung des Rassismus nicht. Hier gelangen wir an einen Punkt, der für solche Diskurse typisch ist, und der wieder in die Nähe der Augstein-Debatte führt: Es wird standhaft abgelehnt, offen über die Sache selbst zu sprechen und sich kritisches Wissen anzueignen. An der Stelle des »was auch immer« könnte die Frage stehen, wie Rassismus denn wirklich effektiv zu bekämpfen wäre. Denn – man lese und staune – es gibt Menschen, die sich mit dieser Sache auskennen, und auch einiges darüber zu sagen haben, wie man Rassismus im Zusammenhang der Lektüre von Kinderbüchern kritisch thematisieren kann. Doch dazu wäre eine wirkliche Auseinandersetzung notwendig – vor allem damit, welche Rolle die standhaften Rassismus-von-sich-weisenden Weißen in der Perpetuierung rassistischer Machtverhältnisse spielen. Mittels einer solchen Auseinandersetzung könnte man vielleicht auch einer Gestalt wie Klaus Block mit dem notwendigen Nachdruck klarmachen, was an der Verwendung des N-Wortes durch Weiße rassistisch ist (weil dadurch die längst nicht überwundenen rassistischen Verhältnisse, in denen dieses Wort geprägt wurde, sprachlich aktualisiert werden).

Aber das ist nicht gewollt. Es geht um etwas anderes. Man will sich nicht das Maul verbieten lassen, und vor allem die »geschätzten Mitbürger andersvölkischer Herkunft« (ja, so steht das da: völkisch) sollen nicht solche Umstände bereiten. Man will sich, gemäß dem eigenen Sprachgebrauch, keiner »Zensur« aussetzen. Ebensowenig wie man nicht antisemitisch sein kann, denn das sind höchstens ein paar weit entfernt in brandenburgischen Dörfern lebende Nazis, kann man nicht rassistisch sein, denn man tritt ja für die Meinungsfreiheit ein: Gegen politisch-korrekte Denkverbote, gegen die totalitäre »Spezies der Gutmenschen« (so ein weiterer Kommentar), gegen Orwellschen Neusprech. Von dem wird in solchen Zusammenhängen mit Vorliebe gefaselt. In den Kommentaren unter Körbers Post heißt es sogar: »Orwell würde sich im Grabe umdrehen! Neusprech wird Realität! Wer die Sprache der Menschen beherrscht, der beherrscht ihre Gedanken!« Das wird so emphatisch vorgetragen, dass man an den eigenen Sprech offenbar überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet, bevor man ihn herausbellt, denn ja, Orwell würde sich im Grabe umdrehen, aber deshalb, weil sein wirklich antitotalitäres (weil gegen den Machtanspruch totalitärer Staaten gerichtetes) Konzept des Neusprech vom deutschen Spießertum missbraucht wird, um sich in dem rassistischen und autoritären Mief, in dem es seit jeher beisammen hockt, gegenseitig auf die Schulter zu klopfen.

Aber rassistisch, autoritär oder gar totalitär sind letztlich immer die Anderen. Körbers Post wird auch von einem gewissen Michael Sonntag gewürdigt, der ein (in der Selbstbeschreibung so genanntes) »Blog für Anspruchsvolle« betreibt. In einem Post mit dem Titel »Rassebegriff beim Menschen« steht dort: »Vor einigen Jahren wurde offiziell verkündet, es gäbe keine unterschiedlichen Rassen bei der Spezies Mensch.« Offiziell verkündet, soso. Vom Biologieministerium wahrscheinlich. Auch hier ist man also antitotalitär. Man wehrt sich dagegen, dass einem das Rassengefasel verboten wird, und zwar um so eifriger, je offensichtlicher dieses Verbot ein lediglich halluziniertes ist. Mit Bezug auf den Thienemann-Verlag wird anklagend gefragt: »Wie weit geht der politisch korrekte Sprachfaschismus denn noch?« Während in der Augstein-Debatte allerorten versichert wird, Antisemitismus gäbe es nicht, nur bei den Nazis, und die seien weit weg, ist hier der Faschismus allgegenwärtig und allmächtig. Faschismus, das sind in Wahrheit die politisch Korrekten, die einem das N-Wort und den »Rassebegriff« verbieten wollen. Man selber ist dagegen in jedem Fall – Opfer.

Donnerstag, 10. Januar 2013

Neuzugänge

  • Márgara Averbach, Umbrales (nach Liliana Bodoc mein zweiter Ausflug ins Reich lateinamerikanischer Fantasy)
  • Ilsa von Braunfels, Vorsehung – Nazis auf dem Mond (Prequel-Geschichte zum Film)
  • Ole Johan Christiansen/Oliver Dierssen (Hgg.), Die Untoten
  • Junot Díaz, This Is How You Lose Her
  • Thea von Harbou, Metropolis
  • Cecelia Holland, Die Säule des Himmels
  • Wolfgang Jeschke, Midas
  • Will Shetterly, Dogland 
  • Marlene Streeruwitz, Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen (hat es mir sehr angetan) 
  • Verschiedene, Zum Roten Drachen. Geheimnisvolle Geschichten(Anthologie tschechischer Phantastik)

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.