Donnerstag, 20. Dezember 2012

Die Grimms und die Märchen

Die Allgegenwärtigkeit der Brüder Grimm habe ich in diesem Jahr schon mehrfach genutzt, um auf der Facebook-Seite des Hermanstädter Sees auf Artikel und Essays über die beiden Märchensammler aufmerksam zu machen. Klar, dass ich mich bei der Fülle an Material darauf beschränkt habe, auf solches hinzuweisen, das mir in irgendeiner Form interessant oder bemerkenswert erscheint. Stichwort Allgegenwärtigkeit – warum interessiert man sich gerade jetzt, zum Jahresende 2012, so sehr für die Brüder? Unter denjenigen, die gerade versuchen, den Grimms neben Weihnachtsterror, Weltuntergang und der angekündigten Hohlbein-Doku-Soap ein wenig mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen, scheint leichte Uneinigkeit zu herrschen: Während das Goethe-Institut ein »Grimm-Jahr 2012« ausrief, kündigt die Regierung des Landes Hessen ein »Grimm-Jahr 2013« an. Die Universität Marburg, an der die Brüder studierten, versucht es mit einem Kompromiss und spricht vom »Grimm-Jahr 2012/13«.

Fakt ist: Der erste Band der Kinder- und Hausmärchen erschien erstmals vor genau 200 Jahren, am 20. Dezember 2012, und wenn auch der größte Teil der Auflage erst im Frühjahr 2013 gedruckt wurde, nehme ich dieses Datum einfach mal als Anlass, heute diesen Blogpost zu veröffentlichen. Faszinierend finde ich an den Grimmschen Märchen vor allem die Unzahl an Nacherzählungen und revisionistischen Neufassungen, die es zu ihnen gibt (nicht zuletzt auf diesem Blog). Keiner anderen Märchensammlung des deutschen Sprachraums war eine vergleichbar breite Rezeption beschieden. Johann Karl August Musäus’ Volksmärchen der Deutschen etwa kennt heute praktisch niemand mehr. Sie sind in einem im Vergleich zur lakonischen Düsternis der Grimms locker-satirischen Ton geschrieben und richteten sich deshalb vielleicht viel stärker an das zeitgenössische Publikum als an die Nachwelt. Dabei ist mir aufgefallen, dass solche Nacherzählungen im anglophonen Bereich sehr viel verbreiteter zu sein scheinen als in Deutschland. Hierzulande ist gerade Karen Duves Grrrimm erschienen, während es in englischer Sprache nicht nur Angela Carters schon klassische Sammlung The Bloody Chamber (1979) gibt, sondern auch Jim C. Hines’ Prinzessinnenromane (Rezensionen der ersten zwei Bände hier und hier), die über den Disney-Umweg grimmsche Motive aufgreifen, und Bücher wie Gregory Maguires Mirror Mirror, das es mir im Moment schwer angetan hat. Maguire lässt in der Rolle der bösen Stiefmutter Lucrezia Borgia auftreten. Letzten Monat erst ist ein Band Fairy Tales from the Brothers Grimm: A New English Version von Philip Pullman herausgekommen. Diese und viele weitere Märchenrevisionen und -neuerzählungen, die sich nicht immer an den Grimms, sondern manchmal auch an Andersen und Perrault orientieren, führen Aishwarya S. zu der These, die Möglichkeiten für originelle Neuerzählungen klassischer Märchen seien mittlerweile erschöpft.

Insbesondere im Filmbereich bin ich nicht ganz abgeneigt, dieser These zuzustimmen. Vergleicht man gegenwärtige Märchenfilme wie Red Riding Hood und Snow White and the Huntsman mit Meisterwerken wie Neil Jordans und Angela Carters The Company of Wolves oder Michael Cohns Snow White: A Tale of Terror, kann man über so viel Rückschritt nur entgeistert den Kopf schütteln: Die neuen Filme sind alles mögliche, nur nicht originell. Aber eigentlich möchte ich nicht den Pessimisten spielen. 2009 hat Neil Jordan mit Ondine einen wundervollen Film vorgestellt, der zeigt, dass es eben doch geht.

Was nun das erzählte, aufgeschriebene und gelesene Märchen angeht, glaube ich ganz und gar nicht, dass die literarischen Möglichkeiten, die seine Stofffülle bietet, jemals erschöpft sein werden. Die gleichen Märchen werden neu erzählt werden – mal besser, mal schlechter. Sie werden umgedeutet werden und dadurch wie neu aussehen. Es werden auch gänzlich neue Märchen auftauchen, und einige alte in Vergessenheit geraten. Die Schönheit und Schrecklichkeit der Märchen, von der Tolkien in »On Fairy-Stories« spricht, wird bleiben. Ich wage zu hoffen, dass die Märchen auch dann nicht überflüssig sein werden, sollte einmal jener unwahrscheinliche aber überlebensnotwendige Zustand im menschlichen Miteinander eintreten, in dem die Schönheit real geworden und der Schrecken gebannt ist. Und bis dahin gilt es ohnehin, die Märchen (Grimms und andere) immer wieder neu zu erzählen.

2 Kommentare:

Raskolnik hat gesagt…

Ah ja, "Company of Wolves" ... Keine Ahnung, wie oft ich diesen Film inzwischen gesehen habe, und ich bin immer noch begeistert ... Was Neubearbeitungen klassischer Märchenstoffe und -motive angeht: Du bist mit "Cabinet des Fées" (http://www.cabinetdesfees.com/) bekannt?

Murilegus rex hat gesagt…

Ist mir noch nicht bekannt, werde ich mir bei Gelegenheit mal anschauen.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.