Dienstag, 29. Mai 2012

Oops! … He Did It Again

So sehr ich China Miéville schätze, bei seiner nicht-fachgerechten Verwendung des linguistischen Terminus Phonem (phoneme) durchzuckt es mich jedes Mal,* so auch wieder in Railsea:
[She] was not screaming or crying, she was not howling or complaining. She […] uttered a succession of phonemes like those that might creep in between proper words. As if she spoke discards & language debris.**
Unwillkürlich, natürlich – ich habe durchaus schon von der künstlerischen Freiheit gehört und kann mir vorstellen, dass die Wirkung dieser stilistischen Entscheidung nicht schlecht wäre, wenn ich nicht Linguist wäre. Da ich aber nicht aus meiner Haut kann, bleibt Folgendes klarzustellen:
Ein Phonem ist eine abstrakte Einheit, kein konkreter Laut. Und Phoneme sind bedeutungsunterscheidend, tragen also dazu bei, Bedeutung sprachlich zu vermitteln. Bedeutungslose Laute also als Phoneme zu beschreiben bedarf einer Menge poetic licence, beziehungsweise meinerseits sogar willing suspension of disbelief.
Da es sich hier aber um China Miéville handelt, bin ich durchaus bereit, so einen gelegentlichen Lapsus zu verzeihen. (Wie es mir aber mit Embassytown erging, ist freilich noch etwas komplizierter – und ich hoffe immer noch, irgendwann mal etwas dazu zu schreiben!)

* Ich bin mir sicher, dass Miéville phoneme schon (mindestens) einmal ebenso verwendet hat. Ich glaube, es war in The City & The City.
** China Miéville: Railsea. Macmillan, London 2012. Seite 341.

Edmund Wilson über Cabell und Tolkien

Der wohl bekannteste Verächter des Lord of the Rings ist der US-amerikanische Literaturkritiker Edmund Wilson (1895–1972). Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass Wilson, der zu seinen Lebzeiten einer der bedeutendsten Kritiker und Feuilletonisten der englischsprachigen Welt war, außerhalb literaturgeschichtlich interessierter Kreise überhaupt nur noch aufgrund seines Tolkien-Verrisses bekannt ist. Wilson ist der Erfinder einer bis heute gepflegten Unsitte (siehe Richard Morgan), nämlich der, den Lord of the Rings zu missbilligen, indem man ihn als Kinderbuch bezeichnet. Sein häufig zitierter Ausdruck lautete bekanntlich »juvenile trash«.

Wilson hatte übrigens mehr oder weniger die gesamte Fantasy gefressen. Lovecrafts Geschichten bezeichnete er als »hackwork« (Geschmiere, Nullachtfuffzehnarbeit); ihrem Autor bescheinigte er einen »lack of sound literary taste«. Auch Arthur Machen und Lord Dunsany kamen schlecht bei ihm weg. Dennoch kann man nicht sagen, dass Wilson es speziell auf die Fantasy abgesehen hatte: Er bekämpfte jegliche Literatur, die nicht seinen Auffassungen von Realismus entsprach, und legte sich im Zweifelsfall auch mit Größen wie Vladimir Nabokov und Anaïs Nin an. In der Auseinandersetzung mit letzterer erwies er sich zudem als maskulinistisches Großmaul, indem er ihr allen Ernstes anbot, er werde ihr beibringen, wie man schreibt.

Nun war ich bislang der (u.a. von Lin Carter – oder war es L. Sprague de Camp? – verbreiteten) Legende aufgesessen, Wilson habe unter den klassischen Autor_innen der modernen Fantasy eine Ausnahme gelten lassen, die nicht kindisch und talentfrei auftrete, sondern echte satirische Qualitäten aufweise: James Branch Cabell. Ein Blogpost von John Rateliff zeigt nun, dass es mit Wilsons Bewunderung für Cabell nicht weit her war. Obwohl Wilson Cabell später ausdrücklich lobte, bezeichnete er 1926 ihn und Dunsany als »provincial fops«, also als provinzielle Fatzkes. Und auch das Lob selbst fiel eher zurückhaltend aus, so dass Cabell in Wilsons Urteil eigentlich nur im direkten Vergleich mit dem verhassten Tolkien gut dasteht – sonst aber nicht.

All denjenigen Autor_innen, die Fantasy schreiben, aber sich gegen die Tolkien-Tradition positionieren, um dem allgemeinen Verdikt zu entgehen, sollten bedenken, dass ein solches Vorgehen nicht unbedingt erfolgversprechend sein muss: Im Zweifel werdet ihr dann doch wieder in einen Topf geworfen.

Sonntag, 27. Mai 2012

Neuzugänge

  • Richard Adams, Shardik
  • Marion Zimmer Bradley, Die Zeit der hundert Königreiche
  • Fatou Diome, Der Bauch des Ozeans
  • Julian Frost, Last Days on Earth 
  • Lois Gould, Morgantina, die Hexe der Königin
  • Stephen King, The Wind Through the Keyhole
  • Ole Kristiansen, Der Wind bringt den Tod
  • George R.R. Martin, Adara und der Eisdrache 
  • Melanie Rawn/Jennifer Roberson/Kate Elliott, Das Bildnis der Unsterblichkeit
  • Matt Ruff, Bad Monkeys
  • Michael Shea, Cugel in der Unterwelt
  • James Tiptree jr., Beam uns nachhaus
  • Amos Tutuola, My Life in the Bush of Ghosts/The Palm-Wine Drinkard (Omnibus-Ausgabe)
  • Verschiedene, Das Mädchen am Abhang. Science-fiction-Erzählungen aus Polaris 2
  • Timothy Zahn, Treueschwur

Donnerstag, 17. Mai 2012

Carlos Fuentes (1928–2012)

Der große mexikanische Romancier Carlos Fuentes ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Fuentes, der sich als kosmopolitischen Intellektuellen verstand und dabei das in »kosmopolitisch« steckende Wörtchen »politisch« nicht vernachlässigte, hat bedeutende Beiträge zur lateinamerikanischen Phantastik geleistet (u.a. im Erzählungsband Unheimliche Gesellschaft dokumentiert, der Fuentes’ inoffizielles Dracula-Sequel »Vlad« enthält).

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Donnerstag, 3. Mai 2012

Bakker’s Boys

Ich habe R. Scott Bakkers Krieg der Propheten ganz gern gelesen und fand die Trilogie im Gesamteindruck gut, aber nicht überragend. Was mich am meisten gestört hat, ist schnell gesagt: Im Unterschied zu Bakkers wiederholter Versicherung, ein »world-building nerd« zu sein, fand ich den Weltenbau von Krieg der Propheten eher schematisch und bemüht. Und die andere Sache ist Bakkers programmatischer Anspruch. Von Anfang an hat er zu verstehen gegeben, dass er Genreliteratur als ein geeignetes Vehikel sehe, um Aussagen über den Menschen, die Gesellschaft und den Rest der Welt zu treffen – ein »subversiver« Umgang mit dem Genre also. Dieser Anspruch erschien mir nach dem Lesen von Bakkers Trilogie wie angekündigt und nie eingeholt.

Bakkers programmatische Ansagen sind es auch, die den (oft unausgesprochenen) Hintergrund zu der anhaltenden Kontroverse um seine Bücher abgeben. Bakker sieht sich als Philosophen, hat auch einige Zeit lang ein Graduiertenstudium der Philosophie verfolgt und kommt oft auf das zu sprechen, was er als den philosophischen Subtext seiner Romane betrachtet. Ausformuliert scheint mir dieser Subtext jedoch nicht weit über eine Reihe eher banaler, auch fragwürdiger Statements über die menschliche Natur hinauszugehen: Bakker hält den Menschen für endlos manipulierbar und getrieben von evolutionär erworbenen Vorurteilen, die selten durchschaut, dafür aber um so häufiger rationalisiert werden. Evolutionspsychologie und Neurowissenschaften lieferten die Beweise dafür. Es sind anthropologische Plattitüden, die Bakker regelmäßig zur Begründung seiner eigenen Positionen angibt, als ob sie sich von selbst verstünden: »[W]e live in a universe so big that [...] we tend to economize by packing our terms with implicit judgements« oder »people abhor uncertainty almost as much as nature abhors vacuums« sind Beispiele für solche Mantras, wie sie in Bakkers Texten in fast beschwörender Regelmäßigkeit auftauchen. Die Grenze des Denkens, so lässt die zugrundeliegende Idee sich zusammenfassen, ist das menschliche Gehirn, und es ist zugleich auch die Grenze der Vernunft, denn es lässt sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln erforschen und anhand der Ergebnisse manipulieren. Mit Philosophie, verstanden als kritisches Denken, welches die herrschaftlichen Voraussetzungen der Phänomene ans Licht zu bringen versucht, hat eine solche Auffassung allerdings nichts gemein. Bakkers Aussagen sind nicht unbedingt falsch, aber sie als Prämissen zu setzen, ist nicht kritisch, sondern schlicht reduktionistisch. Es handelt sich dabei nicht um Philosophie, sondern um biologistische Weltanschauung, wie sie derzeit gang und gäbe ist.

Die Kontroverse um Bakkers Bücher ist auch ein gutes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn diese Weltanschauung in einem gesellschaftlichen Konflikt zur Meinung konkretisiert wird. Der häufigste Vorwurf an Bakker lautet, seine Figuren agierten nach klischeehaft gezeichneten Geschlechterrollenmustern, aus denen es scheinber keinen Ausweg gebe: Männer sind aggressiv, Frauen fügen sich. Bakker erwidert darauf in der Regel, er greife in voller Absicht gängige Klischees auf, nur um dem Leser hinterher mit um so größerer Deutlichkeit vor Augen zu führen, wie sehr diese stereotypen Darstellungen von seinen eigenen kognitiven Vorurteilen geprägt seien. An dieser Stelle könnte Bakker sich nun bequem zurücklehnen und auf den Standpunkt zurückziehen, dass seine künftigen Bücher erklären werden, warum die bereits erschienen so problematisch erscheinen. Tut er aber nicht. Stattdessen beißt er sich an jeder Kritik, die zu seinem Werk geäußert wird, regelrecht fest und veröffentlicht ausschweifende Blogposts, die letztlich aber doch nur in immer wieder neuer Form wiederholen, was ich im vorigen Absatz dargestellt habe. Das könnte man für schlichtweg langweilig halten (ist es auch, wenn man es liest), hätte Bakker die Sache nicht bis zu einem Punkt getrieben, an dem einer ganzen Reihe von Leuten die Kinnlade runtergeklappt ist: Auf seinem Blog erklärte er, dass er sich seine Leser stets als männlich vorstelle und versuche, ihre Erwartungen auf eine Art und Weise zu bedienen, die sich am Ende als provokant und verstörend erweisen werde. Diese Erwartungen zu bedienen sei notwendig, weil Männer aufgrund ihres evolutionär erworbenen Erbes (so Bakker wörtlich) »seem to track women according to automatic estimates of their ›rapability‹«. Seine biologistischen Überzeugungen bringen Bakker allen Ernstes dazu, die Vergewaltigung von Frauen zum Naturzustand zu erklären. Und seine Absicht dabei, so behauptet er unbeirrt, sei subversiver Natur: Es gelte, Männer auf ihre intrinsisch gewalttätige Sexualität aufmerksam zu machen. Warum? Weil es die Wahrheit sei. Auf den Gedanken, dass er mit seinen stets im Tonfall heiligen Ernstes vorgetragenen Überzeugungen genau dem Phänomen, das er vorgeblich problematisieren will, erst eine außerordentlich bequeme Rechtfertigung liefert, nämlich indem er es zur »wirklich wahren« Naturtatsache macht, ist er bislang nicht gekommen. Noch nie habe er ein ernstzunehmendes Argument gehört, dass seine Ansichten in Zweifel ziehe.

Das ist bemerkenswert, denn es sind vor allem feministische Blogs, die Bakker auf die Unzulänglichkeit seiner Ansichten über sexuelle Gewalt hinweisen. So zum Beispiel Foz Meadows:
Feminism believes that the world can and will get better for women: in fact, it exists to make this happen! Feminism has a higher opinion of men than you do, because it doesn’t countenance the biological inevitability of male violence; rather, it acknowledges that, as some cultures and individuals believe this (falsely) to be so, it ends up being promoted, excused and deferred to beyond all reason.
Wie der sexualisierten Gewalt, die von Männern ausgeht, konkret Einhalt geboten werden kann, darüber schweigt Bakker sich bislang aus. Der feministischen Kritik entgegnet er, seine Methode, auf sexualisierte Gewalt aufmerksam zu machen, werde sich als wirkungsvoller erweisen als die Kämpfe und Kampagnen derjenigen, die diese Gewalt aus eigenem Erleiden kennen. Doch bleibt rätselhaft, was seine Darstellung dieser Gewalt denn nun »subversiv« machen soll, wenn sie doch eingestandenermaßen den Erwartungen eines männlichen Publikums entspricht. Bislang kündigt Bakker in einem reichlich hochgestochenen Vergleich lediglich an, er werde es Nabokov gleichtun. Wird die Messlatte dermaßen hoch angelegt, dann liegt der Verdacht nicht fern, dass es wohl bei der Ankündigung bleiben wird.

Schien es zunächst lediglich, als habe Bakker sich irgendwo zwischen Anspruch und Wirklichkeit seiner literarisch-weltanschaulichen Ideen verirrt, so wird am Beispiel seiner Aussagen zu sexualisierter Gewalt deutlich, dass männliche Schriftsteller bei einem solchen Thema besser täten, wenn sie auf die dazu berufenen Stimmen hörten, statt alles besser wissen zu wollen und sich mit vulgär-biologistischen Weisheiten zu profilieren. Bakkers bisheriges Auftreten gibt diesbezüglich jedoch wenig Anlass zur Hoffnung. Im Gegenteil, mit jedem neuen Blogpost, mit jedem weiteren Debattenbeitrag wirkt er arroganter und unbelehrbarer. Hat man sich erst mal selbst von der Scheinplausibilität biologistischer Argumente überzeugt, dann fällt es auch um so leichter, so scheint es, sich von kritischem Denken und empathischer Kommunikation zu verabschieden.

Dienstag, 1. Mai 2012

Gesellschaft für Fantastikforschung: Jahrestagung 2012

Die diesjährige Tagung der Gesellschaft für Fantastikforschung findet vom 13. bis zum 16. September in Zürich statt. Das Tagungsthema lautet »Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik« bzw. »Transitions and Dissolving Boundaries in the Fantastic«. Als Teilnehmende angekündigt sind u.a. John Clute, Uwe Durst, Lev Grossmann, John Howe, Dieter Petzold, Lars Schmeink und Simon Spiegel.* Direkt zum Programm geht es hier.

Ich hätte ja gute Lust, im September nach Zürich zu fahren, wenn da nicht das Problem wäre, dass ich die Kosten für die Unterbringung wohl selbst bestreiten müsste. Andererseits: Panels z.B. zum Phantastischen in der Romantik und Vorträge u.a. zu Jeanette Winterson, Amos Tutuola und China Miéville könnten mich schon veranlassen, etwas tiefer in die Tasche zu greifen.

* Mir fällt auf, dass meine Aufzählung ausschließlich aus Männern besteht. Es ist eine Schande für mich, dass mir die Namen der teilnehmenden Frauen allesamt leider überhaupt nichts sagen.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.