Montag, 16. April 2012

Rezensionswesen

Das hier, ein umfangreicher Artikel der Berliner Zeitung über Amazon-Kundenrezensionen, hätte ein recht interessanter und informativer Bericht über das Bewertungswesen bei Amazon werden können.* Leider wird im gesamten Text so dermaßen auf die Tränendrüse gedrückt, dass es kaum zu ertragen ist. Immerhin wird deutlich, dass das in der Amazon-Community vielfach zum Ausdruck kommende Mob-Bewusstsein von der Geschäftsführung sehr wahrscheinlich als verkaufsfördernd angesehen wird. Es fehlt allerdings der Hinweis darauf, in welchen Bereichen das Abfeiern von idolisierten Autoren und die Buhrufe gegen unliebsame Kritikerinnen besonders unappetitliche Züge annehmen: Eso-Heilsbringer, positivistische Pfaffenfresser, miefig-traditionalistische Klerikale, antisemitische Verschwörungstheoretiker und sämtliche Spielarten von Pseudowissenschaft können sich sicher sein, dass ihre obskuren Publikationen auf Amazon von einer treu ergebenen Fan-Base bejubelt werden. Wer eine negative Bewertung in einer dieser Weltanschauungsnischen abgeben will, sollte eine gewisse Dickfelligkeit mitbringen und sich auf Beschimpfungen gefasst machen. Interessant ist die Erkenntnis, die man dabei machen kann, aber allemal: Die aufgezählten Milieus, die sich untereinander spinnefeind sind, gleichen sich in ihren Ressentiments wie ein Ei dem anderen.

Recht deutlich wird der Artikel, wenn es darum geht, dass negative Bewertungen bei Amazon grundsätzlich unerwünscht sind, während in positiven Rezensionen praktisch alles drinstehen darf, was nur irgendwie verkaufsfördernd ist. In extremen Fällen gilt das auch für die Leugnung des Holocaust, wie sie in Bewertungen zu verschwörungstheoretischen Büchern von einem unter dem Nick Dipl.-Ing. D.I.S. auftretenden Amazon-User regelmäßig veröffentlicht wird. Der braune Kamerad heißt eigentlich Dennis Schulz und verbreitet auch auf YouTube** und MyVideo (hier unter dem Nick Resurrector21) rechtsradikale und verschwörungstheoretische Inhalte. Bemerkenswert ist, dass er von Amazon.de allem Anschein nach bislang völlig unbehelligt gelassen wurde, auch dann, wenn es um strafrechtlich relevante Aussagen ging. Allzu offensichtlichen Geschichtsrevisionismus in seinen Rezensionen entschärfte er nur deshalb, weil andere User_innen mit Strafanzeige drohten.

Das Verhalten von Amazon.de entbehrt nicht einer gewissen Konsequenz. Positive Bewertungen sind für den Konzern Gratiswerbung, das ist bei normaler Literatur nicht anders als bei Fascho-Hetzschriften. Die Kundenrezensionen sind direkt in den Verkaufskreislauf eingebunden und Teil des Tauschverhältnisses, das die Kund_innen mit dem Buchhandelsgiganten eingehen. Der Artikel lässt deshalb einen Göttinger Literaturprofessor fordern, Amazon müsse transparent werden: Weil die User_innen in das Unternehmen eingebunden seien, dürfe Amazon seine Geschäftspolitik nicht als Privatsache behandeln und müsse glaubhaft darlegen, wie gegen den Missbrauch der Rezensionsfunktion vorgegangen werden kann.

Ich finde es fast schon verständlich, wenn Amazon zu solchen Forderungen nur mit den Achseln zuckt. Der Konzern unterliegt wie jedes Unternehmen dem Verwertungszwang und kann in den Bedürfnissen von User_innen, die nicht unmittelbar mit dem Verwertungsprozess zusammenhängen, daher nichts anderes als eine Nebensache sehen. Durch ihre Einbindung sind die Kundenrezensionen nicht mehr in erster Linie Kritik,*** sondern Werbung, und dass die nicht immer schön ist, sondern oft rücksichtslos und ziemlich hässlich, wissen wir alle. Auch die wirren rechtsradikalen Auslassungen des Dipl.-Ing. D.I.S. sind in all ihrer menschenverachtenden Qualität Werbung, die zum Kauf ebenso wirrer rechtsradikaler Bücher anregen soll.

Zu dieser naheliegenden Einsicht hätte auch der Artikel in der Berliner Zeitung gelangen können. Indem er das Problem als Schmerzensgeschichte eines von Amazon enttäuschten Top-Rezensenten emotionalisiert und individualisiert, liest er sich allerdings ziemlich unerträglich.

* Drauf gestoßen über einen Thread im Literaturschock-Forum.
** Der YouTube-Kanal ist mittlerweile nicht mehr zugänglich. Das erklärt sich der braune Dipl.-Ing. mit der jüdischen Weltverschwörung (»JewTube«).
*** Kritik hier im umgangssprachlichen Sinne als Bewertung anhand von Maßstäben der Schönheit oder der Nützlichkeit verstanden.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…
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Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.