Mittwoch, 27. April 2011

Die Welle

Es gibt ein bestimmtes Genre von Jugendbuch, in dem die – meist als moralische Warnung angelegte – Handlung sich in Form einer Mikro-Dystopie abspielt. Das bekannteste Beispiel dürfte William Goldings Lord of the Flies sein, in dem eine Gruppe gestrandeter Schuljungen auf einer einsamen Insel in kürzester Zeit eine mordgierige Gesellschaft des Fressens und Gefressenwerdens errichten.*

Einordnen in diese Richtung lässt sich auch Morton Rhues Jugendroman Die Welle, welcher von einer authentischen Begebenheit aus dem Jahre 1967 inspiriert ist: Der High-School-Lehrer Ron Jones aus Palo Alto veranstaltete ein Experiment mit Schüler_innen, in dem diese unmerklich zu einer faschistoiden Gemeinschaft zusammengeschweißt werden sollten. 1981 erschien dann Rhues bekanntes Buch, 2008 wurde der Stoff – mit nunmehr nach Deutschland verlegter Handlung – erneut aufgegriffen. Das traurige Resultat ist Dennis Gansels Film Die Welle. Dabei stützte Gansel sich nicht direkt auf Rhues Buch, sondern griff auf den Urheber des Experiments, auf Ron Jones zurück, der den Regisseur für seinen Film beriet.**

Die Hauptrolle wird in Gansels Film tapfer von Jürgen Vogel gespielt, der den Lehrer als leicht alternativ angehaucht darstellt – so einer, der um jeden Preis der beste Kumpel seiner Schüler_innen sein will. Im Rahmen einer Projektwoche, die den Jüngelchens und Mädchens das Konzept der Diktatur abschreckend vor Augen führen soll, beginnt er, mit den Kleinen selbst faschistische Diktatur zu spielen. Die Geschichte ist bekannt: Nachdem der Lehrer zunächst autoritäre Verhaltensregeln einführt, verselbständigt sich das Experiment rasch. Die teilnehmenden Schüler_innen uniformieren sich, geben ihrer Bewegung einen Namen und einen besonderen Gruß, fangen an, andere Schüler_innen zu drangsalieren und auszugrenzen. Am Ende kommt es zur Eskalation: Der Lehrer und selbsternannte Führer der Bewegung kann sein fanatisiertes Gefolge selbst nicht mehr zur Vernunft rufen – zu welcher auch, fragt man sich, denn der Faschismus folgt eben seiner eigenen UnVernunft.

Die anderen Rollen neben und unter Jürgen Vogel bleiben allesamt blass und schemenhaft. Die Schüler_innen erfüllen lediglich die dramaturgische Funktion, für bestimmte, oft klischeehafte Charaktertypen zu stehen und holzschnittartige Meinungssätze rauszuhauen. Perfiderweise werden sie allesamt so dargestellt, dass sie vermeintlich gute Gründe haben, unter dem Banner der neuen Bewegung mitzulaufen. Einer ist türkischer Herkunft und fühlt sich nicht als Deutscher akzeptiert. Ein anderer kann sich zwar teure Klamotten leisten, gilt aber als hochnäsig. Der dritte ist der archetypische Außenseiter, der alles tun würde, um Teil der Gemeinschaft zu sein. Ein Jugendlicher steht im Schatten seiner charismatischen Freundin, bevor er sich der Bewegung anschließt. Und immer so weiter. Die Dynamik des Films sagt uns nun, dass der Faschismus die reale Lösung für all diese Probleme bereithält: Sie alle lassen ihre Schwierigkeiten und sozialen Unterschiede hinter sich, verbrüdern sich unter dem Banner der »Welle« und amüsieren sich dabei prächtig. Es wird gemeinsam gefeiert; wer mitmacht, wird nicht mehr scheel angeguckt; man hilft sich gegenseitig bei Schwierigkeiten. Die Botschaft von Gansels Film lautet also kurzgefasst: Faschismus macht Spaß.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die sich widersetzen, aber ihre Motivation bleibt weitgehend unklar. Schon im Falle des Lehrers weiß man als Filmgucker_in nicht, was ihn eigentlich umtreibt: Gefällt ihm sein autoritäres Experiment? Will er den faschismusanfälligen Kiddies nur einen gehörigen Schrecken einjagen? Keine dieser Möglichkeiten wird explizit thematisiert, das Verhalten des Lehrers bleibt vage. Die Mitglieder der Bewegung, die nachts durch die Straßen stürmen und ihr Logo auf die Wände sprayen, geraten mit einer Gruppe von Punks und Rockern aneinander, denen das Nazi-Spiel auf die Nerven geht. Berechtigtermaßen, möchte man meinen. In den entscheidenden Szenen werden die antifaschistischen Punks dann aber als unberechenbare, kaputte Gewaltfreaks geschildert, während die eingeschüchterten Nachwuchs-Nazis in ihren weißen Uniformen als die reinsten Engelchen erscheinen. Auf wessen Seite stellt sich dieser Film eigentlich?

Eine Schülerin vor allem versucht sich, der Welle entgegenzustellen. Es handelt sich um die bereits erwähnte charismatische Freundin, die ob ihrer Hochnäsigkeit den Geliebten in die Arme der Bewegung getrieben hat, wo er endlich mal wer sein darf. Klar, dass sie nun ein persönliches Motiv hat, den Kampf aufzunehmen. Alles andere wäre nämlich nicht lauter genug: Die Heldin tut sich mit einer Mitschülerin zusammen, welche offenkundig eine linke Jugendliche darstellen soll. Die wird nun auf eine Art und Weise gezeichnet, dass kein noch so blödes Klischee ausgelassen bleibt: Sie redet wie eine Agitprop-Maschine, himmelt Michael Moore an und ist überhaupt der Meinung, dass man im Namen der guten Sache auch manipulieren und übertreiben müsse, um Erfolg zu haben. In jedem Mädchen mit rotgefärbten Dreadlocks verbirgt sich eben eine kleine Stalinistin. Da kann die Heldin natürlich nicht mitmachen und lässt so die Extremismustheorie, derzufolge links und rechts eigentlich dasselbe sind, praktisch werden.

Am Ende bewegt die Heldin den Lehrer zu einem Versuch, der Bewegung Einhalt zu gebieten. Daraufhin hält er seinen Paladinen und ergebenen Anhänger_innen eine Rede, in der so ziemlich jedes zum Faschismus führende Ressentiment (wir Deutschen sind die Opfer der Globalisierung und ähnliches Blabla) aufgenommen und bestätigt wird. Der Faschismus wird als einfache Lösung betrachtet, womit er vor allem als tatsächliche Lösung angepriesen wird. Wenn diese Lösung nur nicht so ein klitzeklein wenig gewaltförmig und unbeherrschbar wäre. Weil sie das aber ist, muss man sich dann halt doch mit der drögen parlamentarischen Demokratie zufrieden geben. Emanzipatorische Vorstellungen des Politischen tauchen dagegen gar nicht erst auf – was nach dem Vorangegangenen aber auch mehr als erstaunlich gewesen wäre. Insofern ist die banal-bösartige Botschaft des Films noch ein wenig zu präzisieren: Faschismus macht Spaß, führt aber zu weit. Deshalb muss man mit dem Status quo leben lernen. Alternative: keine.

* Allerdings ist in Lord of the Flies die Handlung in die Makro-Dystopie eines globalen Atomkriegs eingebettet.
** Und gerüchtehalber ein begnadeter Selbstdarsteller sein soll.

Montag, 25. April 2011

Ein neuer Zamonien-Roman im Herbst

Gute Neuigkeiten: Am 5. Oktober diesen Jahres soll Das Labyrinth der Träumenden Bücher von Walter Moers erscheinen! Wie der Titel lautstark kundgibt, handelt es sich um die schon lange angedachte Rückkehr des sauromorphen Bestsellerautors Hildegunst von Mythenmetz in die »Stadt der Träumenden Bücher«, Buchhaim – die bibliomane Metropole des zamonischen Buchhandels. Versprochen wird ein Wiedersehen mit alten Bekannten wie den Buchlingen, aber auch neue Mysterien. (À propos – welches Genre Moers wohl diesmal aufs Korn nehmen wird?)

Hier geht’s zur Verlagsvorschau.

Erfreulicherweise wird wohl die Reihengestaltung der Zamonien-Romane fortgesetzt, scheinbar sogar der Farbschnitt. Halleluja! Angekündigt sind ca. 600 Seiten (kürzer als Blaubär und Rumo, länger als Die Stadt der Träumenden Bücher) und mehr als 100 Illustrationen.

Der Roman erscheint nun im Knaus Verlag, Teil der Random House Verlagsgruppe, nachdem Wolfgang Ferchl (Moers’ Lektor) zum Juli 2009 die Leitung des Verlages übernommen hat. Nach Eichborn und Piper also der dritte Verlag, der Moers’ zamonische Genrestudien verlegen darf.

2011 verspricht, mit neuen Romanen von China Miéville, George R. R. Martin und Walter Moers, ein Lesefest zu werden!

Freitag, 8. April 2011

Völlig an mir vorbeigegangen

ist der Tod von Diana Wynne Jones. Eine sehr traurige Nachricht, auf die ich viel zu spät gestoßen bin.

Hannah Arendt unterscheidet in Vita activa zwischen Ewigkeit und Unsterblichkeit: Ewigkeit ist einfach nur die banale Abwesenheit von Geburt, Veränderung und Tod. Unsterblich dagegen wird man, wenn man Werke erschafft, die das endliche Leben überdauern. Diana Wynne Jones ist es in diesem Sinne gelungen, unsterblich zu werden.

Samstag, 2. April 2011

Die Zwerge von Amboss

Wenn man mich fragt,* ist das Problem mit der Fantasy in Deutschland weniger, dass es keine talentierten Schriftsteller_innen gäbe, sondern eher, dass wenig Raum für ambitionierte Projekte besteht.Wird an einem solchen Projekt getüftelt, ist es oft schwer, es auch zum Abschluss zu bringen: Ein groß angelegter Zyklus wie die Gezeitenwelt-Romane von Bernhard Hennen, Thomas Finn & Co. wurde nach den ersten fünf Bänden auf Eis gelegt. Micha Pansis hochinteressante Daimonentrilogie, eine epische Fantasy vor postapokalyptischem Hintergrund, wurde nie fortgesetzt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn solche Projekte in der deutschsprachigen Fantasy noch einen vergleichsweisen Seltenheitswert haben.

Näher liegt es für viele Autor_innen daher sicherlich, statt großer, komplex angelegter und mythologisch unterfütterter Zyklen auf die bewährte Formel »1 Idee = 1 Buch« zurückzugreifen. Eine zündende Idee soll dann konsequent den ganzen Roman tragen, Charaktere und Handlungselemente zieht man rein nach dem Funktionalitätsprinzip heran und widmet ihnen ansonsten keine weitere Aufmerksamkeit. Dem ersten Band von Thomas Plischkes gemeinsam mit Ole Johan Christiansen entwickelten Zyklus Die Zerrissenen Reiche kann man das dagegen kaum vorwerfen. Der Roman ist ein wahres Feuerwerk an Ideen und Spannungstriggern.

Zentral für Plischkes und Christiansens Weltenbau ist der Versuch, einem verbreiteten Lapsus der Sekundärwelt-Fantasy eine fundierte Alternative entgegenzusetzen: Die typische Zwergenkultur in der generischen Fantasy ist technologisch hochentwickelt, aber seltsamerweise völlig randständig, was politischen und ökonomischen Einfluss angeht. Die typischen Fantasy-Menschenvölker stagnieren dagegen meist irgendwo zwischen Früh- und Hochmittelalter,** dominieren aus unerklärlichen Gründen aber trotzdem die gesamte terra cognita. Diesem bedauerlichen Mangel an Materialismus setzen Plischke und Christiansen ein nicht nur technologisch höchst fortgeschrittenes, sondern auch politisch hegemoniales zwergisches Gemeinwesen entgegen.

Im auf einem polaren Kontinent angesiedelten Zwergenbund haben die »Kurzbeine« ein industrielles Paradies errichtet, in dem Arbeitsethos, Pflichterfüllung und Dienst an der Gemeinschaft groß geschrieben werden. Politisch ist der Zwergenbund eine eigentümliche Mischung aus preußelndem Sozialismus und Ständegesellschaft: Einerseits gibt es ein starkes Gemeinschaftsgefühl, andererseits kommt viel darauf an, welcher Familie man angehört und in welche Gesellschaftsschicht man hineingeboren wird. Das »Brudervolk« der Halblinge (mit einer nicht ganz durchsichtigen Vergangenheit ausgestattet) kontrolliert die Bürokratie auf unangefochtene Weise, und die ebenfalls von den Halblingen unterhaltene Geheimpolizei, die Gestapo-ähnliche Bundessicherheit, bringt von Anfang an ein Element des Schreckens in die vorgeblich so wohlgeordnete Gesellschaft.

Südlich des Zwergenkontinents liegen die titelgebenden Zerrissenen Reiche, die von Menschen bewohnt werden. Hier gibt es keinen vergleichbar strammen Fortschritt. Die politischen Entitäten zerfleischen sich gegenseitig in nicht endenwollenden Kriegen und Auseinandersetzungen. Den Begründungszusammenhang für das Blutvergießen liefert die in unzählige Sekten zersplitterte Religion der Menschen, der »Herrenglaube«. Zahlreiche Menschen sind vor den Religionskriegen auf der Flucht und versuchen, in den Zwergenbund zu migrieren, wo sie sich Arbeit und Wohlstand erhoffen oder auch einfach nur ihr Überleben auf etwas würdevollere Art organisieren wollen. Es muss kaum erwähnt werden, dass sie stattdessen mit Rassismus und Ausbeutung konfrontiert werden. Jede Menge Konfliktstoff also. Nicht ganz klar geworden ist mir beim Lesen dieses ersten Bandes übrigens, ob die kriegerischen Auseinandersetzungen unter den Menschen genuiner Fanatismus sind, oder ob es sich eher um religiös kaschierte ökonomische und politische Verteilungskämpfe handelt.

Zur Story des Auftaktbandes, Die Zwerge von Amboss: Garep Schmied, ein vom Leben gebeutelter Großstadtbulle, wird an den Schauplatz eines Mordes gerufen, der nicht der einzige bleiben soll. Garep stößt schnell darauf, dass die Morde lediglich ein Mittel zum Zweck sind: Sie sollen den im Zwergenbund lebenden Menschen untergeschoben werden, um sie unter Generalverdacht zu stellen und einem bevorstehenden Krieg gegen die Zerrissennen Reiche die nötige ideologische Unterfütterung zu verleihen. Garep ist jedoch zu eigensinnig, das Spiel widerspruchslos mitzuspielen, und ermittelt auch dann auf eigene Faust weiter, als die Morde offiziell bereits menschlichen Täter_innen angelastet wurden. Zum Verhängnis wird ihm dabei sein ambitionierter Kollege Bugeg, der bis zur Schädeldecke angefüllt ist mit fanatischen Ideen über die zwergische Überlegenheit. Diejenigen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, merken nämlich alsbald, dass Bugeg sich hervorragend als willfähriges Werkzeug für ihre Pläne eignet.

Das zugrundeliegende Garn ist also das vom zynischen, aber aufrichtigen Schnüffler, der gegen seinen Willen in einen höchst urbanen Strudel aus Politik, Gewalt und Verbrechen gerät, bis er alle drei nicht mehr zu unterscheiden vermag. Auch für den Plot gilt: Viele Autor_innen hätten sich auf die Formel »1 Idee = 1 Buch« zurückgezogen. Bei Plischke blieb es jedoch nicht dabei, Hardboiled-Motive für die Fantasy zu verwursten. Hinzu kommen nämlich noch verschiedene Rollenspielelemente, die hier und da in die Handlung gepackt werden, und mit dem Monsterjäger Siris von Wolfenfurt wird ein zentraler Charakter eingeführt, der als spielerisch-klischeehafte Hommage an typische Fantasy-Maskulinismen gelten kann. Als ob es damit nicht genug wäre, hat sogar – wann hat es das zuletzt gegeben? – ein waschechter mad scientist einen zentralen Auftritt.

Solcher Anspielungen zum Trotz ist die Grundstimmung des Romans eher ernst und düster, wie zum Ende hin immer deutlicher wird. Nur spaßige Unterhaltung will dieser Zwergenroman nicht sein. Das große Thema, das sich im Hintergrund abzuzeichnen beginnt, ist nichts geringeres als die Transformation eines politischen Systems in eine von Rassismus, Intrige und Paranoia geprägte Diktatur.

Geschildert wird all dies auf eine Weise, die stets Lust zum Weiterlesen macht. Mir scheint, dass dieser erste Band zwar seinen eigenen Spannungsbogen hat, vorrangig aber zur Aufstellung des Figurenensembles und zur Andeutung der großen Erzähllinien und Motive dient. Stichwort Andeutungen: Erschwert wurde mir die Lektüre der Zwerge von Amboss dadurch, dass allzuviele Geschehnisse im Halbdunkel bleiben, zahlreiche mysteriöse Charaktere eingeführt werden und man gelegentlich das Gefühl hat, der Plot in seiner Vordergründigkeit stehe etwas unverbunden vor den sich nur schemenhaft abzeichnenden Entwicklungen im Hintergrund der geschilderten Sekundärwelt. Man erfährt als Leser_in des ersten Bandes nicht so viel über Welt und Story, wie man sich das gewünscht hätte. In diesem Fall würde ich aber bedenkenlos sagen: Ein Grund mehr, sogleich zum zweiten Band zu greifen, in dem man hoffentlich mehr erfährt!

Die Zwerge von Amboss von Thomas Plischke (492 Seiten) ist 2008 bei Piper erschienen.

* Mich fragt natürlich niemand. Aber man verzeihe mir diese rhetorische Schwäche.
** Wobei dies nicht hundertprozentig zutreffend ist. Häufig blühen – wie seltsame Pilze – mitten in der Dark-Age-Pastorale renaissanceartige Städte auf, deren materielle Existenzgrundlage in der Regel unklar bleibt.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.