Montag, 29. November 2010

Vanitatum vanitas

Literaturbetrieb ist Eitelkeit. Um sich davon zu überzeugen, muss man nicht erst Fritz J. Raddatzens kürzlich publizierte Tagebücher lesen, in denen er in unnachahmlich eitler Manier die Eitelkeit der Literati bloßlegt. Nein, es reicht völlig, einen Blick in die Literaturbeilage einer beliebigen Zeitung zu werfen. Da kann man dann zum Beispiel lesen, wie gerührt Michel Houellebecq darüber ist, dass ihm der Prix Goncourt verliehen wurde. So gerührt nämlich, dass er, der sich bislang gar nicht genug echauffieren konnte, wie sehr er in der Heimat doch gehasst, verfolgt und missverstanden wird, plötzlich seine Liebe für’s Vaterland entdeckt: Er habe sich geirrt, er möge Frankreich doch und spiele mit dem Gedanken der Remigration.*

Dabei hatte Houellebecq noch vor wenigen Jahren, in einem gemeinsam mit dem Philosophendarsteller Bernard-Henri Lévy veröffentlichten (und unweigerlich von Matthias Matussek mit Lob beschleimten) Debattenbuch, laut und pathetisch über Selbstmord nachgedacht. Damit dürfte es erstmal vorbei sein. Anlässlich der Preisverleihung rutscht – wenn man der Berichterstattung Glauben schenken darf – der gesamte französische Literaturbetrieb vor Houellebecq auf den Knien und vergeht sich sogar so weit, ihn mit Balzac und Zola in eine Reihe zu stellen.

Oder hofft Houellebecq insgeheim etwa, durch eine Rückkehr nach Frankreich seiner eitlen Existenz doch noch ein frühzeitiges Ende setzen zu können? Etwa, indem er wie Jean-Baptiste Grenouille von der entfesselten Masse seiner Bewunderer einfach aufgefressen wird? Immerhin hat Houellebecq den Goncourt für einen Roman erhalten, in dem sein Alter ego blutrünstig ermordet wird. Aber nein, das wäre untypisch. Deutscherseits inszeniert Thilo Sarrazin sich auf ganz ähnliche Weise als verfolgte Unschuld (und auch er wird mit einer bildungsklassizistisch triefenden Aura umgeben), macht aber realiter ebensowenig Anstalten, von der Bildfläche zu verschwinden, wie der Kollege aus Frankreich.

Außerdem ist Houellebecq, wie man weiß, ein Sympathisant des Raelismus. Die Anhänger_innen dieser Lehre suchen bekanntlich nach dem Rezept für die irdische Unsterblichkeit. Ein durchaus bedrohliches Szenario, wenn man mich fragt: Zu hoffen bleibt, dass die Raelist_innen den Stein der Weisen erst nach Houellebecqs physischem Ableben finden. Und die Hoffnung stirbt, zumindest der Theorie nach, bekanntlich immer zuletzt.

* Houellebecq lebt, von der Kritik an seinem 1988er Roman Elementarteilchen zutiefst getroffen, in Irland und auf Lanzarote im Wahl-Exil.

Samstag, 27. November 2010

Premio Cervantes für Ana María Matute!

Die katalanische Schriftstellerin Ana María Matute ist mit dem Cervantespreis, dem wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet worden. Die großen deutschen Zeitungen scheinen darüber verblüfftes Stillschweigen bewahren zu wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt ...

... denn Matutes zuletzt ins Deutsche übersetztes Buch ist die epische Fantasy Olvidado Rey Gudú, in den zwei Bänden Der vergessene König Gudú und Das Erbe des Königs Gudú bei Piper erschienen. Als der Piper-Verlag vor einigen Jahren begann, unter Leitung von Friedel Wahren sein Fantasy-Programm aufzubauen, stand dieses zunächst in der Nachfolge des entsprechenden Programms bei Weitbrecht/Thienemann, welches einen Schwerpunkt in märchenhafter Fantasy hatte und Autoren wie Hans Bemmann, Michael Ende und Otfried Preußler publizierte. Dieser Traditionsbezug eröffnete ungeahnte Möglichkeiten bei Piper, denn plötzlich erschienen dort Raritäten und Kostbarkeiten wie Hope Mirrlees, Barry Hughart und eben Ana María Matute, teils sogar in schön ausgestatteten Hardcover-Bänden. Leider war diese experimentierfreudige Phase nicht von langer Dauer, denn es begann der große Wettlauf der einschlägigen Verlage, in möglichst großer Anzahl Völkerromane auf den Markt zu werfen.

Olvidado Rey Gudú hatte im Erscheinungsjahr 2003 eine enorm euphorisierende Wirkung auf mich, weil der Roman mich schlagartig überzeugte, dass es lesenswerte epische Fantasy nach Tolkien gibt, und ich gar nicht mehr aufhören konnte, Matute zu bejubeln und zu loben. Entsprechend freue ich mich jetzt über die Preisvergabe. Die Autorin selbst, die oftmals als Grande Dame der katalanischen Literatur bezeichnet wird* und auf ein umfangreiches Werk zurückblicken kann, nennt den Gudú ihr wichtigstes Werk und sieht in ihm das Buch, dass sie schon vor Beginn ihrer literarischen Karriere schreiben wollte. In der Tat handelt es sich um eine Geschichte von mitreißender erzählerischer Kraft und einer mythopoetischen Intensität, wie man sie selten findet. Um so schöner, dass es den Gudú gibt, dass er übersetzt wurde und sein Zauber somit nicht auf die spanischsprachige Welt beschränkt blieb.

* Eine Bezeichnung, die nicht missverstanden werden sollte: Matute schreibt in kastilischer Sprache.

Dienstag, 23. November 2010

Sommerland

Michael Chabon ist ein Autor mit einem Zielgruppenproblem. Seit seinem hysterisch-realistischen Opus magnum The Amazing Adventures of Kavalier & Clay hat er, der sich zuvor in die minimalistisch-karge Prosatradition des 20. Jahrhunderts einordnete, eine YA-Fantasy, ein Sherlock-Holmes-Pastiche, einen Alternativweltroman (der prompt den Locus, den Hugo und den Nebula abräumte) und eine Michael Moorcock gewidmete Abenteuergeschichte veröffentlicht. Man muss sich das mal so richtig vor Augen halten: Chabon ist ein Pulitzer-Preisträger, der mit beachtenswerter Konsequenz – und in durchaus provokanter Haltung – auf dem Weg ist, ein Genre-Autor zu werden. Mit der Essay-Sammlung Maps & Legends, in der er stolz seine Vorliebe für Comics, Fantasy, Mythologie und viktorianische Gespenstergeschichten zelebriert – aber auch melancholisch über den Außenseiterstatus reflektiert, den ein solcher Weg und ein solches Bekenntnis mit sich bringen –, hat er auch gleich das passend-trotzige Manifest dazu geliefert. Putzig ist, dass die Kritik sich über diesen ostentativen Gestus mit dem Argument beklagt, Chabon habe doch für einen Roman über Superheldencomics den Pulitzer bekommen; er habe also kein Recht, sich als Underdog zu sehen. Aber ist es wirklich so, dass Chabons Genre-Switching keinenn Einfluss auf den Status eines Autors hat? David Anthony Durhams Feststellung etwa, seit er sich mit Pride of Carthage und Acacia der spekulativen Literatur zugewandt habe, ignoriere ihn das New York Times Book Review völlig, spricht in dieser Hinsicht Bände.

Aber kommen wir zu Sommerland, dem Buch, das hier rezensiert werden soll; die erste reine Fantasy, die Chabon veröffentlicht hat. Protagonist ist Ethan Feld, ein melancholischer Elfjähriger mit einem baseballvernarrten Vater und einer früh verstorbenen Mutter. Ethan selbst hat nicht viel Lust auf Baseball und spielt eigentlich nur seinem Vater zuliebe, der den Tod seiner Frau nur schwer verwindet. Viel lieber zieht Ethan sich an einsame Orte zuück, wo er sich »in seiner Einsamkeit beinahe glücklich« fühlen kann. Ethans Freundin, Jennifer T. Rideout, stammt aus einer indigenen Familie, muss sich jedoch damit herumschlagen, dass die indigene Präsenz auf der kleinen Insel vor der Küste von Washington, wo der Roman seinen Ausgangspunkt nimmt, schlicht geleugnet wird. Außerdem hat sie ein gespanntes Verhältnis zu ihrem Vater. Der Dritte im Bunde ist Thor Wignutt, ein Junge, der selbst nicht so recht weiß, was mit ihm los ist, und darum die für ihn einleuchtende Erklärung gefunden hat, dass er ein Cyborg sei.

Die drei Außenseiter-Kinder werden nun – wie könnte es anders sein – von Chiron Brown, einer Art kosmischem Baseball-Talentscout, rekrutiert, um in den mythischen Sommerlanden den Kojoten, den archetypischen Trickster der nordamerikanischen Mythologie, in einem großen Ragnarök-Baseballspiel zu besiegen. Der Kojote ist nämlich drauf und dran, die Welt inklusive der Sommerlande zu vernichten, um daraufhin in einem Akt prometheischer Selbstschöpfung das All rein aus seinem Geiste neu zu schaffen: das Universum als Ego-Trip.

So weit, so gewöhnlich. Der Spaß, den man mit Sommerland haben kann, liegt aber woanders. Ähnlich wie Neil Gaiman greift er zahlreiche Mythen und Sagengestalten auf – nicht um sie zu systematisieren (das tun viele Fantasy-Autor_innen, und meist ist es ziemlich langweilig), sondern um sie in ihrer faszinierenden Eigentümlichkeit aufblitzen zu lassen, durcheinanderzuwürfeln und an jeder Ecke lauern zu lassen. Chabons Hauptquellen sind die skandinavische und die nordamerikanische Mythologie, aber es kommen auch ganz andere Gestalten vor, wie beispielsweise das zentralamerikanische Gespenst La Llorona, dessen Geschichte ich in Guatemala (in zwei verschiedenen, gleichermaßen wahren, aber perspektivisch völlig unterschiedlichen Fassungen) kennengelernt und jetzt also unverhoffterweise in einem Chabon-Roman wiedergetroffen habe. Das alles ist ziemlich faszinierend, und, wenn man sich (so wie ich) mit nordamerikanischer Folklore nicht auskennt, nicht zuletzt auch verwirrend. Die englischsprachige Wikipedia gibt einige hilfreiche Informationen zu Chabons diesbezüglichen Quellen. Man kann sich also nach dem Lesen lustvoll dem Spaß des Mehrdarüberwissenwollens hingeben.

Die Stärke des Romans liegt in der Glaubensfestigkeit, die er vermittelt, in der Einsicht, wie wunderbar es ist, spinnen zu dürfen. Kleine Gegenstände neigen einfach dazu, in irgendwelche Ritzen zu fallen und zu verschwinden? Blödsinn! Fehlende Socken, abgerissene Knöpfe, Kleingeld aus der Hosentasche werden in Wirklichkeit von Ferischern gestohlen, kleinen, wett- und sammelgierigen Wesen, die die erbeuteten Schätze in ihren Elfenhügeln horten. Bigfoot ist nur ein Typ in einem Affenkostüm? Das kann sich ja einbilden, wer will, ich jedenfalls glaube fest daran, dass auf dem verwackelten Film aus dem Jahre 1967 tatsächlich der Sasquatch aus den Wäldern zu sehen ist. Oder kann man sich eine platt-rationalistischere Erklärung für die riesigen Saugnapf-Narben auf den Rücken von Pottwalen vorstellen als die Behauptung, die Wale würden in ihrer Jugend von relativ kleinen Tintenfischen angegriffen und die Narben dann im Laufe ihres langen Tiefseelebens mitwachsen? Wie schön und schrecklich ist dagegen die Vorstellung dreißig Meter langer Riesenkalmare, die gegen die Wale gewaltige unterseeische Schlachten schlagen! Eine suspension of disbelief im Wortsinne ist das wohl nicht, sondern einfach der Wunsch, bei der allgegenwärtig anfälligen Interpretation der Wirklichkeit auch wirklichen Spaß zu haben ...

Die Queste-Handlung von Sommerland dümpelt dagegen oft genug vor sich hin. Sie besteht darin, dass Ethan, Jennifer T. und Thor, verstärkt durch eine Reihe von Fabelwesen, auf ihrem Weg durch die Sommerlande ein Baseballspiel nach dem anderen bestehen müssen, bis sie endlich dem Kojoten und seinen blutrünstigen Heerscharen entgegentreten können, und bildet eigentlich nur den Anlass, ein Mythologem nach dem anderen einzuführen, sie geschickt zueinander in Beziehung zu setzen (was sonst ist Mythologie?) und in ihrer Schönheit und Gefährlichkeit glänzen zu lassen. Das gibt Chabon auch unumwunden zu, wenn er einen seiner Charaktere sagen lässt, dass ein Baseballspiel eigentlich nur dafür gut sei, Aufmerksamkeit auf die Kadenz eines langen Sommernachmittags zu lenken. Das beschreibt perfekt die Funktion des Plots in diesem Buch.

Stilistisch hat mich Sommerland nicht so hin- und weggerissen, wie Chabon das normalerweise tut – was wahrscheinlich daran liegt, dass ich zum ersten Mal ein Buch von ihm in deutscher Übersetzung gelesen habe. Es muss eine harte Nuss sein, Chabons komplexe Prosa in eine andere Sprache zu übertragen. Mit den Originalen ist man bei Chabon vorläufig wohl besser bedient. In Sommerland bedient er sich mit einiger Begeisterung der typischen Stilmittel klassischer Fantasies und Abenteuergeschichten für Kinder (Hauptinspiration für den Roman ist wohl Susan Coopers The Dark Is Rising), wie z.B. die direkte Ansprache der Leser_innen. Durch gewisse inhaltliche Akzentpunkte, die Chabon setzt, reflektiert er jedoch auch die Ausblendungen und Augenwischereien, die Kinder- und Jugendliteratur häufig unerträglich machen. Chabons Charaktere jedenfalls müssen pinkeln, werden im Laufe ihrer Queste immer ungewaschener, nehmen ihre eigenen Körper und die der anderen war. Mädchen, die gerettet werden müssen, sind weit und breit nicht zu entdecken. Und Gewalt ist ... eher ziemlich fies und keine ambivalenzfreie Problemlösung. Eindrücklichstes Beispiel: Der Kojote will mit seiner Armee von Werwölfen eine befestigte Stadt von Riesen auf seine Seite ziehen. Dies erreicht er, indem er in eiskaltem Verrat die Riesen ein splatteriges Schlachtfest unter ihrer Lieblingsbeute, den arglosen Werwölfen, anrichten lässt. Eine Szene, die mich als Kind ganz schön beunruhigt hätte.

Fazit: Nach der gewaltigen Metafiktion von Kavalier & Clay ein Buch, dass für den Autor sichtlich ein Wagnis und die Erfüllung eines Traums darstellte. Andere Romane Chabons mögen bedeutender sein, dafür ist dieses hier grundsympathisch. Man merkt dem Autor an, dass er beim Schreiben gelegentlich unsicher war, wie er mit seiner sprühenden Fantasie umgehen sollte. Ein klein wenig Systematisierung braucht eine rundum gelungene Fantasy halt doch, damit die Leser_innen sich darin zurechtfinden können. Ist das gegeben, braucht man auch nicht mehr auf allzu abgegriffene Queste-Handlungen zurückzugreifen. Chabon beabsichtigt, zwei Sequels zu Sommerland zu schreiben – wie könnte es anders sein – und wird somit Gelegenheit haben, seine durch den Auftaktband sicherlich geschärften Skills als Fantasy-Autor unter Beweis zu stellen.

Sommerland von Michael Chabon ist 2002 bei Hanser und 2005 als Taschenbuch (478 Seiten) bei BvT erschienen. Die Übersetzung besorgte Reiner Pfleiderer. Für Ahnungslose wie mich ist hinten im Buch eine kurze Beschreibung der Baseball-Regeln und ein Glossar abgedruckt. Ich bin mir aber immer noch nicht sicher, ob ich’s kapiert habe.

Samstag, 20. November 2010

Politische Intelligenz und Ecos Pendel

Trigger-Warnung: Ein Zitat enthält einen ausgeschriebenen rassistischen Ausdruck.

In seinem zweiten Roman Das Foucaultsche Pendel stellt Umberto Eco eine Typologie der menschlichen Intelligenz auf: Ecos Romanfigur Jacopo Belbo zufolge gibt es den Idioten, den Dämlichen, den Dummen und den Irren.* In der Empirie treten diese Typen natürlich fast nie in Reinform auf, normal ist vielmehr eine Mischung aus den verschiedenen Typen, die je nach Einzelfall unterschiedlich ausfallen kann. Es handelt sich also, weberianisch gesprochen, um Idealtypen.

Der Idiot ist, kurz gesagt, der Mensch, der sehenden Auges gegen die geschlossene Glastür rennt. Das ist verzeihlich und kann uns allen mal passieren. Der Dämliche aber ist Belbo zufolge ein »Träger eminent bürgerlicher Tugenden«. Er verrennt sich weniger, als dass er sich vertut:
»Der Dämliche sagt nicht, daß die Katze bellt, er spricht von Katzen, wenn die andern von Hunden reden.«
»Der Dämliche ist Joachim Murat, der die Parade abnimmt und einen hochdekorierten Offizier aus Martinique erblickt. ›Vous êtes nègre?‹ fragt er ihn. ›Oui mon général‹, antwortet der Offizier. Und Murat: ›Bravo, bravo, continuez!‹«
Der Dämliche argumentiert nicht falsch, vielmehr verfehlt das, was er sagt, immer das Thema. Seine Argumentation verläuft schräg zu dem, worum es geht. Der Dumme dagegen vertut sich nicht im Benehmen, sondern im Denken. Belbo nennt Anselm von Canterbury als Beispiel, der meinte, weil er sich die Existenz Gottes vorstellen könne, müsse Gott auch tatsächlich existieren. Auch der Irre vertut sich im Denken, aber auf andere Weise: Der Irre ist derjenige, der hinter Koinzidenzen stets eine Absicht, einen geheimen Plan vermutet — also niemand anderes als der allseits bekannte Verschwörungstheoretiker.

Das Foucaultsche Pendel beschäftigt sich in der Folge vor allem mit dem vierten Typus, dem Irren. Mich interessiert aus aktuellem Anlass aber eher der zweite Typus, der Dämliche. Belbo bezeichnet ihn ihm Roman als aussterbende Gattung. Mir kommt es momentan so vor, als erlebten wir die Wiederkehr des Dämlichen, allerdings in mutierter Gestalt. Der klassische, vom Aussterben bedrohte Dämliche wusste nämlich nicht, was er tat, und wurde im Idealfall gerade dadurch zum brillanten Entertainer.** Der neu auf der Bildfläche erschienene Dämliche weiß dagegen sehr wohl, was er tut. Er verhält sich mit Absicht und aus politischen Gründen dämlich. Er redet nicht aus Versehen oder Gewohnheit am Thema vorbei, sondern um diskursiv Tatsachen zu schaffen und die Verhältnisse ideologisch zu verschleiern.

Dämlich verhält sich Ursula von der Leyen, wenn sie auf dem Talkshow-Sessel (während vorgeblich über die empörend niedrigen Hartz-IV-Sätze gesprochen werden soll) nicht aufhören will, mit leicht weinerlichem Unterton von den »kleinen Einkommen, den Friseurinnen in unserem Lande« zu reden. Als dämlich ist zu bezeichnen, wie Norbert Röttgen gegen die Anti-Castor-Proteste im Wendland nichts anderes vorzubringen wusste, als in Gebetsmühlenmanier zu wiederholden, der Widerstand sei unangemessen, da in Deutschland angefallener Atommüll schließlich wieder nach Deutschland zurückgeholt werden müsse. Röttgen weiß so gut wie jeder andere Mensch, der nicht völlig dem Typus des Idioten entspricht, dass es nicht Ziel der Proteste ist, deutschen Atommüll in Frankreich vor sich hinstrahlen zu lassen. Dennoch wiederholt er unentwegt seine dämliche Behauptung und hat damit Erfolg, denn ein anderes Verhalten erwartet von einem Bundesumweltminister offenbar niemand. Ausgesprochen dämlich ist auch die jüngste Forderung aus Unionskreisen: nun, in Zeiten akuter Terrorgefahr, müsse die Vorratsdatenspeicherung beschleunigt und am besten widerspruchsfrei eingeführt werden — dabei musste sogar die Staatsschutz-Postille Die Welt zugeben, dass die Vorratsdatenspeicherung wenig bis gar nichts mit (tatsächlicher oder wahltaktischer) Terrorbekämpfung zu tun hat.

Einen eindrücklichen Blick hinter die Kulissen der intentionalen Dämlichkeit ermöglicht übrigens ein versehentlich aufgenommenes Gespräch*** zwischen dem fundamentalistischen US-Fernsehprediger Pat Robertson und seinen Spin Doctors. Diese rieten Robertson (der 1988 die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei anstrebte), an Bürger_innen, die kritische Anfragen stellen, einfach gezielt vorbeizureden. Gemein haben alle genannten Beispiele, dass sie gerade keinen offen herbeigeführten Themawechsel darstellen, sondern vielmehr die Diskussion nach und nach in die Schräge gleiten lassen, bis eine kritische Auseinandersetzung über das jeweilige Thema kaum mehr möglich ist und jeder diesbezügliche Versuch nur noch abrutschen kann.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass uns gegenwärtig eine massive Welle dieses hegemonialen an-der-Sache-Vorbeiredens – eben der politischen Dämlichkeit – überflutet. Es ist klar, dass es sich um eine Strategie handelt, die die Zivilgesellschaft verwirren und antihegemoniale Diskurse verunmöglichen soll. Wie dagegen Widerstand zu leisten ist, bleibt für mich vorläufig eine offene Frage. Auch ist unklar, ob irgendwann durch die ständig wiederholte Praxis der rhetorischen Dämlichkeit die Schraube einfach überdreht wird. Ab wann ist die taktische nicht mehr von der ungewollten Dämlichkeit zu unterscheiden? Ich weiß es nicht.

Festhalten möchte ich aber, dass an der Typologie diskursiver Intelligenz, wie Das Foucaultsche Pendel sie vornimmt, sich meines Erachtens hervorragend zeigen lässt, wie der phantastischen Literatur entnommene Anregungen zur kritischen Wirklichkeitserfassung dienen können. Und dass es nicht schaden kann, wieder mal Eco zu lesen. Der gilt zwar gemeinhin als Musterbeispiel politischer Unübersichtlichkeit in der Postmoderne, weil er es zurückgewiesen hat, als Linker eingeordnet zu werden – aber da liegt der Fehler wohl eher bei denjenigen, die Eco unbedingt für einen Linken halten wollten, als bei ihm selbst.

* Ich bitte um Nachsicht, dass ich an dieser Stelle die maskuline Form verwende. Ich bin allerdings der Meinung, dass es in der öffentlichen Zurschaustellung von Idiotie, Dämlichkeit, Dummheit und Irrsinn eine gewisse männliche Dominanz gibt, die die exklusive Schreibweise vielleicht rechtfertigt. Etymologisch ist das Wort ›dämlich‹ angeblich nicht mit ›Dame‹ verwandt. Unproblematisch wird es dadurch natürlich nicht, denn sexistisch empfunden werden kann es trotzdem. Wenn ich das Wort hier verwende, folge ich der deutschen Übersetzung von Ecos Roman durch Burkhart Kroeber, die im Blogpost zitiert wird.
** Als Beispiel kommt mir gerade der exzentrische Vampir in A.K. Tolstois gleichnamiger Erzählung aus dem Jahre 1841 in den Sinn, der in Gesellschaft stets im unpassendsten Moment Schnupftabak mit Steinklee anbietet.
*** Robertson lässt dabei eine homophobe Bemerkung los. Wer darauf verzichten möchte, sich das anzutun, sollte dem Link also nicht folgen.

Freitag, 12. November 2010

Wir diskriminieren nicht, aber was war noch mal die Frage?

In der englischsprachigen SFF-Blogosphäre gibt es momentan eine spannende Gemengelage an Diskussionen. Bereits verwiesen habe ich auf N.K. Jemisins furiose Attacke gegen den Anti-PC-Mob. In Jim C. Hines' Blog entspann sich eine Diskussion über die (in meinen Augen sehr richtige) Entscheidung von WisCon, Elizabeth Moon nach ihren islamophoben Äußerungen doch nicht als Ehrengast einzuladen.*

Jim Hines weist außerdem im Zusammenhang mit der kürzlich über die Bühne gegangenen World Fantasy Con auf ein häufig verdrängtes Thema hin: Sexuelle Belästigung in der SFF-Szene. Meine Erfahrung nach muss man schon bei der Veranstaltung von mittelgroßer Parties damit rechnen, dass gegen Sexismus gerichtete Plakate (die z.B. informieren, dass von sexueller Belästigung Betroffene sich an die Veranstalter_innen wenden können) beschmiert oder abgerissen werden. Es wäre sträflich naiv zu glauben, dass in der SFF-Szene mit ihren regelmäßigen Großveranstaltungen diese nicht zu sexistischem Verhalten und Übergriffen ausgenutzt würden. Nicht naiv, sondern schlicht böswillig sind allerdings die zahlreichen Versuche, das Thema unter den Teppich zu kehren. Um so wichtiger, das Schweigen zu durchbrechen und immer wieder offensiv darauf hinzuweisen.

Natürlich hängen all diese Diskussionen nicht frei in der Luft. Angestoßen werden sie meist (nicht immer) von besonders eklatanten Zurschaustellungen rassististischer und sexistischer Attitüden. Verwiesen sei hier nicht nur auf Elizabeth Moons Islamophobie, sondern auch auf Lois McMaster Bujolds Reaktion, als Patricia Wredes Thirteenth Child vorgestellt wurde, eine Pioneer Fantasy, in der die weißen Eroberer auf ein Amerika ohne indigene Urbevölkerung stoßen. Als Kritik an Wredes Buch laut wurde, reagierte Bujold folgendermaßen:
You should read the book [...] and then we could be discussing the real book and not the distorted shadow of it that apparently sprang up in your head from the description.**
People who come down on the social-engineering side do tend to value a book by how well it serves some agenda outside of itself.***
Darauf hingewiesen, dass viel Kritik an Wredes Roman von indigenen Aktivist_innen komme, antwortete Bujold heuchlerischerweise, im Gegensatz zu den Aktivist_innen spende sie regelmäßig Geld, um die nordamerikanische Urbevölkerung karitativ zu unterstützen (»Talk is cheap,« so Bujold dumm und zynisch).**** Die einzig passende Erwiderung darauf wurde bereits gegeben:
Why is it so important that you, a white person, tell other white people what they can do to help the poor unfortunate Indians, instead of listening to what the people of color are saying here? Because their words are cheap if they don't have the money to make a public boast about their charitable contributions?
Nuff said. Kurz erwähnt sei noch die Kontroverse um das Mammoth Book of Mindblowing SF – eine Anthologie, die mit dem Anspruch auftrat, eine repräsentative Auswahl der besten SF-Stories zu versammeln. Alle aufgenommenen Stories stammen von weißen Männern. Paul Di Filippo, der einen Exklusivbeitrag für die Anthologie verfasst hatte, versuchte diese Tatsache durch biologistische Metaphern zu rechtfertigen. Die Abwesenheit von Frauen und POCs kommentierte er folgendermaßen:
You know what:  a potato field is not likely to contain corn plants. A pine forest might feature an oak or three, but be 99% pine trees. My ream of copy paper is all white, with no sheets of lettuce included!
K. Tempest Bradford fand die richtige Antwort:
Statistics DO NOT MATTER, what matters is that anthologies that showcase the genre that do not include women or people of color are wrong. In principle. It is never okay to exclude or marginalize women or POC because you (the editor or whoever) don't care to seek out their work or dismiss it simply because it doesn’t appeal to your white maleness. That's simply unacceptable in these days, kind of like it’s simply unacceptable for you to come along and compare women and minorities TO FUCKING VEGETABLES.*****
Dies sind nur einige Beispiele, aber vielleicht geben sie ja einen Eindruck davon, was sich abspielt. Es lässt sich natürlich nicht ignorieren, dass diese Debatten in der Regel im persönlichen Verhalten einzelner ihren Anlass finden und in der Folge nicht zu einer grundsätzlichen Kritik an sexistischen und rassistischen Strukturen fortschreiten. Bemerkenswert finde ich im Moment aber vor allem, dass die anglophone Szene einen Raum bietet, kontrovers über diskriminierendes Verhalten zu diskutieren – während in der deutschsprachigen SFF-Szene kaum etwas davon ankommt. Das liegt sicher nicht nur an allgemein verbreitetem Desinteresse an gesellschaftlich-politischen Ungleichheiten, die oftmals als ›Minderheitenprobleme‹ abgetan werden.

Die deutschsprachige SFF-Szene versteht sich in der Regel als leicht alternativ angehaucht und durchaus aufgeschlossen. Nicht selten führt dieses Selbstverständnis dazu, dass die Bedeutung einer expliziten, kritischen Auseinandersetzung mit Sexismus und Rassismus in den eigenen Reihen heruntergespielt oder ganz ignoriert wird: Schließlich ist man selber nicht (intentional) rassistisch oder sexistisch.

Um zu merken, dass es damit so weit nicht her ist, muss man nicht lange graben. Besonders bei Diskussionen über einzelne Werke kommt es immer wieder zu Aussagen, es sei unglaubwürdig, wenn in einer ›mittelalterlichen‹ Sekundärwelt kämpfende Frauen auftreten. Oder der immer wieder geäußerte Relativierungsversuch, der Autor meine es nicht so, sondern schildere nur den in seiner Sekundärwelt üblichen Sexismus, das sei nun mal so. Die diskriminierende Normativität, die solche Inhalte zwangsläufig transportieren, wird dadurch einfach geleugnet – zuweilen auch von Fans, die sich bewusst distanzieren von Autoren, die wie Orson Scott Card und Terry Goodkind regelmäßig durch reaktionärste Ansichten auffallen. Unausgesprochen bleibt dabei die implizite Verengung des Blicks, die durch den in der Szene vorherrschenden Euro- und Androzentrismus zwangsläufig vorhanden ist.

Eine fundierte Kritik an diskriminierenden Inhalten spekulativer Literatur und diskriminierenden Strukturen liegt wohl noch in weiter Ferne. Ein Nahziel könnte aber sein, dass in der deutschsprachigen Szene rassistisches und sexistisches Verhalten und Schreiben so offen angesprochen werden kann, wie es im angloamerikanischen Raum geschieht. Und – was ich eigentlich nicht erwähnen will, vorsichtshalber aber dennoch tue – damit meine ich genau nicht, dass der ebenso essentialistische wie blödsinnige Knüppel, Fantasy sei generell reaktionär und ihre Fans rückwärtsgewandte Waldschrate, ein weiteres überflüssiges Mal aus dem Sack geholt wird.

* Erwartungsgemäß ist nach der Bekanntgabe der Entscheidung das Gegeifer groß und die Liste abstruser Vorwürfe lang. Ich kann mich dennoch des Gedankens nicht erwehren, dass die ideologische Verblödung einiger Fans (»Will there be a ritual burning of her books?«) wahrhaftig unverhoffte Ausmaße annimmt.
** Klick! 
*** Klick!
**** Bujold sah sich angeblich veranlasst, Thirteenth Child zu verteidigen, weil sie die Autorin zu dem Buch inspiriert hatte. Die Vorgehensweise, den Kritiker_innen vorzuwerfen, sie hätten das Buch gar nicht gelesen, und ihnen eine politische ›Agenda‹ vorzuwerfen, hat sie sich natürlich nicht ausgedacht. Die kommt bei solchen Debatten vielmehr regelmäßig zum Tragen. Wer ein ›indianerfreies‹ Nordamerika imaginiert, vertritt dagegen anscheinend keine Agenda...
***** Beide Zitate stammen von der unter dem Buchtitel verlinken Seite.

Montag, 1. November 2010

Harry Mulisch 1927–2010

Seine Entdeckung des Himmels ist eine der bedeutendsten unter den Fantasies, die keine Fantasy sind.

Schon länger trage ich mich mit einer borgesken Idee: Eine Liste mit 100 Büchern des 20. Jahrhunderts aufstellen, die nicht als Genre-Literatur vermarktet und/oder rezipiert wurden. wurden, aber gattungsmäßig eigentlich Fantasy (oder auch SF oder irgendwie dazwischen) sind. 100 Bücher natürlich, die nicht zu straßenköterartig sind, sondern zumindest vor den argloseren Urteilen des gehobenen literarischen Geschmacks bestehen können. Und dann behaupten, dass die wirklich große  Literatur des 20. Jahrhunderts einfach Fantasy sein muss, die Hintertür öffnen und die lustvoll kläffende und Chaos stiftende Meute von Straßenkötern den Salon stürmen lassen.

Sollte hier jemals eine solche Liste entstehen, werde ich sie – in größtem Respekt und ohne die geringste Ahnung, ob ihm das gefallen hätte – Harry Mulisch widmen. Vorschläge können jederzeit hier gepostet oder an hermanstadt[ät]gmail.com geschickt werden. Auf Anhieb fallen mir Gabriel García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit, Toni Morrisons Menschenkind, Jorge Luis Borges’ Fiktionen und Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel ein.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.