Donnerstag, 19. August 2010

Dunkle Pilze

Was Fantasy und SF so unterhaltsam (und bedenklich) macht ist nicht zuletzt die Tatsache, dass spekulative Literatur — Phantastik — wie auch immer man das zusammenfassen will — ein Tummelplatz verschrobenster und spinnerter Theorien und Ideologien ist. Man denke nur an die in SF-Kreisen insbesondere von Vernor Vinge angefachte Singularitätsdebatte und den damit eng zusammenhängenden, faszinierend-abstoßenden Schmarrn, mit dem der sogenannte Transhumanismus von sich reden macht. Komplementär dazu verlaufen die regelmäßig auftretenden Mutmaßungen, wie spekulative Literatur politische Entwicklungen beeinflusst. Mein Favorit in dieser Hinsicht: Isaac Asimovs Foundation-Romane sollen die Inspiration für Osama Bin Laden gewesen sein.*

Aber zurück zur Phantastik und ihren Ideologien. Lake Hermanstadt kennt sie alle und stellt hier listenartig einige häufig anzutreffende Beispiele dar:
  • Die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells fristet ein Schattendasein am Rande der etablierten ökonomischen Theorien. Großer Beliebtheit erfreut sie sich dagegen in einigen kirchlichen Kreisen, die mit missionarischem Eifer für die Anwendung von Gesells Theorien eintreten und in ihnen die Lösung aller sozialen Ungerechtigkeit sehen. Die Freiwirtschaftslehre fordert, kürzestens zusammengefasst, dreierlei: Geld soll mit einem negativen Zins belastet werden, damit es nicht gehortet werden kann, Privatbesitz an Boden soll in öffentliches Eigentum überführt werden, und es soll ein weltweites Freihandelssystem etabliert werden. Eine etwas krude Mischung aus eher linken Ideen einerseits und libertär-kapitalistischen Auffassungen andererseits also. Zum historischen Hintergrund: Der Deutsch-Argentinier Silvio Gesell (1872—1930) entwickelte seine wirtschaftspolitischen Ansichten in Argentinien, saß kurzzeitig in der Regierung der Münchner Räterepublik und übte später einigen Einfluss auf die Lebensreformbewegung aus. Sein Sohn Carlos baute ab 1932 nach lebensreformerischen Ideen das Seebad Villa Gesell südlich von Buenos Aires auf. Eine lokal begrenzte Anwendung erfuhren Teile von Gesells Theorien in den bekannten Regionalwährungen. Problem: Deren gelegentlicher Erfolg führt Gesell-Anhänger_innen zu schwärmerischen Lobreden auf die Freiwirtschaftslehre, die mitunter schwerer abzustellen sind als ein Zeuge Jehovas im vollen Bekehrungseifer. Kritiker_innen sehen in Positionen Gesells zudem eine gewisse Nähe zum Antisemitismus.

    In der Fantasy war es Michael Ende, der in Momo Gesells Geldtheorie auf quasi-allegorische Weise verwurstete. Und in der SF schrieb Andreas Eschbach mit Eine Billion Dollar gleich einen dicken Roman von über 700 Seiten, der nahezu komplett auf der Freiwirtschaftslehre beruht: Anhand von Aufstieg und Fall eines italoamerikanischen Billionärs referiert Eschbach, warum nach Ansicht von Freiwirtschaftler_innen das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht funzt. Wer sich mit dem Thema beschäftigen will, aber auf das öde Sektierertum der freiwirtschaftlichen Gruppen und Institutionen allergisch reagiert, sollte zu Eschbachs Schmöker greifen, der tatsächlich ein sehr kurzweiliges, mehr von einer spannenden Story als von Missionseifer getragenes Garn ist.**
  • Michael Ende war bekanntlich nicht nur ein Fan Silvio Gesells, sondern sympathisierte auch mit der Anthroposophie Rudolf Steiners. Die ist mit ihren Atlantis-Spekulationen, ihrem Reinkarnationsglauben und ihrer Akasha-Chronik ein schlagender Beweis für Jorge Luis Borges' Diktum, dass die metaphysische Literatur letztlich ein Zweig der Phantastik sei. Ein in Phantastik-Kreisen recht bekannter Anthroposoph war Owen Barfield, Mitglied der berühmten Inklings und enger Freund von C.S. Lewis. Ein eher ambivalentes Verhältnis zur Anthroposophie pflegte dagegen William Golding (als Verfasser des dystopischen Lord of the Flies — beklagenswerterweise — ein klassischer Ein-Buch-Autor), der gleichwohl Lehrer an einer steinerianisch geprägten Schule war und enge persönliche Kontakte zu anthroposophischen Kreisen unterhielt.

    Die Kritik an der Anthroposophie ist hinlänglich bekannt, eine Übersicht findet sich hier.
  •  Ein besonders skurriles Beispiel für in der Fantasy wirksame Ideologien gibt der sogenannte Objektivismus ab. Dieser ist eine von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründete Philosophie, welche sich vor allem durch Dummdenksätze wie »Existenz existiert« und einen ausgeprägten Sozialdarwinismus (mit anarchokapitalistischer Schlagseite) auszeichnet. Rand selbst legte ihre sozialphilosophischen Ansichten in der legendär langweiligen Romanutopie Atlas Shrugged ausführlich dar. In einer Books That Made a Difference in Readers' Lives betitelten Umfrage belegt das monumentale Werk den zweiten Platz.*** Ungleich bekannter dürfte in der Fantasy-Gemeinde aber Terry Goodkinds vielbändiger Zyklus Sword of Truth sein, ein offener Versuch, Rands ›Objektivismus‹ populärliterarisch darzustellen. Die Leser_innen von SoT teilen sich, grob gesagt, folgendermaßen auf: einerseits in einen gar nicht mal so kleinen Zirkel ergebener Fans und andererseits in diejenigen, die den Zyklus der wohlverdienten Lächerlichkeit preisgeben wollen. Rands Einfluss reicht allerdings weit über die phantastische Literatur hinaus und erstreckt sich auf so einflussreiche Persönlichkeiten wie den Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und den früheren Chef der US-Notenbank Alan Greenspan. Unverhohlen begeistert über Rand zeigte sich kürzlich die FAZ. Schön deutlich aufs Korn genommen wird sie dagegen in Matt Ruffs Trilogie der Stadtwerke.
  • Das Mormonentum könnte man als eine Religion bezeichnen, deren Gründung gewissermaßen auf einen Fantasy-Roman zurückgeht. Es gibt darüber hinaus jedoch auch ein spezifisches Genre mormonischer Fantasy/SF. Die bekanntesten Beispiele dürften die Romanzyklen Orson Scott Cards sowie Tathea und Come Armageddon von Anne Perry darstellen. Häufig wird auch (nicht unbegründet) gemutmaßt, dass Stephenie Meyers strenge mormonische Moral einen profunden Einfluss auf ihre Twilight-Serie haben könnte.
  • Gewissermaßen umgekehrt verhält es sich mit Robert A. Heinleins Roman Stranger in a Strange Land (1961). Darin wird eine fiktive Religion beschrieben, welche sieben Jahre nach Erscheinen des Buchs auch in der wirklichen Welt Gestalt annahm, und zwar in Form der neopaganistischen Church of All Worlds (CAW). Die schreibt in ihrem Selbstverständnis über sich und ihre Mitglieder:
    "CAW envisions the religious and psychological development of the Soul as embryonic. In recognition of this, CAW members will often refer to themselves as 'Eggs'."
    Was der olle Militarist und Rechtsausleger Heinlein von solchen eierköpfigen Hippie-Späßen hielt, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
  • Der Vollständigkeit halber muss natürlich erwähnt werden, dass die berühmt-berüchtige Scientology als eine SF-Spinnerei ihres Gründers L. Ron Hubbard begann.****
    Die Liste wird in den nächsten Tagen noch um einige kuriose Einträge ergänzt werden. Also Augen auf, wer da interessiert ist. Übrigens will ich vorsichtshalber erwähnen, dass ich mit diesem Eintrag keineswegs SF und Fantasy diskreditieren will, etwa im Stile jener Autor_innen, die phantastische Literatur plump mit Reaktion gleichsetzen. Das grundlegende Postulat jeder Phantastik ist, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie gegenwärtig ist. Phantastische Literatur (auch und gerade die als rückwärtsgewandt und nostalgisch gescholtene Fantasy) hat damit ein gewaltiges emanzipatorisches Potential. Dass in ihr Genialität, Spinnerei und Wahn häufig nah beieinanderliegen, zeitigt mitunter die dubiosen Ergebnisse, die in dieser Liste versammelt werden.

    Damit ist bereits gesagt, dass ich keinen endemischen Zusammenhang zwischen Phantastik und ideologischem Obskurantismus sehe. Bleibt die Frage, warum der Zusammenhang dennoch oft genug auftritt? Meine persönliche Vermutung geht dahin, dass SFF in vielerlei Hinsicht halt immer noch ein Schmuddelgenre ist, das im Verborgenen blüht. Ganz ähnlich verhält es sich mit gewissen Weltanschauungen, die — genau wie Pilze — am besten im Keller wachsen.
      * Das Urbild solcher Spekulationen stellt vielleicht der Verdacht Klaus Manns dar, Hitlers Karl-May-Lektüre habe einen wesentlichen Einfluss auf die Eroberungsgelüste des Gröfaz ausgeübt. 
      ** Weitere Inspirationsquellen von Eine Billion Dollar sind Umberto Ecos Thesen über ein neues Mittelalter und Carl Amerys eindrücklich-erschreckender Essay Hitler als Vorläufer. Wer Eschbachs freiwirtschaftliche Ansichten lieber in Kurzform lesen möchte, sei auf seinen Aufsatz in Briefe an den Reichtum (hrsg. von Carl Amery), Luchterhand, München 2005 verwiesen.
      *** Die Liste beinhaltet noch zwei weitere Fantasy-Romane: den LotR (Platz 5) und Das Buch Mormon (Platz 8).
      **** Vgl. Hauser, Linus, Möge die Macht mit dir sein! Was Science Fiction und Religion miteinander zu tun haben, in: Jeschke, Wolfgang/Mamczak, Sascha (Hgg.), Das Science-Fiction-Jahr 2003, München 2003, 15—68. Darin auch Weiterführendes über Himmelsreisen, apokalyptisches Denken, CAW, Erich von Däniken und mögliche SF-Spiritualitäten, die ohne größenwahnsinnige Allmachtsphantasien auskommen.

      Dienstag, 17. August 2010

      in the midst of a dragon

      In the midst of a dragon: a jewel, resting at the apex of a high heap of red gold. Its many smooth facets mirror only deep darkness, as colourless as the black of the eyes of Death himself. And yet it glows from within with a deep red blood-red light, il­lu­mi­nating nothing.
      In this eternal night, in this never-changing light, time does not exist; it is outside where there is life and death, joy and pain, and strife.
      But then a new light enters.

      Donnerstag, 12. August 2010

      Der Boom, das Genre und die Snobs

      Kürzlich, als ich vor das Fantasy-Regal der Bahnhofsbuchhandlung treten wollte, fand ich die Sicht versperrt durch eine breitschultrige, langhaarige Gestalt im schwarzen, mit gekreuzten Schwertern bedruckten Sweatshirt.
      Was hat das zu bedeuten? Wird aus der gesamten Fantasy-Familie nur die Romantasy erfolgreich bleiben, während der Rest tatsächlich wiederum nur von Rollenspielern und Metal-Fans gelesen wird?
      So hätte es mir in diesem Moment wohl durch den Kopf schießen sollen. Sobald ich mich jedoch durchgedrängelt hatte, bewegte mich schon etwas anderes: Meine kurzsichtigen Augen interpretierten einen aufrecht im Regal stehenden Titel fälschlicherweise als Die Berber, und ich fragte mich einen Moment lang verwirrt, wo solche denn bei Tolkien erwähnt werden. Recht bald erkannte ich allerdings meinen Irrtum und fand auch für die Anwesenheit des Metallers die befriedigende Erklärung, dass gerade — von mir unbemerkt — Wacken-Wochenende war.

      Darüber hinaus wollte ich mich mit Andrea Bottlingers Artikel »Die Zukunft der Fantasy — was bleibt?« eigentlich gar nicht auseinandersetzen. Dass der Text genre-historisch etwas unklar ist, wurde bereits bemerkt. Diskutiert wird über den Artikel aller Orten (hier, hier und hier auch). Dann ist mir beim zweiten Lesen des Essays und beim Überfliegen der Diskussionen folgendes aufgefallen: Andrea Bottlinger fragt, ob der Fantasy-Boom bald ein Ende haben wird. Ich frage mich darauf erneut etwas, was mir schon seit längerem im Hinterkopf herumspukt: Von welchem Fantasy-Boom reden wir eigentlich? Bottlingers Text lässt mich in dieser Hinsicht etwas ratlos zurück:
      In den letzten 10 Jahren haben sich die großen, die wirklich großen Fantasy-Bestseller beinahe lückenlos aneinandergereiht. „Harry Potter“ und die neue Übersetzung des „Herrn der Ringe“ haben den Boom begonnen. Dann kamen „Eragon“, die Tintenwelt-Trilogie und zuletzt die „Bis(s)“-Reihe.
      Konkret frage ich mich, welche Induktionsleistung vollbracht werden muss, um diese Aufzählung von Phänomenen als zusammenhängenden ›Fantasy-Boom‹ wahrnehmen zu können? Wahr ist natürlich, dass J.K. Rowling und Stephenie Meyer jeweils einen Boom ausgelöst und eine Welle von Imitationen hervorgerufen haben. Man kann wohl auch sagen, dass das Erscheinen dieser beiden Autorinnen wesentlich zur Konsolidierung eines neuen Marktsegments beigetragen hat, welches wahlweise als Young-Adult- oder All-Age-Literatur bezeichnet wird. Darunter könnte man dann sicherlich auch Eragon und die Tintentrilogie subsummieren.

      Andererseits lässt sich wohl kaum behaupten, dass die Neuübersetzung des LotR eine vergleichbare Entwicklung ausgelöst hätte. Tolkien-Fans kritisierten Wolfgang Kreges Übersetzung heftig. Sie erschien jedoch nahezu zeitgleich mit der Verfilmung durch Peter Jackson und war für diejenigen, die nach den Filmen den Roman erstmals oder erneut lesen wollten, viel leichter erhältlich als die alte Übersetzung, die zeitweilig nur noch antiquarisch verfügbar war. Vor dem Hintergrund der LotR-Verfilmung muss man wohl auch die Welle der sogenannten Völkerromane sehen, die marketingtechnisch kaum ohne Tolkien-Bezug auskamen, inzwischen aber ein beträchtliches Eigenleben entwickelt haben.

      Nun bin ich weder Marktforscher noch im Verlagswesen tätig, aber irgendwie bezweifle ich stark, dass jugendliche Fans von Harry Potter oder der Bis(s)-Romane sich als Teil eines allgemeinen Fantasy-Booms verstehen bzw. sich als Konsument_innen auch nur entsprechend verhalten würden. Oder sollte es tatsächlich vorkommen, dass Leute in Buchhandlungen sagen, »Ich habe mich gerade von den Fantasy-Romanen Stephenie Meyers hervorragend unterhalten gefühlt und habe gehört, dass J.R.R. Tolkien ein klassischer Vertreter des Genres sei. Da würde ich gerne mal reinlesen...« ? Gibt es Leute, die en masse auf Markus Heitz umgestiegen sind, nachdem sie die Bände von Lemony Snicket oder J.K. Rowling ausgelesen haben? Und wenn nicht, wie kann man dann von einem allgemeinen Fantasy-Boom reden? Im Kino mag das ja seine Berechtigung haben, mit Verfilmungen von Tolkien und Lewis bis hin zu Funke und Paolini, aber darüber hinaus doch wohl kaum. Niemand würde aus den augenscheinlich unzusammenhängenden Tatsachen, dass einerseits die Romane Umberto Ecos beständig neu aufgelegt werden, und dass andererseits zahlreiche Menschen allsonntäglich ihren Tatort gucken, einen ›Krimi-Boom‹ konstruieren.

      Müsste die Frage also nicht eher lauten, welche Fantasy gegenwärtig boomt oder auch nicht? Vor dem Hintergrund dieser neuen Fragestellung könnte man dann auch getrost darauf verzichten, anhand der von einzelnen Autor_innen ausgelösten Hypes — die wohl immer wieder vorkommen werden — den Aufstieg oder Niedergang eines ganzen Genres zu prophezeien. Etwas ähnliches meint wohl auch Andrea Bottlinger zum Ende ihres Artikels:
      [D]ie gesellschaftliche Akzeptanz des Genres [ist] gestiegen. Eine ganze Generation ist mit „Harry Potter“, „Tintenherz“ und „Bis(s) zum Morgengrauen“ aufgewachsen.  Die Chancen, dass diese Generation immer wieder gelegentlich zum Fantasy-Roman greifen wird wie viele Leute heutzutage zum Krimi – ohne sich groß etwas dabei zu denken und ohne einen Haufen Vorurteile – stehen recht gut.
      Die Ursachen für diesen Akzeptanzgewinn würde ich aber eher in einem langjährigen Reifeprozess als im sogenannten Boom sehen. Denn früher sind ganze Generationen mit Michael Ende, dem Herrn der Ringe oder mit Star Wars aufgewachsen. Auch mit Dune oder Stephen King. Und gerüchtehalber soll es immer wieder auch Einzelne geben, die mit Lovecraft, Dick oder Moorcock aufwachsen. All das wird zur wachsenden Akzeptanz der Fantasy bzw. der spekulativen Literatur insgesamt beigetragen haben.

      Noch ein anderes Element scheint mir in die Rede vom Fantasy-Boom, den es so vielleicht gar nicht gibt, mit hineinzuspielen: Eine Fantasy-Schwemme reden nämlich — gerne und immer wieder — schnöselige SF-Fans herbei, die nicht mit dem Klischeebild vom pubertären Pickelgesicht, das in seiner Fantasie Drachen jagt und Elfen anhimmelt, in Verbindung gebracht werden wollen. Dabei verraten sie einerseits ihre Ahnungslosigkeit, was den literaturgeschichtlichen Zusammenhang zweier Genres angeht, andererseits perpetuieren sie das Klischee von der »seriell[en] Fluchtliteratur« (Linus Hauser), die Fantasy im Gegensatz zur angeblich intelligenten und kreativen SF sei. Gegenwärtig zum Beispiel im oben bereits verlinkten Diskussionsthread des Phantastik-Couch-Forums:
      Wenn ich "Fantasy" schon höre, dann läuft es mir im Normalfall eiskalt den Rücken runter. Wer erinnert sich noch an die tolle Heyne-Reihe "SF & Fantasy". Auseinandergehalten wurden die Segmente, indem auf dem Rücken entweder ein SF oder F zu lesen war. Ende der 80iger Jahre brummte die Fantasy schon einmal. Der ganze Avalon und Drachenquark schwappte aus Amiland zu uns rüber und ertränkte in einer Fantasy-Rosamunde Pilcher Plörre die SF. [...] Für mich [...] hat damals die Fantasy die SF zu Grabe getragen.
      Merke: Früher war alles besser, da haben einem wenigstens die Verlage noch gesagt, was F und was SF ist. Aber dann boomt plötzlich die Fantasy, und man kann nix mehr so richtig auseinanderhalten — oder man muss halt den eigenen Grips anstrengen, denn in Wahrheit hat die säuberliche Schubladisierung noch nie so richtig funktioniert. Ich erinnere nur an das empörte Geschrei der sich betrogen fühlenden Hard-SF-Snobs, als Perdido Street Station bei Bastei erschien und auf dem Rücken die SF-Kennzeichnung trug.*

      Ich stimme Andrea Bottlinger darin zu, dass Fantasy heute vielfältiger ist als je zuvor. Ich stimme allerdings darin nicht mit ihr überein, dass die Erklärung dieser Tatsache in einem plötzlich auftretenden Boom liege. Fantasy ist mittlerweile ein altes Genre, das schon zu seiner Anfangszeit nicht homogen war und sich im Laufe vieler Jahre — wie wahrscheinlich jedes Genre — immer weiter ausdifferenziert hat. Und selbst wenn die Ablehnung gewisser Hard-SF-Borniertheiten nicht ausreichte, die Rede vom Boom sein zu lassen, wäre allein diese enorme Differenziertheit Grund genug für mich. Ein angeblich unterschiedsloser Boom verträgt sich nämlich schlecht mit einem unterschiedsreichen Genre.

      * Dabei hat China Miéville selbst sein durchschlagendes Werk sehr klug und Genre-Mauern niederreißend als SF im Fantasy-Gewand definiert.

      Dienstag, 10. August 2010

      Tochter der Traumdiebe

      Ich meine mich an ein gewisses Tuscheln erinnern zu können, als dieser Roman in deutscher Übersetzung erschien, über Moorcocks ›Fantasy, die bei den Nazis spielt‹. Viel mehr war dann aber auch nicht: Tochter der Traumdiebe erschien 2002 bei Heyne, wurde dann mit Heynes gesamtem Fantasy-Programm von Piper übernommen, wo der Roman 2005 noch einmal erschien. Beide Verlage kündigten ihn als Auftakt zu einer Trilogie an, es kam aber nie zu Übersetzungen der Folgebände The Skrayling Tree und The White Wolf’s Son. Für mich ein Zeichen, dass Fantasy im moorcockschen Stil auf dem deutschsprachigen Markt derzeit nicht viel zu melden hat. Mittlerweile ist Tochter der Traumdiebe nur noch antiquarisch verfügbar, was aber niemanden davon abhalten sollte, sich ein Exemplar zu besorgen und zu lesen. Die Handlung ist in sich abgeschlossen, so dass auch Leser_innen, die sich englische Romane nicht zutrauen, es getrost mit Tochter der Traumdiebe versuchen können. Allenfalls empfiehlt es sich, mit der Geschichte Elric von Melnibonés vertraut zu sein, um die Hintergründe der Handlung zu verstehen.

      In einer kurzen Vorbemerkung behauptet Moorcock, Tochter der Traumdiebe sei ein historischer Roman. Dies kann ich allerdings nur als Ironie auffassen – was zum moorcockschen Multiversum, in dem sich Genres und Stile, E und U, Surreales und Reales frei miteinander vermischen und die reine Subversion herrscht, ja auch hervorragend passt. In diesem Roman hält Moorcock sich jedenfalls nicht mit historischen Details auf, sondern würfelt sie bunt durcheinander und haut nicht selten voll daneben, wenn er besonders authentisch klingen will. Mitunter fragt man sich, ob Moorcock sich einen Scherz erlaubt hat, vielleicht auch schlicht einer Verwechslung erlegen ist, oder ob das Lektorat etwas zu verschlafen zu Werke gegangen ist, etwa wenn SS-Schergen statt mit Walther PPKs mit Werther (sic!) PPKs herumballern. Nein, Tochter der Traumdiebe ist kein historischer Roman über den deutschen Faschismus, sondern reine Nazi-Exploitation im Fantasy-Gewand. Hier werden Nazis von halbverrückten Gottheiten gequält, mit Runenschwertern massakriert und sogar von Drachen verkohlt, dass es eine Lust ist.

      Die Handlung setzt Mitte der 30er Jahre in Sachsen ein, wo der Albino Ulric (sic!), der Graf von Bek, als einsamer letzter Sprössling seiner Familie auf seinem Schloss sitzt und versucht, zu einer Widerstandsgruppe gegen die verachteten Nazis Kontakt aufzunehmen. Diese scheinen Interesse zu hegen an einigen von der Familie Bek gehüteten Artefakten. Vor allem sind sie hinter dem schwarzen Schwert (sic!) Rabenbrand her, und daneben spüren sie Legenden nach, denen zufolge die Familie Bek den Heiligen Gral beschützt. Das Schwert hat Ulric in seinem Besitz und verspürt wenig Lust, es herzugeben. Den Gral hat er jedoch nie gesehen und tut ihn als Mythos ab.* Nicht so die Nazis, die Ulric immer mehr bedrängen und ihn schließlich in ein KZ verschleppen. Dort kommt dem Grafen – als geisterhafte Erscheinung – Elric von Melniboné zu Hilfe, der jedoch in unserer Welt keine körperliche Gestalt annehmen kann und infolgedessen mit seinem alter ego Ulric verschmilzt wie weiland der drogenberauschte Allan Quatermain mit seinem steinzeitlichen Vorfahren.

      Da Ulric die Handlung aus der Ich-Perspektive erzählt, ist dies ein Leckerbissen für Moorcock-Fans. Ulric verabscheut Gewalt und will die Nazis als Demokrat bekämpfen. Elric dagegen ... ist eben Elric. Hin- und hergerissen zwischen seiner halbgöttlichen Herkunft als Drachenkaiser von Melniboné und seiner Sympathie für die gewöhnlichen Sterblichen, zwischen seinen moralischen Skrupeln und seiner melnibonéischen Lust an der Grausamkeit. Der Graf von Bek, der in surreal geschilderten Passagen mit Elric eins wird, schwankt zwischen Entsetzen und Bewunderung über sein zweites Ich.

      Die Handlung ist, wie meist bei Moorcock, eine aberwitzige Reise zwischen Welten und Dimensionen. Zwischen Tanelorn, deutschen Kleinstädten und den Drachenhöhlen von Melniboné liegt manchmal nur ein Traum. Überwiegend spielt Tochter der Traumdiebe aber in Deutschland, in dem fiktiven mitteleuropäischen Kleinstaat Waldenstein und in der unterirdischen Welt Mittelmark. Der Fürst von Waldenstein, Paul Gaynor St. Odhran Badehoff-Krasny von Minct, ist der große Bösewicht der Geschichte, wie Kenner_innen an seinem Namen unschwer bemerken werden. Paul von Minct ist ein Mussolini-Bewunderer und Nihilist, den seine Gier nach der Leere der Macht zum Nazi-Kollaborateur werden lässt. Seine Vision der Welt ist ein aus menschlichen Knochen erbauter Palast in einer Wüste – »offensichtlich das Werk geistreicher Wesen, auch wenn es nach einer irren Grausamkeit stank«, wie Ulric bemerkt (S. 250). Mich erinnert Paul von Minct etwas an den konservativen Revolutionär und Nietzsche-Verehrer Braquemart aus Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen – dem Urbild aller Nazi-Fantasies.

      Mittelmark, ein gewaltiges, unter Deutschland gelegenes Höhlensystem, welches von den intelligenten und sympathischen Off-Moo bewohnt und gern von Reisenden aus allen möglichen Dimensionen und Epochen besucht wird, ist Moorcocks ironische Bearbeitung der sogenannten Hohlwelttheorie. Die besagt in vollem Ernst, dass wir in Wahrheit auf der Innenseite einer hohlen Erde leben, in deren Zentrum die Himmelskörper angeordnet sind, und fand in reaktionär vernebelten Weltbildern der Zwischenkriegszeit einigen Anklang. In grandioser Persiflage dieser pseudo-astronomischen Spinnerei fährt Moorcock ein barockes Ensemble auf, mit dem er seine unterirdische Welt bevölkert: Anklänge an Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, Lewis Carrolls Alice im Wunderland, an Voltaire, Coleridge und sogar an den Rattenfänger von Hameln wechseln sich ab.

      Spätestens in Mittelmark stellt sich selbstverständlich heraus, dass der Konflikt zwischen Ulric/Elric und den Nazis ein weiterer Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Ordnung und Chaos ist, bei der nie ganz klar wird, ob die Menschen in ihm lediglich Spielfiguren höherer Mächte sind, oder ob die Menschen ihre Konflikte vermittels höherer Mächte austragen. Preisfrage: Auf welcher Seite stehen wohl die Nazis, Ordnung oder Chaos? Hach, es macht einfach Spaß, Moorcock zu lesen ...

      Tochter der Traumdiebe (412 Seiten), im Original The Dreamthief’s Daughter, erschien 2005 im Piper-Verlag. Die Übersetzung stammt von Jürgen Langowski.

      * Was es mit Ulrics Familiengeschichte und dem Gral auf sich hat, erfährt man in einer Reihe von Romanen und Erzählungen Moorcocks, der sogenannten Von Bek Sequence.

      Freitag, 6. August 2010

      Die Tiger der See

      Der deutsche Verlag vermerkt auf dem Cover von Robert E. Howards Tigers of the Sea, dass es sich um den ersten Roman um Cormac Mac Art handele. Blättert man das Buch auf, wird einem schnell klar, dass es sich in Wahrheit um vier Stories handelt, von denen zudem zwei Pastiches sind. Das ist jedoch kein Grund zur Verwirrung, denn es handelt sich um den Heyne-Verlag und der pappt bekanntlich auf alles, was zwischen zwei Buchdeckel passt, das Label ›Roman‹ drauf...

      Worum handelt es sich also? Robert E. Howard vollendete lediglich zwei Stories über den gälischen Piraten Cormac Mac Art, zwei weitere ließ er unvollendet liegen. Richard L. Tierney überarbeitete die beiden Stories und vervollständigte auch die beiden Fragmente, und alles zusammen erschien mit einem erklärenden Vorwort von Tierney 1979 im Original bei Ace und 1987 in deutscher Übersetzung.* Es erschienen außerdem noch einige Pastiche-Romane über Cormac, die von Andrew J. Offutt und Keith Taylor verfasst wurden und Heyne zu seiner Cover-Beschriftung veranlassten. Im Grunde also das gleiche Konzept wie bei der ebenfalls im Heyne-Verlag erschienenen Conan-Reihe. Hier soll uns aber allein die Storysammlung interessieren, die Howards eigene Werke enthält.

      Cormac Mac Art macht die Gewässer rund um Britannien zur Zeit Uther Pendragons und König Artus' unsicher. Obwohl er Gäle ist, gehört er zur Schiffsmannschaft seines Busenfreundes, des dänischen Wikingers Wulfhere Schädelspalter. Dass Cormac in ständiger Begleitung von Wulfhere und seinen Mannen anzutreffen ist, macht ihn zu einer ungewöhnlichen Ausnahme unter Howards einzelgängerischen Heldenfiguren. Auch sonst weisen die Stories (soweit sie von Howard stammen) ein bemerkenswert breites Charakterensemble auf, jedenfalls wenn man sie mit den simpleren unter den Conan-Stories vergleicht. Grundsätzlich ist Cormac aber nach altbewährter Weise gezeichnet: Schwarze Haare, graue Augen, nervöser Schwertarm.

      Tierney verspricht im Vorwort, die innere Chronologie der Stories, über die Howard (der die Cormac-Geschichten zu Lebzeiten nie veröffentlichen konnte) sich anscheinend keine großen Gedanken gemacht hat, zu überarbeiten und die Geschichten damit in eine logische Reihenfolge zu bringen. Beim Lesen kam es mir allerdings eher so vor, als hätte Tierney vergessen, seine Ankündigung wahr zu machen, oder als hätte er eher noch mehr Durcheinander angerichtet. Vielleicht auch ein Fehler des Lektorats — oder ich habe Tierneys Überarbeitungskonzept einfach nicht kapiert. Der beteuert jedenfalls, in den beiden vollständigen Stories »Die Nacht der Schwerter« ("Swords of the Northern Sea") und »Die Rache der Pikten« ("The Night of the Wolf") nichts weiter verändert zu haben. Zu »Krieger des Nordens« ("Tigers of the Sea") und »Tempel des Grauens« ("The Temple of Abomination") hat er nach eigener Aussage ein Drittel bzw. die letzten drei Seiten hinzugefügt. Eine Rezension des englischsprachigen Originals, die sich ausführlich mit der Frage beschäftigt, wer hier was geschrieben hat, findet sich in der Cimmerian Collection von Pulp and Dagger.

      Mit Ausnahme von »Tempel des Grauens« handelt es sich um eher durchschnittliche, aber lesenswerte Howard-Geschichten (von Tierney im Vorwort peinlicherweise als »Epen« bezeichnet). Verfasst wurden sie für ein Publikum historischer Abenteuerstories und enthalten dementsprechend nicht die typischen Ingredienzen, wie Howard sie für seinen ungleich bekannteren Helden Conan verwendete. Riesenschlangen und ähnliches Getier lässt sich in diesem fiktiven Dunklen Zeitalter nicht blicken. Das ist aber kein Grund zur Enttäuschung für heute Fantasy-Leser_innen, denn spätestens wenn die sagenumwobenen Pikten — berühmt geworden mit Conan und Bran Mak Morn — in die Handlung einfallen, nimmt Howards Erzähle mythische Dimensionen an. »Tempel des Grauens« fällt demgegenüber deutlich ab. Das Fragment dürfte, als Howard es liegenließ, nicht mal eine richtige Handlung gehabt haben, und Tierney fällt auch keine mehr ein. Statt dessen versucht er der Story eine lovecrafteske Wende zu geben und scheitert dabei total. Ein stumpfsinnigeres und ideenloseres Cthulhu-Gequake als dieses ist mir selten untergekommen.** Solche Gurken sind für mich stets ein Anlass zu bemerken, wie unendlich viel anspruchsvoller doch historisch-kritische Ausgaben sind, die Fragment einfach Fragment sein lassen und uns Leser_innen ermöglichen, den Arbeitsprozessen eines Autors wie Robert E. Howard nachzuspüren.

      Die Tiger der See (189 Seiten) von Robert E. Howard und Richard L. Tierney erschien 1987 und 1989 im Heyne-Verlag.

      * Zuvor war bereits 1976 unter dem Titel Krieger des Nordens eine Übersetzung in Pabels Terra-Fantasy-Reihe (Band 23) erschienen. Auf welche amerikanische Ausgabe diese zurückgeht, weiß ich leider nicht.
      ** In dem anderen Pastiche von Tierney ist mir ähnlicher Pfusch nicht aufgefallen, aber da hatte Howard zumindest schon einige Charaktere und einen Teil der Handlung ausgearbeitet.

      Foto-Disclaimer

      Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.