Donnerstag, 26. März 2009

Fantasy macht dumm: 2. Runde

Meine Zustimmung auch zu dieser Polemik des Herrn Plischke, die sich diesmal gegen einen Artikel von Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt richtet.

Mich hat gleich aufgeregt, wie die Autorin die Beschäftigung mit Phantastik pauschal als infantilen Regress abtut. Besonders dieses – ich fasse paraphrasierend zusammen – »für Kinder ist die Welt bekanntlich in Ordnung, und deshalb wollen Erwachsene wie Kinder sein« ist absolut brechreizerregend. Und es scheint pünktlich zum letzten Amoklauf richtig in Mode zu kommen, Fantasy mit Computerspielen gleichzusetzen. Da können wir uns ja noch auf was gefasst machen ...

Nicht neu, eher sattsam bekannt, ist dagegen die fein säuberliche Unterteilung in Hochliteratur und Unterhaltungsliteratur, wobei erstere als ›realistisch‹ codiert wird und letztere als ›phantastisch‹, was wiederum als gleichbedeutend mit realitätsfernem Heile-Welt-Gesäusel angesehen wird. Im Unterschied zu vergleichbaren Feuilleton-Ergüssen wird hier allerdings Kinder- und Jugendliteratur generell als Schund abgetan, während man früher gelegentlich den realistisch-sozialkritischen Jugendbüchern eines Max von der Grün, Josef Reding oder Peter Härtling zumindest einen wohlwollenden Seitenblick zuwarf.

Dienstag, 24. März 2009

Über Alan Moore und Kim Newman

Die taz hat zwei interessante Artikel über Alan Moore gebracht, den Mann, der ewig Pech mit seinen Verfilmungen hat: Der eine beruht auf einem Telefoninterview, während der andere (von Georg Seeßlen) die Neuausgabe von From Hell zum Anlass hat. Seeßlens Interpretation des Ripper-Comics als Kommentar zum »Höllenfeuer der Moderne« ließ mich wieder einmal an die andere Bearbeitung des Ripper-Stoffs denken, die kürzlich neu erschienen ist: Kim Newmans Alternativweltroman Anno Dracula. Der Kutscher Netley, in Moores Graphic Novel ein Komplize des Rippers, ist einer der zahlreichen Charaktere, die Newman sich für sein gaslampenbeleuchtetes Allstar-Szenario ausgeborgt hat.

Seeßlen arbeitet den in From Hell dargestellten »Kurzschluss zwischen dem Über-Ich und dem Es« heraus, in dem die Interessen Königin Victorias mit denen des Rippers konvergieren: Der sadistische Mörder hilft mit, die Schwängerung eines Mädchens aus der Unterschicht durch Victorias Sohn Eduard blutig zu vertuschen. Für Seeßlen drückt sich hierin die Ambivalenz der Moderne und ihres Fortschritts aus, deren Mythologisierung – das sei eine weitere Aussage Moores – konsequenterweise nur wahnhafte Züge tragen könne.

In Newmans Alternativgeschichte wird Graf Dracula nicht von Van Helsing & Co. getötet, sondern kann seinen Plan, die Welthauptstadt London zu erobern, in die Tat umsetzen. Er heiratet Königin Victoria und herrscht fortan als Prinzgemahl über das Empire. Nach seiner Vertreibung durch eine geschickt angelegte Intrige, in der wiederum Jack the Ripper eine Rolle spielt, flieht er nach Deutschland, wo er in Kürze zum Reichskanzler aufsteigt und die Hölle des Ersten Weltkriegs entfesselt. Newmans Dracula ist begeistert von Erfindungen und technisch-bürokratischen Kinkerlitzchen wie Luftschiffen und Eisenbahnfahrplänen. Schwärmerisch verherrlicht er die Industrialisierung und Kommodifizierung menschlicher Lebenswelten, nur um in entscheidenden Momenten bruchlos in die blutrünstigen Verhaltensweisen eines frühneuzeitlichen Kriegsherren zurückzufallen. Fortschrittsgläubigkeit und Barbarei gehen eine perfekte Symbiose ein. Im Laufe der Erzählung wird Dracula, der die ersten Konzentrationslager Europas einführt, zum typologischen Vorbild der großen Massenmörder des 20. Jahrhunderts, der Hitlers und Stalins. Und während die Romane des Anno-Dracula-Zyklus stets so aufgebaut sind, dass ein aus der Popkultur oder der Mythengeschichte der Moderne bekannter Serienkiller eine tragende Rolle spielt, so ist dieser doch stets nur eine vergleichsweise unbedeutende Spielfigur, ein Produkt der Verhältnisse, die dafür sorgen, dass ein Dracula an die Schalthebel der Macht gelangen kann.

Beide, Moore wie Newman, haben Kunstwerke geschaffen, die es vermögen, Spuren der »höllenproduzierenden Moderne« (Franz J. Hinkelammert) freizulegen. Es lohnt sich, diesen Spuren nachzugehen.

Montag, 23. März 2009

Waltz with Bashir

Vor etwa zwei Wochen habe ich mir Ari Folmans Waltz with Bashir angesehen. Warum gerade jetzt, könnte man fragen, wo der Film in Deutschland doch schon seit vergangenem Jahr draußen ist. Ganz einfach: Ich habe ihn mir in meinem bevorzugten Programmkino, dem Traumstern in Lich, angesehen. Man erlaube mir also, im etwas langsameren Rhythmus eines Programmkinos zu ticken.

Waltz with Bashir ist ein animierter Dokumentarfilm über den Libanonkrieg von 1982. Während der Belagerung Beiruts durch israelische Truppen (mit dem Ziel, die PLO aus dem Libanon zu vertreiben), begingen mit Israel verbündetete christliche Falange-Milizionäre Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Es handelte sich dabei um eine Racheaktion für die Ermordung des christlichen Milizenführers Bachir Gemayel. Der Film unternimmt nun den Versuch, die Wirkung dieser Ereignisse auf die Psyche der israelischen Soldaten zu erkunden. Der Regisseur Ari Folman, selbst als neunzehnjähriger Soldat an der Belagerung von Beirut beteiligt, interviewte zu diesem Zweck eine Reihe seiner Kriegskameraden, deren Erlebnisse der Film grafisch darstellt, gipfelnd in der klimaktischen Szene, in der ein Israeli einen psychotischen Walzer mit einem Maschinengewehr tanzt – inmitten von feindlichem Feuer, umgeben von gigantischen Porträts Gemayels, während die libanesische Zivilbevölkerung scheinbar unbeteiligt von Balkons und Hausdächern aus zusieht.

Für mich war Waltz with Bashir eines der verstörendsten Filmerlebnisse überhaupt. Ich bin mir selber nicht ganz klar, warum, aber ich habe den Verdacht, dass es hauptsächlich an der Comic-Ästhetik von Folmans Film liegt. Beeinflusst vom Stil Joe Saccos, reizt Waltz with Bashir die Möglichkeiten der Graphic Novel voll aus: in der Darstellung wie in den zahlreichen Anspielungen und Referenzen, etwa auf Apocalypse Now, auf Catch-22 oder typische Porno-Szenen, die zugleich persifliert und in einen tieferen Zusammenhang mit dem dargestellten Kriegsgeschen gestellt werden. So berichtet Folman, dass viele israelische Soldaten während des Libanonkrieges zum ersten Mal Pornofilme gesehen hätten, weil es 1982 noch kein VCR in Israel gab.

Es ist die permanente Unsicherheit, ob Waltz with Bashir eine Graphic Novel im Film ist, die so tut, als ob sie ein Dokumentarfilm wäre, oder vielmehr ein Dokumentarfilm, der sich als Graphic Novel verkleidet, die dem Publikum das wohlige Sicherheitsgefühl verwehrt, in dem man sich wiegt, wenn man einen Spielfilm betrachtet. Dieses Sicherheitsgefühl, das einen Spielfilme (und nicht selten auch Reportagen) als Fiktion erleben lässt, fällt bei Waltz with Bashir völlig weg. Denn Folman unternimmt gar nicht erst den Versuch, durch Hyperrealismus eine vermeintliche Realität vorzugaukeln, die man doch immer fein säuberlich vom eigenen Erleben trennen kann. Nicht anders funktioniert das Gros der Dokumentarfilme, doch in Waltz with Bashir gibt es keinen Realismus, sondern nur albtraumhaftes Erleben, interpretiert und dargebracht durch popkulturelle Referenzen, durch den Schnitt auf die Bildzeugnisse des Massakers – in all ihrer hochgradigen Selektivität – am Ende des Films, und durch Bildmetaphern, die tief ins kulturelle Verdächtnis hineinreichen, und zwar bis ins Herz der Finsternis: Wagen um Wagen voller Menschen, die in eine Richtung fahren – und leere Wagen, die wieder zurückfahren. Dies macht es wahrhaft unmöglich, sich zu distanzieren, denn Folmans Albträume sind auch die unseren, nur dass sie bei Folman einmal im Wachen durchlebt worden sind. Jedoch: Wer meint, dass zwischen dem wachenden und dem träumenden Erleben kein Unterschied ist, hat ziemlich wenig begriffen.

Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich das mag oder auch nur gut finde. Vor allem bezüglich der Anspielungen auf den Nazismus und den Holocaust bin ich das nicht. Gleichzeitig weiß ich, dass Waltz with Bashir in der Wahl seiner Darstellungsmittel nur allzu folgerichtig ist, denn der geeignete Modus zur Abbildung seelischer Traumata ist das Phantastische, von Kafka bis Vonnegut. Dies ist der Grund dafür, warum das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Phantastik war, und warum das 21. Jahrhundert ein ebensolches sein wird.

Dienstag, 17. März 2009

Die wilde Weinhart und ihre sagenhaften Serientäter

Thomas Plischke hat in seinem Blog einen trefflichen Kommentar zu Susanne Weinharts kürzlich in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Ergüssen über unser aller Lieblingsliteratur abgeliefert. Da – im Bibliotheka-Phantastika-Forum – im Namen des Autors um Verbreitung des Kommentars gebeten wurde, setze ich doch gleich mal mit Vergnügen einen Link dorthin. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man annimmt, dass Weinharts Geschreibsel einen vorläufigen Tiefpunkt der Fantasy-Rezeption in den deutschen Qualitätszeitungen markiert. Selten so viel Unsinn, Unwissenheit und Unkenruferei (ja ja, nicht nur bayrische Feuilletonistinnen können beknackte Alliterationen zustande bringen ...) in einem Artikel versammelt gesehen. Mein aufrichtiger Dank geht deshalb an Herrn Plischke, der sich die Mühe gemacht hat, tief in diese dämmerigen Grüfte des Geistes hinabzusteigen, um sie bissig und treffsicher zu kommentieren.

Donnerstag, 12. März 2009

Es geht rund ...

... in den vernetzten Kreisen, in denen epische Fantasy geschrieben, gelesen und kritisiert wird. Am 19. Februar veröffentlichte George R.R. Martin in seinem Not a Blog einen "To My Detractors" betitelten Eintrag als Reaktion auf die zahlreichen Hate-Mails und unfreundlichen Internetdiskussionen, die sich auf seinen – sich immer länger hinziehenden und stetig weiter ausdehnenden – Song of Ice and Fire beziehen. Den unmittelbaren Anlass dazu bot ein Posting GRRMs vom gleichen Tag, mit dem er seine Verspätungen zum wiederholten Male erklären wollte. Dieser Erklärungsversuch brachte die Suppe anscheinend dermaßen zum Kochen, dass Martin sich genötigt fühlte, die aufgebrachte Meute persönlich anzusprechen. Erwähnt werden muss natürlich auch, dass Martin einen Haufen Support bekam, für den er sich umgehend bedankte.

Vorangegangen war dieser Kontroverse ein Artikel von Shawn Speakman auf Suvudu "In Defense of George R.R. Martin" vom 26. Januar, der als Interpretationsversuch von Martins Schreib- und Veröffentlichungsschwierigkeiten gesehen werden kann (man verzeihe mir, dass ich nun schon zum wiederholten Male auf diesen Artikel hinweise). Und bereits am 14. Januar wurde auf The Cimmerian versucht zu ergründen, welchen Einfluss Martin denn nun eigentlich auf die rezente Entwicklung des Genres hatte.

An sich ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Thema jetzt, zu Beginn des Jahres, auf den Tisch kommt, denn bekanntlich heißt Jahresbeginn in der Regel, dass wieder zwölf Monate ohne einen neuen ASoIaF-Band vergangen sind. Wobei ich, nebenbei bemerkt, immer noch nicht verstehe, wie man seine Zeit, ob vernetzt oder nicht, scheinbar ausschließlich mit dem Warten auf ein einziges (!) Buch verbringen kann. Eine Bringschuld des Autors gegenüber seiner Leserschaft gibt es in meinen Augen nicht (das wäre ja tödlich fürs Talent), und lange Pausen zwischen Reihen-Veröffentlichungsterminen gelassen hinzunehmen, erspart Enttäuschungen. Aber ich denke, es steckt noch ein wenig mehr dahinter, und Guy Gavriel Kay ist dem auf der Spur.

In einem Artikel in der Online-Ausgabe der kanadischen Zeitung The Globe and Mail weist Kay darauf hin, dass wir keineswegs an einer vom Himmel gefallenen Seuche leiden, die infizierte Autoren dazu bringt, mit Veröffentlichungsterminen zu schludern und ihre Fans zu beschimpfen (neben George R.R. Martin sah sich auch Patrick Rothfuss jüngst diesem Verdacht ausgesetzt), sondern dass wir mit dem bloggenden Autoren, der fest in die kommunikativen Strukturen des Internets eingebunden ist, einfach eine völlig neue Situation vor uns haben, was die Interaktion zwischen AutorInnen und LeserInnen angeht. Da haben wir den Fall der Autorin, die sich durch Amazon-Kundenrezensionen ungerecht behandelt fühlte und deshalb ihre Fan-Base aufforderte, eigene Reviews auf Amazon zu schreiben und negatives Feedback für allzu kritische Rezis abzugeben. Da sind die Fans von Stephenie Meyer, die nach Stephen Kings kritischen Interview-Äußerungen gegenüber ihrem Idol drohten, King mit Hate-Mails zu überschütten. Und da sind eben die zahlreichen Diskussionen über George R.R. Martin, in denen ohne jede Scham darüber debattiert wird, ob sein Gesundheitszustand und seine privatesten Gewohnheiten es zulassen, dass er ASoIaF beendet. Guy Kay bringt diese Exempel allesamt an. Als weitere Beispiele, wie auch Autoren aktiv in solche Diskurse eintreten, können vielleicht Richard Morgan und jener Sachbuchautor gelten, der zunächst sein eigenes Buch bei Amazon selbst mit der Höchstbewertung rezensiert und dann sämtliche kritischen Kundenbewertungen mit wüsten Beschimpfungen kommentiert. Diese Vereinnahmung von Lesern durch Autoren, und von Autoren durch Leser, ist das eigentlich Neue.

Ich fühle mich dabei ein wenig an Umberto Ecos Spekulationen über den Eintritt in ein neues Mittelalter erinnert, der mit der 68er-Bewegung begonnen habe. Eco beschreibt diese Sehnsucht nach dem neuen Mittelalter als die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem überindividuellen, alle Menschen verbindenden Prinzip des Ausdrucks. Bisher hat kein philosophischer oder gesellschaftlicher Diskurs es geschafft, die Rolle dieser Sprache, in der alles auf allen verständliche Weise sagbar ist, einzunehmen (obwohl es im 20. Jahrhundert an den entsprechenden Versuchen wahrlich nicht gemangelt hat). Ein Medium, in dem dies möglich wäre, haben wir aber bereits: das Internet, den Raum grenzenloser Kommunikation, den nicht zufällig der Prophet unserer Postmoderne, Jorge Luis Borges, in seinen Schriften vorweggenommen hat. In Zeiten des Internets ist ein Roman eben nicht mehr nur individueller sprachlicher Ausdruck seines Autors, sondern aller Menschen, die ihn gelesen haben und sich durch das Medium universaler Kommunikation berechtigt fühlen, an diesem sprachlichen Ausdruck teilzuhaben und ihn mitzubestimmen. Dass dabei dem Autor mitunter ein fester Platz zugewiesen wird, eine Rolle, die ihn einengt und ihm nicht gefällt, kann nicht ausbleiben. Einen solchen festen Platz hatten auch die Menschen in der universal sprachfähigen mittelalterlichen Gesellschaft, von der Leibeigenen bis zum Feudalherren. Wehe dem, der seinem zugewiesenen Platz nicht gerecht wurde!

Mittwoch, 11. März 2009

Wird der Hype sich lohnen?

Häha, ich wollte schon immer mal einen Artikel mit einer Suggestivfrage als Titel schreiben ...

Diesen Monat ist unter dem Titel Die Vampire bei Heyne ein Sammelband mit den drei bereits fertiggestellten Romanen von Kim Newmans Anno-Dracula-Reihe erschienen: Anno Dracula (1992), The Bloody Red Baron (1995) und Dracula Cha Cha Cha (1998; in den USA Judgment of Tears betitelt). Letzterer ist meines Wissens in diesem Sammelband erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich. Newmans verspielte Gaslight Romances seien hiermit ausdrücklich empfohlen. Wer schon immer genervt war von den schier endlosen, nach Mittelerde-Kreaturen benannten Romanserien, sollte jetzt über seinen Schatten springen und zugreifen.

Die Zwerge, Drachen und Trolle, die derzeit die Fantasy-Ecken der Buchläden blockieren, haben wir bekanntermaßen einem Herrn namens Stan Nicholls zu verdanken. Der warf um die Jahrtausendwende rum ein paar Romane auf den Markt, die sich nicht sonderlich gut verkauften, bis sein deutscher Verleger auf die Idee kam, die Dinger damit zu bewerben, dass sie gewissermaßen eine inoffizielle Fortsetzung des LotR seien. Und weil dies die Zeit war, in der Peter Jacksons Tolkien-Verfilmungen im Kino liefen, funktionierte der nicht sonderlich subtile Trick besser, als wohl irgendjemand erwartet hätte. Und die Folgen dieser Marketing-Strategie gehen uns momentan allen ziemlich auf die Nüsse.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der in Deutschland bislang sträflich missachtete Newman nun ausgerechnet auf der Welle dieser als Tolkien-Klone vermarkteten Papierschwemme etwas breitere Anerkennung gewinnen könnte. Die Aufmachung des Sammelbands ist jedenfalls zu 100% auf Kundenfang ausgerichtet: Auf dem Cover steckt diesmal keine Axt und auch kein Schwert im Boden, dafür aber ein angespitztes Kreuz. Zum Davonlaufen also. Aber wenn’s hilft ...

Wer weiß, vielleicht könnte ein Verkaufs-Boost auf dem deutschen Markt ja sogar die Prozesse etwas beschleunigen, die hoffentlich irgendwann mal zur Fertigstellung und Veröffentlichung des vierten, abschließenden Anno-Dracula-Bandes, Johnny Alucard, führen? Der ist seit 2000 angekündigt und lässt ganz schön auf sich warten.

Der gute JRRT, dessen Leiche momentan auf eine Weise gefleddert wird, dass sich wohl der Fürst der Ghule selbst angewidert davon abwenden würde, taucht übrigens im zweiten Anno-Dracula-Band als durchaus lebendiger Weltkriegssoldat auf und sehnt sich gehörig nach seiner Edith. Allen ErstleserInnen Newmans wünsche ich viel Spaß beim Herausfinden, wer sich außer JRRT sonst noch alles in den Nebeln Londons, den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf den Plätzen Roms herumtreibt.

Mittwoch, 4. März 2009

Torture Porn – ein Nachfahre des Splatterfilms?


Vorsicht, enthält massenhaft Film-Spoiler!

Ältere Semester erinnern sich bestimmt mit Behagen an den sogenannten Splatterfilm. Für die jüngeren Semester sei lediglich kurz bemerkt: Die Technik des Splatterfilms funktionierte etwa so wie die platzenden Gummivampirköpfe in From Dusk till Dawn. Das Gute daran war, dass man sich die exzessiven Gewaltdarstellungen des Splatterfilms ansehen und sie in zweierlei Hinsicht analysieren konnte – man konnte sich a) fragen, wie die Filmleute das gemacht haben und sich über das Ergebnis amüsieren, und b) konnte man überlegen, welche Aussagen der Regisseur damit treffen wollte. Die Spannweite solcher Aussagen reichte von der treffsicheren Gesellschaftskritik George A. Romeros in den Dead-Filmen bis hin zu dem quirligen »Seht her, explodierende Schafe und Zombies, die es auf einem Besenstiel aufgespießt miteinander treiben, sind ein einziger, fröhlicher Spaß!« Peter Jacksons in Bad Taste und Braindead.

Doch solche unschuldigen Zeiten sind längst vorbei. Die bekanntesten Splatterfilmer, Sam Raimi und Peter Jackson, sind im Mainstream gelandet. Die echte Splatter-Atmosphäre gibt es fast nur noch als nostalgische Referenz, etwa in Robert Rodriguez’ Planet Terror und dem bereits erwähntem From Dusk till Dawn (mitsamt Sequels) — oder als misslungenes Remake, wie Zack Snyders Dawn of the Dead. Natürlich, George A. Romero filmt unverdrossen weiter und ist dabei ebenso beständig finanziell erfolglos. Einen Untergrund wird es sicherlich auch geben, über den ich mangels Kenntnissen nichts sagen kann. Ansonsten spricht alle Welt von einem neuen Filmgenre namens Torture Porn, bzw. behauptet, ebendieses Genre sei eigentlich gar kein eigenes Genre, sondern vielmehr eine aktuelle Weiterentwicklung des alten Splatterfilms. »I don’t get the torture porn films,« sagt dagegen Altmeister Romero in einem Interview mit der New York Times, »they’re lacking metaphor.« Grund genug, sich die Sache einmal genauer anzusehen.

Im Mainstream-Kino angekommen ist Torture Porn nicht erst mit Filmen wie Saw und Hostel, denn im Grunde nimmt bereits David Finchers Sieben aus dem Jahre 1995 das wesentliche Moment des neuen Genres vorweg. Dieses wesentliche Element, das sei sogleich gesagt, ist in meinen Augen die Deutung von Gewalt als Erlösungsweg. Gewalt findet im Torture Porn in der Regel so statt, dass Menschen gefoltert oder aber in eine Zwangslage versetzt werden, die sie dazu zwingen soll, andere Menschen zu töten oder grausam zu verletzen. Und wie um es auf die Spitze zu treiben, hat diese Form der Gewalt eine religiöse Funktion. Natürlich nicht immer. Man kann das Genre auch augenzwinkernd behandeln, wie Quentin Tarantino es in Death Proof tut. Aber auffallend ist doch, dass in Torture-Porn-Filmen Gewalt sehr häufig die Form religiöser Handlungen annimmt.

Sieht man sich einen Film wie Sieben an, muss man gar nicht erst auf der moraltheologischen Symbolik der sieben Hauptlaster (oft fälschlicherweise für Todsünden gehalten) herumreiten, um das zu erkennen. Der psychopathische Killer, gespielt von Kevin Spacey, ist in Sieben ein Allerweltsmensch, der sich selbst als erlösungsbedürftig erkennt und, gut individualistisch, sich selbst erlösen will. Dies tut er, indem er eine Reihe von Morden begeht, die nach dem Muster der sieben Hauptlaster angeordnet sind. Beispielsweise zwingt er einen fettleibigen Mann, sich zu Tode zu fressen, und inszeniert auf diese Weise das Laster der Völlerei. Am Ende kommt der ermittelnde Polizist (Brad Pitt), dem Mörder auf die Spur. Dieser schickt dem Ermittler den abgetrennten Kopf seiner Frau per Paketlieferdienst; der Polizist erschießt ihn. Der Killer sah sich dem Laster des Neides verfallen und inszeniert dies durch den Mord an der Ehefrau des Ermittlers. Die Erlösung von seinem Laster ist der Tod, den er sich aus der Hand des Polizisten geben lässt. Ganz nebenbei wird der Polizist, seinerseits zum Mörder geworden, zur Personifikation eines weiteren Lasters: Zorn. Gemäß Paulus im Römerbrief:
Durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde.
(Röm 3,20b)

strebt der Killer danach, alle in das Laster miteinzubeziehen, es aufzudecken, wo er kann. Er macht sich zum Vollstrecker des göttlichen Gesetzes, welches die vom Laster stimulierte Sünde bestraft. Dabei hat er allerdings nicht das Ziel der Erlösung aller vor Augen, sondern die eigene Erlösung, die er durch die Ausweitung der Lasterhaftigkeit auf alle bewerkstelligen will. Seine strafenden, das göttliche Gesetz vollstreckenden Mordtaten, die selbst Außenstehene wie die Ehefrau des Polizisten treffen könnten, sind notwendig, denn »wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung« (Röm 4,15b), also kein Laster. Und wo kein Laster ist, kann der Killer nicht sein göttliches Strafgesetz vollstrecken. Er kann nicht Gott spielen. Indem er aber den Polizisten zur Verkörperung des Zorns macht, rechtfertigt sich nachträglich die Einbeziehung eigentlich Unschuldiger, wie des Polizisten und seiner Frau, in das göttliche Strafgericht, in dem der Killer, gleichzeitig göttlicher Vollstrecker und Opfer, zum Erlösten wird.

Die Selbsterlösung des Killers in Sieben mündet darin, dass er Gott spielt. Dieses Gott Spielen ist es, was das religiöse Element im Torture Porn ausmacht. Strafen und Morden wie Gott, die Menschen in ihren Handlungen steuern wie Gott. Mithin eine ganz andere Erfahrung als die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein, die in unserer Zeit die conditio humana ausmachen. Das Motiv des strafenden, gottgleichen Mörders ist Allgemeingut in Filmen wie Sieben. In einem anderen frühen Vorläufer des Torture-Genres, dem kanadischen Kultfilm Cube, wird eine Gruppe von Menschen in einen riesigen Würfel gesperrt, ein gigantisches Folterwerkzeug voller perfider Fallen, von unsichtbarer – göttlicher! – Hand nach mathematischen Prinzipien gesteuert. Nur einer aus der Gruppe überlebt den Würfel, der Autist Kazan. Am Ende schreitet Kazan rein und unschuldig auf das Licht (den Ausgang aus der Foltermaschine) zu. Er ist erlöst, während alle anderen ob ihrer Falschheit einen blutigen Tod finden. In Saw aus dem Jahre 2004, der eine ganze Welle von Torture-Porn-Filmen auslöste, foltert der krebskranke Killer seine Opfer und zwingt sie dazu, sich gegenseitig umzubringen, um aus ihnen von Dankbarkeit für das Leben erfüllte Geschöpfe zu machen.

Den bisherigen Höhepunkt des Torture Porn stellt allerdings Die Passion Christi Mel Gibsons dar. Der Antisemit und Ultratraditionalist Gibson lässt in mehreren seiner Filme einen folternden bzw. gefolterten Erlöser auftreten oder verkörpert ihn gleich selbst, doch in der Passion ist die religiöse Intensität der Gewalt besonders hoch. Dieser Film dringt in Bereiche vor, wohin die oben genannten Filmbeispiele nicht zu gehen wagten. Denn in ihnen identifizieren sich die ZuschauerInnen meist mit einem Opfer, während wir in der Passion die Perspektive der Folterer einnehmen. Wir dürfen dabeisein, wenn die Peitschen dem Messias das Fleisch zerreißen und wenn sich die Dornen in seine Kopfhaut drücken. Die Folterer handeln im Auftrag Gottes, denn der ist es schließlich, der die qualvolle Opferung seines Sohnes inszeniert. Im Film nehmen die Folterknechte nahezu die Stelle des abwesenden Tyrannengottes ein, die Werkzeuge sind eins mit der Hand, die sie führt. Und da wir den Film aus der Perspektive der Folterer sehen, dürfen wir uns selbst ein klein wenig als sadistisch-göttliches Werkzeug fühlen. Die Passion Christi gipfelt darin, dass einer der Folterknechte sich ekstatisch unter einer aus dem Leib Christi strömenden Blutfontäne windet, wie eine Pornodarstellerin, die am Ende jeder Szene mit weitgeöffnetem Mund den segnenden Sperma-Sprühregen auf ihrem Gesicht empfängt.

Womit wir beim zweiten maßgeblichen Stichwort wären: Es ging ausgiebig um Folter, aber wie ist es um den Porno bestellt? In Tarantinos Death Proof antwortet Ranger Earl McGraw seinem Sohn Edgar auf die Frage nach dem Motiv des sadistischen Killers Stuntman Mike (gespielt von Kurt Russell; er führt absichtlich Auffahrunfälle herbei, in denen junge Frauen schier in Fetzen gerissen werden), es habe wohl etwas mit Sex zu tun. In der Tat gibt es strukturelle Parallelen zwischen Torture Porn und echtem Porno, denn während ersterer die Dialektik von Strafe, Opfer und Erlösung aufnimmt, wie sie für westliche Religiosität kennzeichnend ist, steht letzterer für die kultisch-orgiastische Seite der Religion. Kennzeichnend für diese ist, dass die Restriktionen des Alltags in kathartischer Funktion aufgehoben sind. Für den Augenblick darf die Betrachterin, der Betrachter (selbstverständlich mit nur zu klar verteilten Gender-Rollen) sich vorstellen, so ... äh, dehnbar oder so potent zu sein wie die, die sich da im grellen Licht rituell begatten. Man darf ein Myste sein, der in einen dionysischen Kult eingeführt wird, und am Eingang des Tempels die Frage (nach dem Alter: 18+) richtig beantworten muss, um teilhaben zu können an den Weihespielen des sexuellen Ausnahmezustands.

Auch den grabentiefen Abstand zur Alltagserfahrung haben die filmischen Foltergeschichten und die Weihespiele der Pornografie im Grunde gemein: Denn wie uns allen (einige gänzlich orientierungslose männliche Jugendliche vielleicht ausgenommen) klar ist, dass wir nicht die Fähigkeit haben, das Vögeln zu beherrschen wie im Porno, so fühlen wir uns auch in unseren Lebenswelten und materiellen Reproduktionstätigkeiten eher selten als sadistische Tyrannengötter, die Menschen so lange an Marionettenfäden herumführen, bis sie nur noch deformierte Fleischklumpen sind. Treten können wir, egal in welchen Schichten der Gesellschaft wir uns bewegen, höchstens mal nach unten, aber im Allgemeinen müssen wir nach oben buckeln. Das Gefühl, in Sachen Sex und Gewalt an etwas Außergewöhnlichem teilhaben zu dürfen, ist uns nur kurz vergönnt, wenn wir Die Passion Christi oder Beverly Hills Copulator ansehen. Heiliges und Profanes gehen hier nur insoweit ineinander über, als dass die mystischen Erlebnisse vor dem Bildschirm uns die Zumutungen des Alltags leichter ertragen lassen, also Opium fürs Volk sind.

Zurück zu meinen einleitenden Bemerkungen. Gehören Splatterfilme und Torture Porn einem einzigen Genre an? Ich plädiere dafür, Torture Porn als eigenständiges Genre anzusehen, das eigene Akzente setzt. Während die Gewaltdarstellung im Splatterfilm sozialkritischer Kommentar oder überdrehter Spaß war, ist sie im Torture-Film im hohen Maße religiös aufgeladen, ebenso wie die Sexualität in der Pornografie. Sowohl Torture-Film als auch herkömmlicher Porno befriedigen kathartische Bedürfnisse, für die im kapitalistischen Alltag kein Raum ist, die aber von den Bedingungen, die auch den Alltag formen, geprägt sind und ihn in ihrer Wirkung letztlich affirmieren.

Dienstag, 3. März 2009

Nachtrag zu einer Kontroverse: Erinnert sich noch jemand?

Wohl eher nicht. Vor etwa einem Jahr fand die Kontroverse um das religionskritische Kinderbuch Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel von Michael Schmidt-Salomon (Text) und Helge Nyncke (Illustrationen) statt. Am 6. März 2008 lehnte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien den Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums ab und ließ die Debatte damit in der Vergessenheit versinken.* Im Rahmen der medialen Auseinandersetzung, die sich um den Indizierungsantrag entspannte, erhielt das Buch ein vielfaches der Aufmerksamkeit, die es aufgrund seiner ästhetischen Qualität eigentlich verdient hätte.

Die kritische Diskussion um die Qualität des Schmidt-Salomonschen Machwerks geriet durch die Kontroverse natürlich ins Hintertreffen, verschwand aber dankenswerterweise nicht ganz. Die ideologisch schlichten und intellektuell dünnen Grundannahmen, auf denen das Buch steht, wurden verschiedentlich durchaus bemerkt. Da ich die Debatte ob des latenten Widerwillens, den ich der vulgären Religionskritik, wie sie derzeit en vogue ist, entgegenbringe, nicht mit ungebrochener Aufmerksamkeit verfolgt habe, kann ich leider nicht sagen, ob auch der erste Kritikpunkt, den ich im Zusammenhang mit dem Buch habe, angesprochen wurde. Dieser Kritikpunkt entspricht mehr oder weniger dem, den ich im Zusammenhang mit Richard Morgans Polemik gegen Tolkien angebracht habe: Literatur für Kinder scheint in weiten Kreisen für etwas irgendwie und auf welche Weise auch immer minderbemitteltes gehalten zu werden. Bei Morgan äußert sich das in der Form, dass er Kinderbücher pauschal unterstellt, auf eine simplifizierende, keine Grautöne zulassende Darstellung von Gut und Böse angewiesen zu sein.

Schlimmer noch, weil dümmer, verhält sich in dieser Sache Schmidt-Salomon. Es gibt zwei Todsünden, die man im Spannungsfeld zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur begehen kann: Erstens, man beschließt, ein Buch für Erwachsene als Kinderbuch zu vermarkten (wie es zahlreichen Klassikern von Swift und Defoe bis hin zu Poe und Melville geschehen ist) und perpetuiert so die landläufige Meinung, dass für Schund gehaltene Erwachsenenbücher für Kinder gerade noch gut genug seien; und zweitens, man schreibt und veröffentlicht ein Buch, das formal als Kinderbuch gestaltet ist, sich in Wahrheit aber, über die Köpfe seiner jugendlichen LeserInnen hinweg, mit einem dümmlichen Augenzwinkern an Erwachsene richtet.** Letzterer Todsünde hat Schmidt-Salomon sich schuldig gemacht. Denn Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel ist nur vordergründig eine Geschichte über Schweinchen und Igel, die etwas interessantes erleben – eigentlich aber eine recht plump gehaltene Allegorie mit hölzerner Polemik, die wohl nur ebenso gehirnamputierten wie erwachsenen Brights Begeisterungsstürme entlocken kann.

Über die einzelnen allegorischen Darstellungen (sich prügelnde Geistliche als Sinnbild für Religionskriege etc.) will ich mich nicht weiter auslassen. Bemerkt sei nur, dass das allegorische Element auch in den Illustrationen vorhanden ist, wenn etwa der Zugang zu den Gotteshäusern der drei großen monotheistischen Religionsgemeinschaften als verwirrender Irrgarten gezeigt wird.*** Schwer zu glauben ist jedenfalls, dass den Autoren des Buches nicht klar gewesen sein soll, dass die Form der Allegorie Kindern, die Geschichten um der Geschichte willen lieben, in der Regel nicht zugänglich ist. Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel stellt schließlich Fragen, die Kinder nicht stellen, und befriedigt Bedürfnisse, die Kinder nicht haben. Eher ist doch anzunehmen, dass Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel den wohlfeilen Versuch darstellt, in auch schlichtesten Gemütern zugänglicher Form primitiv-antireligiöse Klischees zu verbreiten. Die Verkaufszahlen des Buches geben diesem Versuch recht. Aber auch nur diese.

Nun zum zweiten Kritikpunkt: Sehen wir uns die Darstellung der monotheistischen Religionen ein wenig näher an, so rechtfertigen diese allerdings den Verdacht auf Antisemitismus, dem Schmidt-Salomon und Nyncke sich ausgesetzt sahen. So bleibt es in dem Buch vor allem dem Rabbi vorbehalten, Gott als sadistischen Wüterich zu verkündigen, damit dem antijudaistischen Stereotyp vom alttestamentarischen Rachegott Vorschub leistend. Zudem zeigt Schmidt-Salomon sich als auf blamable Weise uninformiert über die jüdische Religion, wenn etwa eine Synagoge als »Tempel« bezeichnet oder behauptet wird, diese dürfe nur von jüdischen Menschen betreten werden. Auch dies letztere ist ein alter Topos antisemitischer Agitation, der die Abgrenzung der Juden gegen die Mehrheitsgesellschaft mit einem angeblichen jüdischen Überlegenheitsgefühl erklären und damit die Ghettoisierung und Stigmatisierung, der sich das jüdische Volk jahrhundertelang ausgesetzt sah und noch sieht, verschleiern will. Ob Schmidt-Salomon solche Ressentiments absichtlich oder unbewusst bedient, muss ich hier offenlassen. Schlimm ist allein schon ihr Vorhandensein. Ähnlich ignorant wie das Judentum wird der Islam abgehandelt. Schmidt-Salomon scheint in Bezug auf diesen ähnlich unwissend zu sein wie in Sachen jüdische Religion: Seinen Mufti lässt er behaupten, man müsse Muslim werden, um Gott kennenzulernen, was nicht gerade für Schmidt-Salomons Korankenntnis spricht.****

Die derzeit von Autoren wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens popularisierte, von Gruppen wie den Brights und der Giordano-Bruno-Stiftung vertretene weltanschaulich motivierte Religionskritik wurde durch Schmidt-Salomons und Nynckes Buch insofern auf eine neue Ebene erhoben, als dass sie antisemitische Stereotypen in einer Form aufnimmt, die an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig lässt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Indizierungsantrag des Bundesfamilienministeriums plötzlich gar nicht mehr so absurd, wie beklagenswert lächerlich die Argumentation des Antrags im einzelnen auch sein mag. Um zu dieser Annahme zu kommen, ist es gar nicht mal nötig, das Buch in eine Reihe mit Stürmer-Karikaturen zu stellen, wie einige VertreterInnen von Religionsgemeinschaften und Medien es vorschnell (und weitgehend ungerechtfertigt) taten.

Ebenso bleibt aber zu konstatieren, dass der Antrag dankenswerterweise abgelehnt wurde. Denn neben allen generellen Vorbehalten gegen Zensur (die die Indizierung immer auch ist), wäre das Buch, einmal auf dem Index gelandet, nur unnötig aufgewertet worden. Noch immer ist der antireligiös-fundamentalistische Naturalismus, wie Schmidt-Salomon, seine Stiftung und die gegenwärtige religionskritische Bewegung ihn vertreten, eine – wenn auch lautstarke – Minderheitenposition, die bislang an der Indifferenz der Mehrheit gegenüber religiösen Fragen nichts ändern konnte (daher der Titel dieses Eintrags). Es wird aber auch deutlich, dass der jeglicher Dialektik abholde Aufklärungsfundamentalismus, wie gerade die grenzdebil-verblödeten, oft ihrerseits gegen jegliche Kritik immunisierten ReligionskritikerInnen ihn vertreten, kein Verbündeter in der Auseinandersetzung mit religiösem Fundamentalismus und Obskurantismus ist, sondern im Gegenteil diesem an Intoleranz und Vorurteilsbeladenheit nur wenig nachsteht. Eine seriöse, nicht an intellektueller Verflachung leidende Religionskritik, die auch außerhalb akademischer Kreise diskutiert wird, ist dagegen verzweifelt vonnöten.

* Eine Zusammenfassung bietet der Wiki-Artikel.
** Womit natürlich nicht gesagt ist, dass ein Buch auch Kindern und Erwachsenen gleichermaßen – oder auf je unterschiedliche Weise – zugänglich sein kann. Bestenfalls ist das so.

*** Die Illustrationen zu dem Buch können hier betrachtet werden.
**** Zu den strukturellen Ähnlichkeiten von »Israelkritik« und »Islamkritik« vergleiche diesen lesenswerten Artikel auf haGalil.com. Auch in der Darstellung des (katholischen) Christentums durch Schmidt-Salomon sind bemerkenswerte Kontinuitäten zu antisemitischen Mythen erkennbar: Bekanntlich wurde dem Judentum traditionell die Schlachtung christlicher Kinder vorgeworfen, um aus ihnen Hostien herzustellen. Ein ähnlicher Kannibalismusvorwurf wird im Buch gegen das Christentum erhoben.

(Nicht ganz) kurze Ergänzung zum Fantasy-Special

Aaaaha. Nachdem ich mittlerweile die Bücher-Ausgabe mit dem Fantasy-Special selbst in den Händen hielt, kann ich nun triumphierend mitteilen, wie Mary Gentles Legende von Ash in die Bestenliste* des Bücher-Magazins geraten ist: Dietmar Dath erwähnt den Zyklus in seinem – ebenfalls in der betreffenden Ausgabe enthaltenen – Artikel »Haben Sie was gegen Fantasy? Wie man Fantasy verteidigt – und wieso das unnötig ist«. Daths kurzes Name-dropping genügte anscheinend, um Ash und ihren SöldnerInnenhaufen einen Platz im Olymp zu sichern, zumindest im begrenzten Kosmos der Bücher-Redaktion. Nun ja. Während ich Ash jederzeit einen Platz unter den Halbgöttern und zwielichtigen Helden wünschen und zugestehen würde, ist es jedoch nicht angebracht, liebe Redaktion, sie ganz oben zu positionieren. Zu wuchernd und unausgegoren, zu sehr geprägt von halbgaren Dialogen und ungenügenden Charakterzeichnungen ist der schier unübersehbare, ebenso anziehende wie abstoßende Ideen-sprawl, den Mary Gentle da vor einigen Jahren abgeliefert hat. Ebenso ein Griff ins Klo, liebe Redaktion, ist übrigens die wiederholt angebrachte Bemerkung, Robert E. Howards cimmerischer Trademark-Held Conan werde niemals von irgendeiner Art Zweifel geplagt. Das stimmt so nicht –
Die unverhoffte Melancholie legte sich wie ein Leichentuch über die Seele des Cimmeriers und lähmte ihn mit dem erdrückenden Gefühl, alles menschliche Streben sei vergeblich und das Leben ein sinnloses Unterfangen. Sein Königreich, seien Freuden, seine Ängste, sein Streben, alle irdischen Belange kamen ihm auf einmal vor wie Staub und ein zerbrochenes Spielzeug. Sein ganzes Leben schrumpfte bis auf einen Punkt und die Lebenslinien darin verdorrten vor seinem inneren Auge. Ein taubes Gefühl war alles, was ihm blieb; er legte den Kopf in die großen Hände und stieß ein lautes Stöhnen aus.
Robert E. Howard, »Im Zeichen des Phönix«, Langfassung

– und zeugt von mangelnder Recherche. Ein ausdrückliches Lob sei an dieser Stelle jedoch Dietmar Daths Artikel** zuteil. Der enthält eine Verortung phantastischer Erzähltechniken im Gesamtzusammenhang der Literatur und präzise Definitionen der verschiedenen Genres der Phantastik. Gerade solche Definitionen, die über das einfältige »Fantasy hat Elfen und Drachen, Science Fiction hat Raumschiffe und Laserwaffen«, welches LeserInnen zur Abspeisung so häufig vorgesetzt wird, hinausgehen und klärend-kritisch wirken können, braucht es dringend in den Mainstream-Medien.

* Missratene Wichtigstenliste trifft es eigentlich besser.
** Im Bücher-Editorial etwas vollmundig als
»Groß-Essay« angekündigt, hehe.

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.